Ein militärisches und diplomatisches Schachspiel mit vier beteiligten Spielern findet zur Zeit im Vorfeld von Membidsch statt. Membidsch liegt westlich des Euphrats im Norden Syriens, etwa 70 Kilometer südlich der türkischen Grenze. Die vier Schachspieler sind: Syrien, die Türkei, die USA und Russland. Und es gibt einen Einsatz um den gespielt wird: Er ist gegeben durch die syrischen Kurden der PYD (Demokratische Einheitspartei).
Ein türkisches Membidsch?
Die türkischen Truppen der Operation „Euphrat Schild“ mit ihren syrischen Verbündeten aus der FSA (Freien Syrischen Armee) sind im Vormarsch: von al-Bab aus, das sie kürzlich einnahmen, nach Membidsch, das nach den Aussagen Erdogans ihr nächstes Ziel sein soll. Membidsch hat einen Militärrat, der die Stadt verteidigen will. Er besteht aus Milizen der syrischen Verbündeten der kurdischen Streitmacht der PYD.
Wer beherrscht Membidsch?
Als die Türkei im vergangenen August die Operation Euphrat Schild begann, hatten die Amerikaner Ankara versprochen, die mit den USA verbündeten kurdischen PYD Milizen würden Membisch verlassen und sich auf das östliche Ufer des Euphrat zurückziehen. Dies scheint geschehen zu sein, jedenfalls soweit, dass gegenwärtig nicht mehr die Kurdenmilizen der PYD (die unter der Ziffer YPG bekannt sind – für Volksverteidigungseinheiten) in Membidsch kommandieren, sondern deren Verbündete, die arabisch-syrischen SDF (für Syrische Demokratische Kräfte).
„Alles PKK“ in den Augen Ankaras
Doch Ankara sieht dies als ein blosses Täuschungsmanöver an. Dort ist man überzeugt, dass die SDF nichts anderes sind als eine Verkleidung der kurdischen YPG. Damit ist sie aus Ankaras Blickwinkel nur ein verlängerter Arm der PKK, das heisst der türkisch kurdischen Kämpfer, mit denen Ankara seit 1984 in einem dauernden Krieg steht. Dieser Krieg ist seit Juli 2015 wieder in eine heisse Phase eingetreten.
Die Amerikaner sind ihrerseits mit den YPG verbunden. Sie sahen mit Wohlwollen, wie die YPG einen syrisch-arabischen Arm bildete, die erwähnten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Die YPG stehen weiter im Osten Syriens, jenseits des Euphrat, in der Offensive gegen Raqqa, die syrische Hauptstadt des IS.
Verärgerung Ankaras
Raqqa ist eine arabische, keine kurdische Stadt. Deshalb sahen die Amerikaner es als wünschenswert an, dass sie soweit irgend möglich durch arabische, nicht durch kurdische Kämpfer befreit wird. Die Amerikaner unterstützen den Kampf gegen den IS in Raqqa aus der Luft, mit Waffen für die kurdischen und die syrischen Kämpfer, mit Ausbildern und mit beratenden Bodentruppen. In ihrem Urteil sind die kurdischen Kämpfer die tüchtigsten Truppen, die gegen den IS im Einsatz stehen.
Doch Ankara sieht verärgert auf die Zusammenarbeit der Amerikaner mit den Kurden. Die türkische Diplomatie weist darauf hin, dass Amerika selbst schon seit Jahren die PKK als eine „terroristische Gruppierung“ einstuft, und sie fügt hinzu: „Die syrischen Kurden der YPG sind ja nichts anderes als eine Zweigorganisation der PKK!“ Die Türken haben auch angeboten, dass statt der Kurden ihre Armee die Offensive gegen Raqqa führen könnte. Dass enge Bande zwischen der PKK und den YPG bestehen, müssen auch Aussenstehende einräumen.
Die USA mit den Kurden oder mit der Türkei?
Die Spannungen zwischen den Amerikanern und den Türken über die amerikanische Allianz mit den syrischen Kurden der YPG sind nicht neu. Doch es ist die Frage von Membidsch, die sie nun auf die Spitze treibt. Wenn die türkischen Truppen zusammen mit ihren lokalen Verbündeten der syrischen FSA mit dem Militärrat vom Membidsch zusammenstossen, der seinerseits eng mit den syrischen Kurden verbunden ist, müssen die Amerikaner sich entscheiden, ob sie auf die Seite ihres Nato-Verbündeten, der Türkei, treten wollen und die kurdischen Interessen in Membidsch aufgeben, oder umgekehrt weiter mit den Kurden und ihren Interessen zusammenarbeiten und die Türkei fallen lassen.
