Das Alter schwächt. Die Abhängigkeit von anderen wächst. Nachgeben, sich umsorgen lassen, das fordert von all den stolzen Selbstversorgern eine grosse Anpassung. Hilfe annehmen will gelernt sein. Lebensfreundlich helfen, weder übergriffig noch entwürdigend, auch. Oft schenkt die Phase der Bedürftigkeit allen Beteiligten grössere Nähe. Sie rücken noch einmal zusammen, und der drohende Verlust öffnet ihnen die Augen für den ganzen Reichtum des gemeinsam Erlebten.
Einvernehmlicher Abschied
Ein Sohn erzählt: „Meine Mutter war eine warme, lebenslustige Frau, die uns und unsere Kinder verwöhnte, wo sie nur konnte. Wo nötig, gewährte sie Erbvorbezüge. So hat sie uns seinerzeit unser Haus ermöglicht. Sie war 16 Jahre lang eine unternehmungslustige Witwe. Aber dann musste sie mehrmals operiert werden und brauchte Unterstützung. Manchmal war sie auch nicht ganz da, wahrscheinlich als Nebenwirkung ihrer Medikamente. Sie war zunehmend auf Betreuung angewiesen. Anfänglich reichte die Versorgung durch die Spitex. Aber dann kam sie immer weniger zurecht und brauchte mehr Pflege.“
„Als ausgesprochene Individualistin war ihr die Idee eines Pflegeheims der blanke Horror, und auch bei uns leben wollte sie nicht. Ich hätte es nie übers Herz gebracht, sie in eine fremde Umgebung zu verpflanzen. Schliesslich kümmerten sich drei Pflegerinnen im Schichtbetrieb um meine Mutter, und das über zwei Jahre. Damit war aber noch längst nicht alles abgedeckt. Meine Frau organisierte den Haushalt und die Pflege und sprang ein, um Lücken zu überbrücken. Sie begleitete meine Mutter bei Abklärungen und Arztbesuchen. Ich bin unendlich dankbar für die generöse Selbstverständlichkeit, mit der meine Frau meine Mutter umsorgte. Ich erledigte das Administrative, bezahlte die Rechnungen und trug viele medizinische Entscheidungen mit. Wir besuchten meine Mutter oft. Wir wollten mit ihr zusammen sein, solange wir sie noch hatten, und ihr etwas von dem zurückgeben, was sie für uns getan hatte.“
„Diese Zeit war trotz allen Schwierigkeiten schön. Aber dann wurde es immer mühsamer für sie. Sie konnte nicht mehr allein aufstehen und die Schmerzen nahmen zu. Wir waren alle dabei, als sie selbstbestimmt ging. Ich bin froh, dass wir das für sie tun konnten.“
Eine derart mental und finanziell privilegierte Situation dürfte eher die Ausnahme sein.
In Würde sterben
„Ich möchte in Würde sterben“, sagt eine alte Ärztin dezidiert. Sie hat Krebs, ist medikamentös gut versorgt und geniesst das, was ihr in ihrem geschwächten Zustand vom Leben bleibt. Sie weiss, wovon sie spricht. Als Allgemeinpraktikerin betreute sie auch ein Pflegeheim in ihrer Gemeinde und hat viele Menschen in den Tod begleitet.
Sie fährt fort: „Neben dem Krebs habe ich noch andere Beschwerden. Wenn die aufflammen, muss ich Medikamente nehmen, die die Wirkung der Mittel zur Unterdrückung des Krebses abschwächen. Dann könnte eine nächste Chemo fällig werden. Ich habe mich entschieden, die nicht zu machen. In diesem Fall werde ich gehen. Ich habe mit meinen Angehörigen und einem guten Freund, der auch Arzt ist, alles besprochen. Er wird mich in den Tod begleiten.“
Als Ärztin kann sie die Risiken ihres Gesundheitszustandes und einer Pflegesituation gut abschätzen, und sie hat Zugang zum Sterbemittel. Ein guter Tod sei ihr vergönnt. Aber wo bleibt da die Rechtsgleichheit? Nicht nur Ärzte, sondern jeder alte Mensch sollte selbstbestimmt sterben können.
