Im Gegensatz zum Tier weiss der Mensch um seine Sterblichkeit. Der Tod begleitet ihn immer, kann jederzeit eintreten und ist unvermeidlich. Auf dem Hintergrund dieser Tatsache spielt sich das menschliche Leben ab. Das Wissen um die Sterblichkeit birgt in sich die Option Suizid. Das eigene Leben kann aktiv beendet werden. Es muss nicht als unausweichliches Schicksal hingenommen werden, sondern ist freiwillig. Nach Camus ist der Suizid gar die einzige relevante philosophische Fragestellung.
Darf man das eigene Leben beenden?
Ob der Mensch das Recht hat, sich das Leben zu nehmen, stand seit jeher zur Diskussion. Die Beurteilung eines Suizids variiert mit den Normen der Gesellschaft, in der er stattfindet. So war in der Antike der Freitod unter bestimmten Bedingungen erlaubt, wie Platon anlässlich des Freitodes von Sokrates schrieb: Ein unentrinnbares schmerzliches Schicksal oder eine unheilbare Schmach könne durch einen Freitod vermieden werden, der indessen nie im Affekt geschehen dürfe, sondern reflektiert sein müsse.
Säkularisierung und Individualisierung weisen dem Individuum zunehmend die Entscheidungsbefugnis über Tod und Leben zu. Das Sterben rückt vom Schicksalshaften weg in den Bereich menschlicher Entscheidungen.
Der Altersfreitod hat durch das Überhandnehmen des medizinalisierten Sterbens eine neue Bedeutung gewonnen. Heute sterben immer mehr Menschen aufgrund einer medizinischen Entscheidung, das heisst, sie sterben, weil eine Behandlung abgebrochen oder nicht gemacht wird. Die Entscheidung für den Altersfreitod ist oft der Endpunkt eines Kontinuums. Die Weichenstellungen beginnen viel früher: Wird eine Behandlung veranlasst oder nicht? Ist die geplante Operation sinnvoll? – Eine Kette von Entscheidungen kann schliesslich in einen Altersfreitod münden, der dann der letzte Schritt auf dem Weg der Selbstbestimmung in medizinischen Belangen ist. Er unterscheidet sich von den vorangehenden nicht, was Einstellung und Richtung anbelangt.
Vom Tabu zur Option
In vielen Belangen ist heute selbstverständlich, was gestern noch undenkbar war. Die in ihrer Jugend noch nicht stimmberechtigten alten Frauen erlebten im Jahre 2010 einen Bundesrat mit einem Frauenmehr. Sie mussten sich mit einem gesetzlich verankerten Konkubinatsverbot arrangieren, das heute nur noch Kopfschütteln auslösen würde. Damals bestimmte der Mann, ob seine Frau ausser Hause arbeiten darf. Das alles ist noch gar nicht so lange her und scheint doch heute sehr weit weg. Die Selbstbestimmung beim Sterben – vor kurzem noch ein Tabu – wird in absehbarer Zeit eine Selbstverständlichkeit sein.
Wir erleben eine rasante Veränderung des gesellschaftlichen Konsenses, was Sterben und Tod anbelangt. Diese Themen treten aus dem Schatten der Tabuisierung hervor und werden breit diskutiert. Ausstellungen, Filme, Theaterstücke, Bücher und Artikel tragen eine Entwicklung voran, die einen neuen Umgang mit dem Sterben und dem Tod ermöglichen. Das Tempo der Meinungsänderungen reisst wie ein Schneepflug eine Schneise durch die vertrauten Wertungen, und wir kommen nicht nach mit den inneren Umstellungen angesichts der neuen Möglichkeiten.
