Auf dem schmalen Strässchen von Goldingen zum Zilwald treffe ich ein Auto mit weit geöffneter Hecktklappe. Die junge Frau winkt freundlich, als sie an mir vorbeifährt. Hinten aus dem Fahrzeug ragt eine alte Badewanne, wie sie die Bauern als Viehtränke auf der Weide verwenden. Etwas später kommt mir der Bauer entgegen, ein gutes Dutzend Kühe vor sich hertreibend, die mit ihren Glocken ein übermütiges Konzert veranstalten, als ob sie wüssten, dass es mit der Freiheit der Weide nun bald vorbei sei. Man erwartet den Winter hier in Goldingen, wohin mich der Bus von Eschenbach (SG) gebracht hat. Doch vielerorts geniessen die Kühe noch eine Gnadenfrist; ihr Gebimmel wird mich auf meiner heutigen Wanderung begleiten.
Aber eigentlich hat die Wahl meiner Wanderroute ganz andere Gründe als das Studium landwirtschaftlicher Gepflogenheiten in den Voralpen. Mein heutiges Interesse liegt – im eigentlichen Wortsinn – tiefer, im geologischen Untergrund. Unterwegs vom unteren Zürichsee zum Walensee und ins Bündnerland habe ich mich oft gefragt, wie wohl die langgezogenen, parallel verlaufenden und bewaldeten Kreten östlich von Rapperswil entstanden seien. Zwischen zwei von ihnen, dem Chlosterwald entlang dem Obersee und dem Eggwald weiter nördlich, fährt man von Rapperswil über Eschenbach zum Ricken oder nach Uznach in der Linthebene, früher auf der Kantonsstrasse 8, heute auch auf der A53.
Von Goldingen führt ein Wanderweg durch den Eggwald bis nach Rapperswil-Jona, der – abgesehen von kleineren Ecken und Zacken – auf der Karte aussieht, als ob er mit dem Lineal gezogen worden wäre. Doch trotz dieser Geradheit, langweilig ist er nicht, im Gegenteil. Auf ihm bin ich heute unterwegs.
Südlich vom Hof Hinterbergen wird erstmals der Blick auf den Zürichsee frei. Wie wenn ein Riese mit einem Rechen ein Muster in seinen Sandhaufen gezogen hätte, zieht sich vor mir der Geländekamm des Eggwalds zum Schlosshügel von Rapperswil und, teilweise unter der Oberfläche des Zürichsees, weiter über die beiden Inseln Lützelau und Ufenau nach Pfäffikon (SZ) und dann noch ein Stück weit den Berg hinauf nach Wollerau. – Oder war es ein Kartoffelbauer-Riese, der mit seiner Harke seine Anpflanzung angehäufelt und dann die Ernte vergessen hat?
Heute will ich das Geheimnis lüften – ganz privat und wie ein Detektiv für mich allein, denn natürlich weiss ich, dass die Wissenschaft den Ursprung dieser topografischen Strukturen längst bis ins kleinste Detail geklärt und nicht auf den Freizeit-Geologen gewartet hat. Aber ist es nicht so im Leben: Wir wollen Dinge selber entdecken, ob diese nun andern bekannt seien oder nicht. Eigene Entdeckungen befriedigen eine urmenschliche Leidenschaft. – Jedem gebührt die Entdeckung seines Amerikas, Kolumbus zum Trotz!
Erste Entdeckung: Der Weg durch den Eggwald geht nicht über einen „angehäufelten Kartoffelbeet-Erdkamm“ – im Gegenteil, er ist uneben und felsig. – Ganz so überraschend ist diese Erkenntnis eigentlich nicht, denn wie hätten diese Strukturen sonst die Hobelwirkung des Linthgletschers während der letzten Eiszeiten überstanden? – Zweite Entdeckung: Der Kamm ist nicht symmetrisch: Die südliche Flanke fällt steiler ab als die nördliche. Im Querschnitt ergibt sich daraus so etwas wie eine Schanze für Snowbord-Akrobaten.
Kommt mir das nicht bekannt vor? – Nicht weit von hier, im Osten, ragt eine Bergsilhouette in den Himmel, welche eine ähnliche Form hat, nur viel grösser, der Speer und der benachbarte, etwas weniger hohe Federispitz. Schwach erinnere ich mich, dass wir in der Schule gelernt haben, der Speer (1950 m ü. M.) sei der höchste Nagelfluh-Berg Europas.
Nagelfluh – was für ein magisches Wort. Wer hätte nicht als Kind, auf der Rigi zum Beispiel, dieses seltsame Gestein bewundert, das an einen „Chriesi-Auflauf“ erinnert, aus der sich manchmal einzelne Kirschen in Form glatt geschliffener, abgerundeter Bollensteine herausklauben lassen. Tatsächlich, als ich auf meiner Wanderung über den schmalen Geländerücken, zu dem von links und rechts munteres Kuhgeläute herauftönt, eine knappe Stunde später das Strässchen zwischen Eschenbach und Oberlütschenbach kreuze, stosse ich im Hohlweg, den man für die Querung der Geländerippe in den Fels gehauen hat, auf die vermutete Nagelfluh.