Die Entscheidung wird dadurch nicht leichter gemacht, dass Membidsch erst im vergangenen August dem IS entrissen wurde durch kurdische Kämpfer der YPG und ihre Verbündeten der SDF und mit Hilfe der amerikanischen Luftwaffen-Koalition, die damals über Membidsch gegen den IS eingesetzt wurde.
Der Schachzug Moskaus
Nach den neuesten Meldungen kamen nun die Russen und die syrische Regierung von Damaskus zum Zug. Der Verteidigungsrat von Membidsch hat durch seinen offiziellen Sprecher bekannt gegeben, dass er gewillt ist, acht Dörfer an der Front zwischen dem türkischen Vorstoss und der Verteidigung von Membidsch an die syrische Armee (von Damaskus) abzutreten. Dies, so der Sprecher, sei das Resultat von Verhandlungen, welche der Verteidigungsrat von Membidsch mit den Russen geführt habe.
Es handelt sich um einen Schachzug der Russen zu Gunsten der Asad-Regierung. Diese ist der Ansicht, dass die türkischen Truppen sich illegal auf syrischem Territorium befinden. Als die Türken die nahe gelegene Stadt al-Bab belagerten, versuchte die syrische Armee Asads ihnen zuvorzukommen und al-Bab, das vom IS verteidigt wurde, zu besetzen, bevor die Stadt in die Hände der Türken und ihrer syrischen Verbündeten fiel.
Russland als neuer Schlichter
Doch die syrische Armee kam etwas zu spät. Sie konnte nur die südlichen Pforten von al-Bab erreichen, als die Türken mit ihren Verbündeten schon die Stadt beherrschten. Es soll zu Gefechten zwischen der syrischen Armee und den Türken, oder ihren Verbündeten, der FSA, gekommen sein. Doch diese Kämpfe wurden beendet, bevor ein grösserer Zusammenstoss eintrat.
Wenn nun die syrische Armee die acht Dörfer im Vorfeld von Membidsch besetzen kann, bildet sie einen Riegel gegen den weiteren Vormarsch der Türkei. Durch diesen Riegel wird der Verteidigungsrat von Membidsch geschützt, und die türkische Operation kommt nicht bis nach Membidsch und nicht bis an den Euphrat. Damaskus erhält einen Zuwachs seines Territoriums in Nordsyrien und kann zeigen, dass es auch im syrischen Grenzland zur Türkei mitzureden gedenkt und mitreden kann. Russland steht als die Vormacht da, welche die Konflikte im Orient schlichtet, wie das vor Bush und vor Putin die Amerikaner zu tun pflegten.
Ankaras ultimative Forderungen an die USA
Die Amerikaner werden ihrerseits nicht gezwungen, zwischen den syrischen Kurden und den türkischen Nato-Verbündeten Farbe zu bekennen. Sie können weiter auf beide Zugpferde setzten. Sie werden das wahrscheinlich tun. Doch die Türkei wird das übelnehmen und ihre Annäherung an Russland einige Schritte weiter vorantreiben.
Für Ankara gibt es zwei Grundfragen, von deren Lösung das türkische Verhältnis zu Washington abhängen wird: die Auslieferung des Predigers Gülen, den Ankara der Anstiftung des Staatsstreichversuchs vom vergangenen Juli beschuldigt, und die Unterstützung Washingtons für die syrischen Kurden. Wenn es sich zeigt, dass Washington beide dringlichen Wünsche Ankaras nicht erfüllt, wird die Türkei Erdogans sich noch etwas mehr von Washington ab- und zu Moskau hinwenden.
Der russische Schachzug kommt auch den Kurden gelegen. Eine von der syrischen Armee übernommene Zone zwischen den türkischen Kräften und Membidsch bedeutet für sie, dass sie – genauer ihr syrischer Verbündeter, die SDF – die im August teuer erkämpfte Stadt halten können, ohne in einen Zweifrontenkrieg zwischen den Türken im Westen und dem IS von Raqqa im Osten verwickelt zu werden. Die PYD, der politische Arm der YPG, besitzt ein Verbindungsbüro in Moskau. Doch der Hauptgewinner der Schachpartie sind die Russen. Sie können ihre angestrebte Position als die neue Vormacht im Nahen Osten einen Schritt weiter voranbringen.