Der Altersfreitod rückt gegenwärtig in den Bereich des ungehindert Denkbaren. Alte Menschen können zunehmend vorurteilsfrei ihre jeweiligen individuellen Umstände abschätzen und dementsprechend handeln. Der Suizid als Ende eines langen Lebens ist heute eine von vielen zunehmend akzeptierten und gewünschten Optionen. Was beim Altersfreitod in Einzelfällen konkret bereits möglich ist und realisiert wird, geht dem gesellschaftlichen Konsens voraus und zieht ihn nach sich. Der Bedeutungswandel des Suizids spiegelt sich auch in der Sprache. Der Ausdruck Selbstmord mit seinem düsteren Assoziationshof wird zunehmend ersetzt durch den Begriff Freitod. Dieser stellt den Aspekt der Wahl in den Vordergrund.
Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit
Beim Altersfreitod geht es mehr um die Option als um die Ausführung. Eine Option ist noch keine Wahl. Wenige nehmen am Ende wirklich Sterbehilfe in Anspruch. Nur ein kleiner Prozentsatz der Exit-Mitglieder wählt den Altersfreitod. Es geht nicht so sehr um die Ausführung als um den immensen Trost, den diese Option in sich birgt. Sie ist die Versicherung gegen einen unguten Sterbeverlauf, gegen einsames, endloses Leiden, schlechte Pflege und unbehandelbare Schmerzen. Wer sich durch die Dornenhecken von Alter und Krankheit kämpft, ist so seinem Zustand nicht einfach ausgeliefert.
Das zu Erduldende wird zu einer Wahl und damit zu einem selbstbestimmten Zustand. Die Option einer Ausstiegmöglichkeit ist eine erlösende Beruhigung. Eine schwere Wegstrecke lässt sich damit leichter ertragen. Alle hoffen auf einen leichten und natürlichen Tod, aber es ist tröstlich zu denken, dass man dem Sterben nicht einfach passiv ausgeliefert ist. Die Option Altersfreitod verbessert die Lebensqualität im Alter.
Ein schwerkranker Patient im Pflegeheim sagt: „Die Möglichkeit, das Ganze zu beenden, gibt mir die Kraft, die Schmerzen auszuhalten. Es ist manchmal schlimm, besonders während der endlosen Nächte, und doch möchte ich leben und bin froh, wenn es hell wird. Ich freue mich auf meine Frau, die jeden Tag kommt. Oft haben wir es trotz allem gut miteinander. Wir leben in unseren Erinnerungen, aber nicht nur. Wir sind traurig, aber auch dankbar für das Riesengeschenk unserer Ehe. Meine Frau ist ingeniös. Sie kann aus einer Falte auf meiner Bettdecke eine ganze Geschichte entstehen lassen und meinem jämmerlichen Zustand die komische Seite abgewinnen. Ich habe immer gewusst, was ich an ihr habe. Wir wissen beide, dass unsere gemeinsame Zeit zu Ende geht, und sind dankbar für jeden guten Moment. Wir möchten noch möglichst viel zusammen sein. Meine Frau und ich sind beide seit Jahren Exit-Mitglieder. Wir haben einander versprochen, uns gegenseitig beizustehen, wenn ein Freitod nötig wird. Meine Frau ist stark. Ich habe gute Chancen, dass sie für mich da sein wird, wenn es dann wirklich ernst wird. Sie wird mich gehen lassen, wenn ich es brauche. Aber ich will uns das erst antun, wenn es nicht mehr anders geht und jeden Moment auskosten, den wir noch miteinander haben. Der Tod ist nahe. Ich bin bereit. Wir wünschen uns beide, dass er so spät wie möglich von selber kommt.“ Dieses liebende Paar hat sich mit dem Sterben auseinandergesetzt und kann nun die letzte Strecke, ohne von Unausgesprochenem gestört zu werden, gemeinsam gehen.
Gefährliche Selbstverständlichkeit
Wird der Altersfreitod zu einer Selbstverständlichkeit, braucht es Absicherungen. Wo alte Menschen für ihr Umfeld zu einer Belastung werden oder sich als unerwünscht empfinden, sind sie in Gefahr. Alte Menschen könnten unter Druck kommen, in einen „Freitod“ einzuwilligen, der dann keiner mehr wäre. Mord in Raten wäre denkbar. Dazu bräuchte es noch nicht einmal drastische Massnahmen. Mit Vernachlässigung und Lieblosigkeit kann der Selbsterhaltungsinstinkt untergraben werden. Falsche Rücksichtnahme des Patienten auf die Angehörigen könnte den Lebenswillen ersticken und zu einem verfrühten Freitod führen.