Kostendruck und Menschenwürde
Die Pflege von Schwerkranken ist sehr aufwendig, sowohl was den Umfang der Pflegeleistungen als auch die menschliche Qualität der Pflegenden anbelangt. Viele Institutionen leisten Grossartiges. Aber das Risiko, einer schlechten Pflege ausgeliefert zu sein, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Tatsache, dass die Menschen immer älter werden auf der einen und der Pflegenotstand auf der anderen Seite verschlechtern die Situation.
Der Kostendruck wirkt sich auf die Pflege aus. Wo es schnell gehen muss, fehlt die Zeit, um auf die Patienten einzugehen. Chemie ist weniger aufwendig als ein Gespräch. Intravenöse Ernährung ersetzt das zeitintensive Eingeben von Essen. Blasenkatheter erleichtern die Betreuung, können aber Infektionen und Schmerzen verursachen.
Gut ausgebildete Pflegende sind teuer und werden bei Kostendruck vorwiegend zur Anleitung und Überwachung von weniger Ausgebildeten eingesetzt, sodass oftmals schlecht bezahlte und überlastete Hilfskräfte als Ausführende im direkten Kontakt mit den Patienten stehen. Eine durchgetaktete Abfertigung von Schwerkranken und Sterbenden ist keine menschenwürdige Begleitung.
Junge entscheiden, was für Alte gut ist
Wo der Sterbewunsch eines alten Menschen als Symptom psychischer Labilität missverstanden wird, sind keine guten Entscheidungen zu erwarten. Wenn einem alten Menschen der Freitod verwehrt bleibt, weil der Sterbewunsch als Folge einer depressiven Erkrankung gedeutet wird, müsste man genauer hinschauen.
In unserer erfolgsorientierten Gesellschaft der strahlenden Winner ist Trauer suspekt und wird leicht pathologisiert. Trauer kann indessen eine normale Reaktion sein. Im Alter häufen sich die Verluste. Todesfälle dünnen das soziale Netz aus. Ein alternder Körper verursacht Schmerzen und verunmöglicht liebgewordene Erfahrungen. Unendliche Wiederholungen derselben Probleme und derselben untauglichen Lösungsversuche führen zu mentaler Erschöpfung. Eine melancholische Grundstimmung schwächt den Lebenswillen. Die Sehnsucht nach einem friedvollen Tod nimmt überhand.
Die Achtzig- und Neunzigjährigen, die heute sterben, gehören einer anderen Generation an als ihre Ärzte. Funktionäre und Mitarbeitende in den Pflegeheimen sind häufig sehr viel jünger als ihre Gäste. Und so beschliessen oft die Jüngeren, was für die Alten gut ist.
Die betreuenden Ärzte, die bei Sterbeentscheidungen mitreden, haben keine eigene Erfahrung mit dem Lebensende. Sie beurteilen die Situation alter Menschen aus ihrer Sicht. Sie möchten das Beste – und verstehen darunter dasjenige, was ihrer eigenen Lebensphase gemäss das Beste ist, nämlich das Leben zu erhalten, solange es irgendwie geht. Und so fehlt Ärzten und Pflegenden unter Umständen das Verständnis für die Todesbereitschaft, vielleicht sogar die Todessehnsucht alter Menschen. Sie begreifen schwer, dass alte Menschen manchmal einfach genug haben.
So wird denn animiert und aktiviert, auch wenn die Betroffenen vielleicht nur in Ruhe gelassen werden möchten. Der Aktivismus hat Operationen und Therapien zur Folge, die die Leidenszeit nur verlängern. Es ist wie bei einem dünngewetzten Stoff: Wenn man einen Riss flickt, entsteht daneben ein neuer Riss. Die einfache Tatsache, dass das Leben endlich ist und irgendwann zur Neige gehen muss, bleibt hinter einem Wust von medizinischen Angeboten versteckt. So kommen alte Menschen gar nicht dazu, sich ihrem letzten Stück Leben zuzuwenden und die leisen Farbklänge des schwindenden Lichts wahrzunehmen.
Der Generationensprung zwischen Entscheidenden und Betroffenen ist ein Problem. Auch die Kinder der Hochaltrigen beurteilen die letzte Wegstrecke ihrer Eltern aus der Perspektive einer jüngeren Generation, die von den Realitäten der Vergänglichkeit noch weit weg ist. Sie hängen am Leben und setzen das auch bei ihren Eltern voraus. Und so kann es im Extremfall dann geschehen, dass Kinder versuchen, sterbewillige Eltern bevormunden zu lassen.
