Die Nachricht, dass die Firma 23andMe in Kalifornien für den konkurrenzlosen Preis von 99 US-Dollar die DNA des Kunden auf Erbkrankheiten untersucht, sorgt für Diskussionen. 450‘000 Kundinnen und Kunden haben diesen Dienst bereits in Anspruch genommen. In naher Zukunft soll ihre Zahl auf 25 Millionen erhöht werden. Die Kosten für eine vollständige Sequenzierung des Genoms sind drastisch gesunken. Lagen sie 2003 für die erste vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms noch bei drei Milliarden Dollar, werden jetzt solche Entschlüsselungen zu einem Preis von etwa tausend Dollar angestrebt.
Man hat erkannt, dass die im Human Genome Project (HUGO) bei der Entschlüsselung der DNA gewonnenen Daten nur auf einer kleinen Zahl von Probanden beruht. Die Genome einzelner Menschen unterscheiden sich aber stark. Wenn man das menschliche Genom besser verstehen will, dann muss man auch seine Variabilität kennen. Um Erkenntnisse über die Genome verschiedener Populationen zu gewinnen, wurde das Human Genome Diversity Project (HGDP) ins Leben gerufen. Für die individuelle Genomanalyse wurde 2005 das Personal Genome Project (PGD) vom Molekularbiologen George Church von der Harvard Universität initiiert mit dem Ziel, allen Menschen die Gelegenheit zu geben, sich über ihr Genom zu informieren. Die Teilnehmer dieses Projekts können kostenlos ihr Genom im Internet veröffentlichen. 200 komplett entschlüsselte Genome sind bereits auf der PGD-Datenbank einsehbar. Damit eröffnet sich eine neue Dimension für das Wissen über uns selbst.
Analyse des Genoms und klassische medizinische Diagnostik
Diese Dimension ist einerseits erschreckend, andererseits kann sie aber auch hilfreich sein. Wenn wir die Genomanalyse mit anderen medizinischen Untersuchungsmethoden wie etwa der Laboranalyse unserer Blutwerte oder den modernen bildgebenden Verfahren vergleichen, dann bestehen doch einige Ähnlichkeiten. Erfährt der Kunde, dass er eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, an einem Prostata-Karzinom zu erkranken, dann kann er verschiedene Massnahmen ergreifen. Er kann in engen zeitlichen Abständen seine Prostata untersuchen lassen und sich sofort einer Therapie unterziehen, wenn die ersten Zeichen einer Krebsentstehung zu sehen sind. Er kann präventiv seine Lebens- und Ernährungsgewohnheiten ändern und so in vielen Fällen der Entstehung des Karzinoms zuvorkommen.
Eine hohe Wahrscheinlichkeit bedeutet aber noch nicht, dass der Kunde wirklich an Krebs erkranken wird. Veränderungen am BRCA1-Gen bedeuten zwar ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Brustkrebs, aber nicht, dass der Brustkrebs auch wirklich auftreten wird. Hier liegen die Unterschiede zu den bisherigen medizinischen Untersuchungsmethoden. Wenn mit den bisherigen Methoden bedeutende Abweichungen von den Normalbefunden wie etwa ein erhöhter Blutzuckerwert festgestellt werden, dann besteht die Erkrankung (z. B. Diabetes) bereits.
Dass die Vorhersagen über Erkrankungsmöglichkeiten nur Wahrscheinlichkeitsangaben sein können, hat tiefere Gründe. Die Defekte an Genen erlauben keine eindeutigen Schlüsse auf die Folgen der Defekte, weil erstens keine umkehrbar eindeutige Beziehung besteht zwischen Genen und Proteinen, die von den Genen kodiert werden. Zwar codiert ein Nukleotid-Triplett (Codon) eine einzige Aminosäure, aber einige Aminosäuren können von verschiedenen Nukleotid-Tripletten codiert werden.
Das Genom ist zweitens ein weitgehend noch unbekanntes Netzwerk. Wenn ein Gen ausfällt, dann kann es vorkommen, dass es durch das Zusammenspiel von anderen Genen in seiner Funktion ganz oder teilweise ersetzt wird. Drittens haben wir in den letzten Jahren gelernt, dass die Gene nicht von sich aus alle Vorgänge im Organismus bestimmen, sondern selbst wieder beeinflusst sind von epigenetischen Prozessen aufgrund von Signalen aus der Umwelt. Bestimmte Genbereiche können so inaktiviert werden (z. B. durch DNA-Methylierung), dass die Information für die Proteinsynthese von ihnen nicht mehr abgelesen werden kann. Wie diese Umwelteinflüsse wirksam werden, ist noch weitgehend unbekannt.
Das Wissen um unser Genom, wie es sich aus der Sequenzierung ergibt, ist die eine Seite. Die viel wichtigere andere Seite ist die Anwendung dieses Wissens. Sie wird geleitet vom Wunsch, Krankheiten und Schwächen unserer Natur zu beseitigen und unsere Lebensvollzüge zu optimieren und nach Möglichkeit sogar über das gewohnte Mass hinaus zu steigern (Human Enhancement). Der wirksamste Weg zu diesen Zielen führt über die Reproduktionsmedizin. Momentan gibt es vor allem drei Anwendungsbereiche: Die Selektion von Embryonen, das Austauschen oder «Reparieren» unerwünschter Gene und der Versuch, unsere Eigenschaften zu optimieren.