Wird selbstbestimmtes Sterben selbstverständlicher, müssen die Begleitenden noch genauer hinschauen, um alte schwache Menschen zu schützen. Die zunehmende Selbstbestimmung beim Sterben könnte Suizide zur Folge haben, die nicht geschehen sollten. Es ist eine gesellschaftliche Norm, psychisch Kranke vor sich selber zu schützen. Der Suizid als Folge einer psychischen Erkrankung muss verhindert werden.
Zwar reisst jeder Tod ein Loch in das Gewebe der Gemeinschaft; aber es gibt Suizide, die darüber hinaus traumatische Auswirkungen haben. Sie können die Hinterbliebenen schwer belasten: Eine Mutter, die ihr Kind im Stich lässt, ein Ehepartner, der aus einer unglücklichen Ehe in den Tod flüchtet oder ein Heranwachsender, dem die Lebenserfahrung fehlt, um eine Enttäuschung zu relativieren und sich umbringt. Derartige Suizide sind nicht nur für den Handelnden tragisch. Sie können auch das Leben der Hinterbliebenen zerstören.
Spiritualität und Respekt
Die Entwicklung in Richtung grösserer Akzeptanz des Altersfreitodes wirft weitere Fragen auf. Ein Freitod könnte einen seelischen Transformationsprozess stören. Wer das Sterben als eine Öffnung in eine andere Dimension und als Chance einer Transformation auffasst, darf den Sterbeprozess in die Hände Gottes legen. Der Katholizismus legt Wert auf den Weg der Seele beim Sterben. Der sündige Mensch entledigt sich durch die Beichte aller Schuld. Ein Priester erteilt dem Sterbenden die Absolution, gibt ihm die Sterbenssakramente auf den Weg und ermöglicht ihm so, gereinigt vor Gott zu treten. Auch der Buddhismus misst der Sterbephase eine grosse Bedeutung zu. Der Sterbeprozess kann unter günstigen Umständen der Seele ermöglichen, eine höhere Stufe zu erreichen. So gesehen erleichtert das gute Sterben den Weg zur Vollkommenheit und darf nicht durch einen menschlichen Eingriff abgekürzt werden.
Die Ehrfurcht vor dem Leben und der Respekt vor dem Sterbeprozess können durch einen assistierten Freitod verletzt werden, wenn Geldgier, Machbarkeitswahn und Lieblosigkeit im Spiel sind. Die Missachtung des Sterbewunsches eines Patienten zeugt indessen weder von Ehrfurcht vor dem Leben noch von Respekt vor dem Sterbeprozess. Medizin ist nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst. Es braucht eine liebevolle Intuition um zu spüren, wann gegebenenfalls die Zeit gekommen ist, um im Einklang mit den körperlichen Prozessen und dem Willen des Patienten einzugreifen. Nicht die Art des Sterbens, sondern die ethische Substanz der Beteiligten definiert die Bedeutung eines Sterbeweges.
Stärkung der Selbstbestimmung
Im Bereich des Sterbens ist die Schweizerische Gesetzgebung eine der liberalsten von ganz Europa. Suizid ist nicht strafbar. Niemand wird nach einem missglückten Suizid zur Rechenschaft gezogen. Die Beihilfe zum Suizid hingegen ist im Prinzip verboten. Indessen erlaubt der Gesetzgeber Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen, die von der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) definiert worden sind. Sterbehilfe ist legal, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Nahes Lebensende, ausdrücklicher Sterbewunsch und Urteilsfähigkeit.