Einverständnis mit der Sterblichkeit
Wollen jüngere Menschen sterben, so ist dies in vielen Fällen eine vorschnelle Reaktion auf eine aussichtslos erscheinende Situation oder das Symptom einer psychischen Erkrankung. Bei einem alten Menschen muss dies anders eingeordnet werden. Der Sterbewunsch jüngerer Menschen stellt sich gegen die Grundbewegung des Lebens, das auf Fortzeugung drängt. Bei alten Menschen hingegen harmoniert das Sterbenwollen mit der sinkenden Lebenskurve.
Zum Einverständnis mit ihrer Sterblichkeit herangereift, begrüssen viele alte Menschen den Tod. Für sie ist ein Sterbewunsch nicht zwingend Ausdruck einer mentalen Gleichgewichtsstörung. Im Gegenteil: Es sind nicht nur Schwächungen und Verluste des Alters, aus denen die Todesbereitschaft entsteht, sondern ebenso die dankbare Rückschau auf die Fülle des Erlebten, die zum Einverständnis mit dem grossen Stirb und Werde, zu einer aus dem Lebensprozess hervorgehenden gesunden Todesbereitschaft führt.
„Ich habe gelebt. Was jetzt noch kommt, ist Zugabe,“ sagt ein Mann. Es muss nichts mehr kommen, aber es darf. Und weil es nicht mehr muss, schwebt es federleicht daher wie ein Lächeln aus einem vorbeifahrenden Tram. Aber irgendwann ist es genug. Lebenssatt verlässt der Beschenkte schliesslich den grossen Gabentisch und macht anderen Platz.
Der Übergang von der Todesbereitschaft zum Todeswunsch ist fliessend. Es gibt gute und ethisch vertretbare Gründe für die Entscheidung, dem Tod entgegenzugehen. Der Altersfreitod kann ein stimmiger letzter Akt einer verantwortungsvollen Lebensführung sein. Der reife Apfel fällt vom Baum und der lebenssatte Mensch löst sich vom Leben.
Sollst sanft in meinen Armen schlafen
Das Mysterium Tod bleibt unbegreiflich und entzieht sich jeder Festlegung. Von daher sind alle Vorstellungen darüber gleich wahr und gleich falsch. Aber nicht gleich tröstlich.
Die Medizin ermöglicht heute einen schmerzfreien Tod. „Sollst sanft in meinen Armen schlafen“, verspricht der Tod im Schubertlied. Der Schlaf, der kleine Bruder des Todes, holt den Menschen täglich in sein Reich und erinnert ihn an die Welt jenseits des Wachbewusstseins. Vom dunklen Mantel der Nacht umhüllt, reist der Schläfer in die Traumwelt und übt so das Eintauchen in eine andere Dimension.
Das Leben beginnt in der bergenden Sicherheit des Mutterleibes. Die Geburt stösst den Menschen aus der schützenden warmen Höhle in die kalte Einsamkeit der Welt. Die Sehnsucht nach der verlorenen Urgeborgenheit begleitet ihn lebenslänglich. Der Drang nach diesem seligen Daheimsein beflügelt jede Umarmung und jeden Liebesakt. Nicht umsonst heisst der Orgasmus auf französisch „la petite mort“. Die Todessehnsucht, wie die Romantik sie kannte, hat auch mit der Hoffnung auf das Heimgehen in dieses verlorene Paradies zu tun.
In den lateinischen Sprachen ist der Tod weiblich: Französisch „la mort“, italienisch „la morte“ und spanisch „la muerte“. Die grossen Muttergöttinen versunkener Zeiten waren dreiteilig: Als Jungfrau, Mutter und Todesbringerinnen umfingen sie das menschliche Leben. Sie wachten über den Eingang und den Ausgang. Die machtvollen Gebärerinnen brachten das Leben nicht nur hervor, sondern nahmen es am Ende wieder in Empfang und halfen dem Menschen über die Schwelle ins Totenreich. La mort als Rückkehr in die starken Arme der Urmutter, in die warme Geborgenheit des Anfangs, schliesst den Lebenskreis.
Teil 1 des Beitrags ist am 23. November erschienen.