Selektion von Embryonen nach optimalen Eigenschaften
Bereits weit verbreitet ist die Selektion von gesunden Embryonen. In der Präimplantations-Diagnostik, für welche mehrere Embryonen in der Petrischale erzeugt werden, untersucht man die Embryonen in einem sehr frühen Entwicklungsstadium nach genetischen Defekten. Nur «gesunde» Embryonen werden in die Gebärmutter eingebracht, die «kranken» und die überzähligen Embryonen werden verworfen oder für Forschungszwecke verwendet.
Während in den meisten Ländern Europas die Präimplantations-Diagnostik nur dann angewendet werden darf, wenn schwerwiegende Erkrankungen zu erwarten sind, kann in anderen Ländern (z. B. in den USA) auch nach Geschlecht, Augen- und Haarfarbe oder anderen Eigenschaften selektioniert werden. Jeffrey Steinberg, Direktor an den Fertility Institutes in Los Angeles, ist bekannt für die Selektion von Embryonen nach ihrem Geschlecht. Für diese Art der Selektion werden der Frau bis zu zwanzig Eizellen entnommen und befruchtet. Die «geeigneten» Embryonen werden in den Uterus eingepflanzt, die anderen verworfen. Eine Geschlechtsselektion kostet zur Zeit etwa 16‘000 Euro.
Ethische Überlegungen kommen hier nicht zur Geltung. In einem Interview mit «Die Zeit» 2007 befragt, antwortet Steinberg, sein Vorgehen unterscheide sich von der nationalsozialistischen Eugenik dadurch, dass nicht der faschistische Staat, sondern ausschliesslich das Elternpaar entscheide, ob es diese Selektion will.
Am 18. Mai 2013 wurde Connor Levy aus Philadelphia in den USA geboren. Er ist der erste Mensch, dessen Genom bereits vor der Einpflanzung in die Gebärmutter vollständig entschlüsselt wurde (im Institute of Reproductive Sciences, Oxford, Grossbritannien). Damit können nicht nur die für Krankheiten ursächlichen Gene, sondern auch alle anderen Gene erkannt und beurteilt werden. Man kann sich leicht vorstellen, welche Folgen entstehen können, wenn auch nach anderen Eigenschaften als nur nach Krankheiten selektioniert werden darf. Es können Menschen herausgefiltert werden, die für bestimmte Funktionen besonders geeignet oder für bestimmte Umweltbedingungen besonders angepasst sind.
Selbst wenn wir einmal von ethischen Bewertungen absehen, bleiben noch viele Fragen offen. Wollen wir zugunsten kurzfristiger Ziele die Variabilität des Genoms einschränken? Wollen wir die natürliche Evolution, die sich wechselnden Umweltbedingungen anpassen kann, einer künstlichen Evolution opfern? Wollen wir wirklich den Menschen nach Mass? Unser Mass wird immer kurzsichtig und beschränkt bleiben, weil wir die Weite der biologischen Möglichkeiten nicht überschauen.
Risiken bei der In-vitro-Fertilisation
Die Herstellung von Menschen nach Mass (Design Babies) durch In-vitro-Fertilisation (IVF) erfolgt immer häufiger. Es sieht so aus, als seien die IVF und die Präimplantations-Diagnostik zu einer problemlosen Methode herangereift. Schaut man sich die Sache aber etwas genauer an, dann ergeben sich doch etliche Schwierigkeiten.
Meistens wird für die Diagnose dem Embryo im 8-Zell-Stadium (Tag 3) eine Zelle entnommen. Das ist ein Achtel seines Volumens. Um diesen Schaden möglichst gering zu halten, warten einige Reproduktionsbiologen bis zum Blastozystenstadium am Tag 5, in welchem der Embryo aus mindestens 100 Zellen besteht. Eine grosse Rolle spielt auch die Zusammensetzung der Nährlösung, in der sich der Embryo aufhält. Durch die Nährlösungen können auf dem Weg über epigenetische Prozesse Veränderungen am Genom bewirkt werden, die sogar vererbt werden können.
Die Folgen bleiben nicht aus. Das Schaf Dolly litt bereits mit sechs Jahren an Arthritis, während normal gezeugte Schafe zwölf bis zwanzig Jahre alt werden können. Eine Studie von Urs Scherrer und Mitarbeitern vom Inselspital in Bern (2012), in der IVF-Kinder mit natürlich gezeugten Kindern verglichen werden, hat ergeben, dass IVF-Kinder einem erhöhten Herz-Kreislauf-Risiko ausgesetzt sind. Inzwischen gibt es schon viele durch IVF entstandene Menschen, die sich bereits im mittleren Lebensalter befinden. Studien zeigen, dass diese Menschen häufiger an genetisch bedingten Störungen erkranken als natürlich gezeugte Menschen.