Sowohl die Nähe des Todes als auch die Urteilsfähigkeit sind Kriterien, die einen Interpretationsspielraum zulassen. Was eine todeswürdige Beeinträchtigung darstellt, entscheidet der Arzt. Der Kranke ist von der ärztlichen Entscheidung abhängig. Ein alter Mensch kann die wichtigste Entscheidung seines Lebens nicht selbstbestimmt treffen. Das ist änderungsbedürftig. Das neue Erwachsenenschutzrecht geht in die richtige Richtung. Es stärkt die Position des Patienten: „Die Ärztin oder der Arzt entspricht der Patientenverfügung“ heisst es seit 2013 im Schweizerischen Zivilgesetzbuch. Indessen ist das Recht auf selbstbestimmtes Sterben noch nicht gesetzlich verankert.
Das sind die Vorgaben. Was dann in der Realität geschieht, steht auf einem anderen Blatt. Wer Pech hat, landet in einem religiös bestimmten Pflegeheim, das keine Sterbehilfe zulässt. Indessen verändern sich Gewissen und Berufsauffassung der Ärzte mit dem gesellschaftlichen Konsens, und so wächst die Chance, auf einen Arzt zu treffen, der seinen Ermessensspielraum zugunsten des Sterbewunsches seines Patienten nutzt. Wenn ein Kranker, der vielleicht schon mehrere Eingriffe hinter sich brachte und ihre Folgen am eigenen Leib erfahren hat, die Motivation zum Weiterkämpfen verliert und sterben will, ist das seine Sache. Die Wahl des todkranken Patienten, der sich der nächsten Runde Chemotherapie verweigert oder lebenserhaltende Medikamente nicht einnimmt, wird heute in der Regel respektiert.
Ausnahmefall Demenz
Leider dreht sich die Diskussion um den Altersfreitod zu häufig um den Ausnahmefall der Demenz. Die Demenzdiskussion rückt die Möglichkeit des kognitiven Abbaus alter Menschen zu sehr in den Vordergrund. Ohne begründeten Anlass sollte an der Urteilsfähigkeit alter Menschen nicht gezweifelt werden.
Die Demenzdiagnose bringt einen Menschen, der sich und den Angehörigen die belastende Krankheit nicht zumuten will, in ein Dilemma: Er muss noch urteilsfähig sein, um Sterbehilfe zu bekommen, und sich deshalb zu einem Zeitpunkt für den Freitod entscheiden, der für ihn zu früh sein kann. Indessen sind die meisten alten Menschen bis kurz vor dem Tod urteilsfähig und imstande, ihr Sterben auf ihre Weise zu gestalten. Dann können Schwäche, Schmerzen und Medikationen ihr Urteilsvermögen vermindern und Verwirrung stiften. Die in einem solchen Fall verantwortlichen Ärzte und Angehörigen brauchen klare Anweisungen. Deshalb sollten eine Patientenverfügung und ein Vorsorgeauftrag vorliegen.
Hilflos und im Stich gelassen
Ein Altersfreitod lässt sich auch ohne Sterbehilfe vollziehen. Aber einigermassen sichere Methoden verlangen eine Selbstaggression, die den meisten abgeht. Das Ausblenden der ganz konkreten Folgen für die, die einen entstellten Leichnam auffinden, gelingt nicht allen. Es ist barbarisch, alte, schwache Sterbewillige im Stich zu lassen und sie zu zwingen, Methoden anzuwenden, die schmerzhaft, riskant und manchmal erfolglos sind. Das terminale Fasten braucht eine Begleitung, die dem Sterbewilligen keine künstliche Ernährung aufzwingt und die ihn schützend begleitet. Tödliche Medikamente sind rezeptpflichtig und so von der Einwilligung eines Arztes abhängig, der sich damit strafbar machen kann.
Eine Tochter erzählt: „Ich bewundere meine Eltern immer noch für die Art, wie sie zusammen die Krankheit meines Vaters trugen. Meine pragmatische, optimistische Mutter schaffte es jahrelang, durch all die Behandlungen meines Vaters hindurch Familientreffen zu organisieren, lärmig und überschwänglich wie eh und je, die mein Vater mit seinem trockenen Humor würzte. Aber irgendwann nahm die Krankheit überhand. Die Schmerzen konnten nur noch teilweise in Schach gehalten werden. Mein Vater war Exit-Mitglied und wollte sterben. Es kostete ihn eine grosse Anstrengung, meine Mutter davon zu überzeugen, und sie wehrte sich anfänglich dagegen. Schliesslich rang sie sich zu einer Einwilligung durch. Exit schickte einen Arzt zur Begutachtung der Situation. Der kam zum Schluss, dass es für meinen Vater zum Sterben noch zu früh sei und verweigerte seine Einwilligung. Kurz darauf starb meine Mutter an einem Schlaganfall. Der ganze Stress um die Exit-Entscheidung dürfte dazu beigetragen haben. Mein Vater lebt jetzt todunglücklich in einem Pflegeheim und hofft auf Erlösung. Für einen weiteren Exit-Versuch ist er zu resigniert.“
Wieviel Einsamkeit, Angst und Schmerzen müssen es denn sein, bis einem Leidenden der Altersfreitod gewährt wird? Weshalb sollen Dritte entscheiden, was ein Mensch ertragen muss?
Nachwirkende kirchliche Verdikte
Traditionell stellen sich die Kirchen gegen den Freitod. Nach dieser Auffassung verfügt allein Gott über das menschliche Leben. Er schenkt es und er nimmt es nach seinem unerforschlichen Ratschluss. Ihm allein steht es zu, ein menschliches Leben zu beenden. Ein Selbstmörder pfuscht Gott ins Handwerk und begeht damit eine Sünde.
Das aktive Zurückgeben des gottgeschenkten Lebens galt früher als Frevel, und man verweigerte den geächteten Selbstmördern einen Ruheplatz auf dem Friedhof innerhalb der Kirchmauern. Nur schon der Gedanke an Selbstmord war verabscheuenswürdig. Die Schande, einen Selbstmörder in der Familie zu haben, wurde möglichst vertuscht. Das spielt auch heute noch eine Rolle. Auch im säkularen Zeitalter wirken die kirchlichen Verdikte nach und stehen mit dem Anspruch auf Selbstbestimmung im Konflikt.
Wie folgende Geschichte zeigt, wird der Freitod immer noch verurteilt. „Einfach so abschleichen. Sich dem Leben nicht stellen. Für mich ist das feige, ich kann es nicht anders sagen“, empört sich die Tochter eines Elternpaars, das selbstbestimmt in den Tod gegangen ist. Mit dieser Ansicht ist sie nicht allein. Ausharren bis zum bitteren Ende ist angesagt. Selbstmord? Das macht man doch nicht!
Hier schimmert eine grundsätzliche Ablehnung des Freitodes durch. Er wird als unerlaubtes Ausweichen gesehen aus einer Situation, die anscheinend passives Erdulden erfordert. Der Suizid wird als moralisches Versagen gewertet. Zwar hatten die Eltern ihr Vorhaben angekündigt; doch die Tochter versuchte dann vergeblich, sie davon abzubringen. Beide Eltern waren krank. Sie zogen ihre Entscheidung durch und starben im Konflikt mit ihrer Tochter. Einige Zeit nach dem Tod ihrer Eltern begann sich die Verurteilung der Tochter abzuschwächen. Es dämmerte ihr erst viel später, was die Eltern ihr durch den Freitod möglicherweise erspart hatten.