Gentherapie und Austausch von unerwünschten Genen
Naheliegend ist auch der Versuch, defekte Gene durch intakte, «gesunde» zu ersetzen. In der Gentherapie ist das bereits möglich. Dem Körper werden einige Zellen entnommen, im Labor (in vitro) mit dem intakten Gen versehen und dann wieder in den Körper eingebracht. Die Gentherapie kann auch direkt im Körper (in vivo) vorgenommen werden. Das Verfahren ist immer noch mit grossen Risiken verbunden. Todesfälle sind vorgekommen und sind auch weiterhin nicht auszuschliessen. Dennoch hofft man, dass in Zukunft die Risiken minimiert werden können. Dieses Verfahren ist erlaubt für somatische Zellen (Körperzellen) und damit in seiner Wirkung auf das jeweilige Individuum beschränkt. Der Eingriff in die Keimbahn (Geschlechtszellen) ist verboten, weil sonst die Veränderungen auch auf die Nachkommen übertragen werden.
Das ist jedoch vermutlich nicht das letzte Wort. In Grossbritannien wurde im Frühjahr 2013 von der Aufsichtsbehörde für künstliche Befruchtungen (Human Fertilisation and Embryology Authority HFEA) auf Grund einer Umfrage der Regierung empfohlen, bei Defekten der mitochondrialen DNA (Erbinformation im Zytoplasma) der Eizelle ein Verfahren zu erlauben, der einen Eingriff in die Keimbahn einschliesst. Aus der Eizelle einer Spenderin, die gesunde Mitochondrien enthält, sollte der Zellkern entfernt und durch den Zellkern eines Embryos ersetzt werden, der durch die Vereinigung von Samen- und Eizelle der Eltern entstanden und dessen mitochondriale DNA defekt ist.
Das Kind hätte dann drei Eltern: Vater, Mutter und die Spenderin der entkernten Eizelle. Das so veränderte neue Genom wäre dann vererbbar. Wenn dieses Verfahren trotz der Kritik von zahlreichen namhaften Bioethikern aus der ganzen Welt erlaubt würde, dann wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Keimbahntherapie getan.
Die Wünsche und Hoffnungen gehen bereits jetzt über die therapeutischen Ziele hinaus. Durch Gen-Austausch möchte man nicht nur die Krankheiten, sondern schliesslich auch die Schwächen eliminieren. Durch Einschleusen funktionstüchtiger Gene soll der optimierte Mensch, der Mensch nach unserem Mass geschaffen werden. Verfolgt man die Abfolge der Ereignisse in der Reproduktionsbiologie während der letzten Jahre, dann entsteht der Verdacht, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch dieser Schritt gelingt und vollzogen wird.
Fragen der Ethik und der Datensicherheit
Die Produktion des Menschen nach Mass hat auch einen ethischen Aspekt. Wenn bei der Präimplantations-Diagnostik alle überzähligen, weil nicht eingepflanzten Embryonen dem Tod überliefert werden, müssen wir uns doch fragen, ob das noch mit der Würde des Menschen vereinbar ist. Dürfen wir menschliche Embryonen lediglich als Mittel zum Zweck herstellen? Wird der Embryo durch diese Eingriffe nicht zu einem blossen Material degradiert? Hat nicht jeder Embryo ein unveräusserliches Recht auf Leben? Können wir zusehen, wie der technische Fortschritt über alle ethischen Bedenken gestellt wird?
Kehren wir noch einmal zurück zur Genomanalyse. Die Ergebnisse werden zwar jetzt gemäss Vorschrift geheim gehalten. Aber wer garantiert uns, dass sie nicht doch eines Tages interessierten Kreisen zugänglich gemacht werden? Wäre es nicht für Krankenkassen interessant, Personen mit dem Potenzial schwerer Erkrankungen aus dem Kundenstamm zu entfernen? Würden Arbeitgeber nicht gerne wissen, ob ein Bewerber auf Grund seines Genoms für bestimmte Aufgaben geeignet ist, oder ob man ihn besser gar nicht erst anstellt? Diejenigen, die ihre Genomdaten munter und für alle zugänglich ins Internet stellen, könnten für solche Entwicklungen den Weg bereiten.
Selbst wenn wir unsere ethischen Bedenken für den Moment zurückstellen, müssen wir uns fragen, ob es sinnvoll ist, den massgeschneiderten Menschen anzustreben. Kann es noch einen Mozart oder einen Beethoven geben, wenn wir nach unseren heutigen Massstäben selektionieren?
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Günter Rager (1938) promovierte in Philosophie und in Medizin. Nach Forschungstätigkeit am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen war er von 1980 bis 2006 Ordinarius und Direktor des Instituts für Anatomie und Embryologie an der Universität Fribourg/Schweiz und von 1999 bis 2006 zudem Direktor des Instituts der Görres-Gesellschaft für Interdisziplinäre Forschung. 2005 Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Breisgau. Autor von:
Günter Rager / Michael von Brück: Grundzüge einer modernen Anthropologie, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2012