Unterschiedliche Haltungen der Kirchen
Heute sind sich die christlichen Kirchen nicht mehr einig über den Umgang mit Sterbewilligen. Nach dem Schweizer Bischof Vitus Huonder dürfen Suizidwillige keine Sterbenssakramente bekommen. Ob man damit einem barmherzigen Gott Genüge tut, bleibe dahingestellt. Unter dem Druck der Tatsache, dass viele Sterbewillige in Spitälern und Pflegeheimen geistliche Begleitung wünschen, mildern sich die kirchlichen Bestimmungen. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund toleriert die geistliche Begleitung von Sterbewilligen. Ein Pfarrer, dem sein Gewissen nicht erlaubt, einen Freitod zu begleiten, muss dies seinen Vorgesetzten melden, damit dem Sterbewilligen ein Seelsorger zugewiesen werden kann, der ihm hilft.
Gegenwärtig gewinnt eine Argumentation an Boden, die auch gläubigen Christen den Freitod erlaubt: Der Mensch ist das Instrument Gottes. Gott kann sich des Menschen bedienen, indem er den menschlichen Willen lenkt und so den Tod eines Menschen erwirkt. Der Mensch, der sich für einen Freitod entscheidet, vollzieht so den Willen Gottes. Das Geschöpf eines barmherzigen Gottes darf und soll eingreifen, wo es gilt, Leid zu verhindern.
Sowohl die Selbst- wie die Nächstenliebe erlauben den Freitod. Ein todkranker alter Mensch, der sich in seiner Gebrechlichkeit nicht der Anonymität einer Institution ausliefern will und seine Angehörigen nicht unzumutbar belasten möchte, sollte die Wahl haben, selbstbestimmt zuhause sterben zu können. Ein Freitod braucht Mut und Vertrauen. Freiwillig in den Tod zu gehen, sich dem grossen Unbekannten auszusetzen und den Schritt in das ganz Andere zu wagen, ist eine respekterheischende Entscheidung, die Unterstützung verdient. Ein verantwortungsvoller, mit den Angehörigen gemeinsam beschlossener Altersfreitod kann alle erlösen.
Sterben zugunsten der Lebenden
Der idealistische Freitod als Dienst an der Gemeinschaft wurde zu allen Zeiten hoch geachtet. Wenn früher ein alter Eskimo aus seinem Iglu in die Kälte hinausging, um zu sterben, wurde er von seinem Clan dankbar respektiert. Eine Abschiedszeremonie schickte ihn auf den Weg und er starb im Bewusstsein, mit seinem Tod die Ressourcen des Stammes geschont und damit der Gemeinschaft gedient zu haben.
Die Helden, die sich für das Vaterland opferten, genossen grösstes Ansehen. Winkelried, der sich in die Lanzen stürzte, um dem Angriff den Weg zu bahnen, erlangte in den Geschichtsbüchern Unsterblichkeit. Gegenwärtig bedrohen die Selbstmordattentäter des IS den Westen. Sie geniessen bei Indoktrinierten einen hohen Status. Als Märtyrer bewundert, winken ihnen im Jenseits paradiesische Freuden.
Von einer modernen Form des Opfertodes erzählt eine Frau: „Wir haben meinen Schwager mit Hilfe von Exit in seinen selbst gewählten Tod begleitet. Die Diagnose war klar: Die Lebenserwartung betrug noch ein paar Monate und wäre mit noch mehr Schmerzen und einem hohen Pflegeaufwand verbunden gewesen. Wir waren alle dabei: Meine Schwester, der Sohn, mein Mann und ich. Sein letzter Blick, bevor er das Bewusstsein verlor, verfolgt mich. Was hätte er noch erleben können, wenn er länger geblieben wäre? Mich stört, dass ganz sicher finanzielle Überlegungen im Spiel waren. Die beiden waren schlecht versichert. Die Pflegekosten hatten schon ein grosses Loch in ihr Vermögen gerissen und gefährdeten die Alterssicherung meiner Schwester. Mein Schwager hat sich ganz einfach für meine Schwester geopfert.“
Vielleicht stimmt das. Und was ist dagegen einzuwenden? Der Mann ist seinen Werten bis in den Tod treu geblieben: Er hat seine Frau geschützt und damit seinem ohnehin bevorstehenden Tod einen zusätzlichen Sinn gegeben.
Teil 2 des Beitrags erscheint am 24. November.