Und noch etwas Geheimnisvolles taucht aus der Erinnerung auf, das Wort Molasse, das mich, als ich es erstmals hörte, an den „Süsse-Traum“ meiner Kindheit denken liess, an die Melasse, den zähflüssigen Zuckersirup. Wie ich später lerne, haben die beiden Ausdrücke allerdings nichts miteinander zu tun: Das Wort „Melasse“ geht auf das griechische Wort für Honig (meli) zurück, während „Molasse“ seinen Ursprung im lateinischen mollis (weich) hat.
Als Molasse werden Ablagerungen bezeichnet, welche durch die Gebirgserosion und den anschliessenden Transport durch Flüsse in Meeren und Seen entstanden sind. Die Nagelfluh ist eine besondere Art von Molasse, ein Konglomerat von abgerundetem Geröll, das durch ein Bindemittel, oft Kalziumkarbonat, verkittet ist. Solche Steine wurden als Schuttfächer am Rand von Seen oder Meeren abgelagert (daher die Unterscheidung zwischen Meeresmolasse und Süsswassermolasse), während feinere Erosionsprodukte, Sande zum Beispiel, im Wasser über weit grössere Distanzen verteilt wurden und sich später zu Sandsteinen verfestigten. Deswegen sind Sandsteine weiter verbreitet als Molasse.
Nebenbei sei bemerkt: Die Bezeichnung „Molasse“ hat die Geologie übrigens dem berühmten Genfer Naturforscher Horace Bénédict de Saussure zu verdanken, der in seinem Forscherleben weit mehr gemacht hat als die Erstbesteigung des Mont Blanc, für die er bei uns vor allem bekannt ist.
Während ich weiter über den Molassekamm schreite, am Weiler Oberegg vorbei, wo eine initiative Bauernfamilie einen „Archehof“ eingerichtet hat, um „Internet-Kindern“ Gelegenheit zu geben, die bäurische Vergangenheit der Schweiz nicht virtuell, sondern reell und durch Anfassen zu erfahren, versuche ich in Gedanken eine geistige Brücke vom Speer zum Eggwald zu bauen. Afrika kommt mir in den Sinn, jener Kontinent, der sich ohne Hemmungen gegen unsere bäurische Scholle schiebt, die Alpen und den Jura aufgetürmt hat und auch nicht Halt macht vor unserer geliebten Nagelfluh. Wie Eisschollen schiebt unser südlicher Nachbarkontinent die Molasseplatten gegen- und übereinander, türmt sie hoch auf wie am Speer oder an der Rigi, oder schiebt sie an Bruchstellen einfach ein bisschen übereinander, so dass tiefere (ältere) Schichten über jüngere zu liegen kommen.
Sollte dies die Bildung des Eggwald-Kammes erklären – so sage ich mir beim Weitergehen –, müsste tatsächlich eine asymmetrische Struktur entstehen, flach auf der Seite der auflaufenden Scholle und steil an deren Bruchstelle, wo das Gelände jäh auf das Niveau der unten liegenden Schicht abfällt. Weil beim Eggwald der Geländeabfall im Süden steiler ist als im Norden, müsste also die nördliche Platte auf die südliche aufgelaufen bzw. die südliche unter die nördliche geschoben worden sein.
Ich schaue mir das Bild von der Nagelfluh genauer an, das ich eben am Hohlweg nördlich von Eschenbach gemacht habe. Tatsächlich: Die Schichten steigen von Norden nach Süden an. (Zuhause konsultiere ich die geologische Karte – über die Webseite von Swisstopo abrufbar – und stelle fest, dass beim Eggwald ein schmaler Streifen älterer Meeresmolasse – die aufstossende Schicht – zwischen der jüngeren Süsswassermolasse an die Oberfläche tritt.)
Stolz wandert der Hobby-Geologe weiter, überquert die Hauptstrasse zwischen Rüti (ZH) und Eschenbach (SG) und stösst kurz vor dem Weiler Egg auf ein gewaltiges, tiefes Loch in der Landschaft. Der Riese kommt mir in den Sinn, den ich mir als Landschaftsgestalter vorgestellt hatte. Hier muss er mit einer Schaufel tätig gewesen sein. Wer weiss, vielleicht wollte er – wie ich – geologische Studien betreiben.
„Deponie Oberholzer“ steht auf einem Schild bei einem Wassergraben, durch den wohl die Lastwagen fahren müssen, um ihre Räder zu reinigen, wenn sie aus der Grube kommen. Wie verlorene Spielzeuge stehen Bagger und Trax am Rande des Lochs, aber kein Mensch ist zu sehen. An der nördlichen Grubenwand ist – wie für ein Lehrbuch gemacht – eine Nagelfluhschicht freigelegt. Offenbar wurde hier eine alte Kiesgrube mit Aushubmaterial gefüllt. Später lese ich, dass sich in der Gegend immer wieder die Gemüter erhitzen wegen derartigen Deponien. Die spezielle Geologie hat hier offenbar auch bei andern Interesse geweckt – schon vor langer Zeit.
Dort wo ich den Tunnel der Oberlandautobahn kreuze – unsichtbar und unhörbar brausen die Fahrzeuge unter meinen Füssen vorbei –, führt mein Weg in eine sumpfige Senke, die malerisch vom Wald eingerahmt ist. An dessen westlichem Ende steht quer dazu ein langes Gebäude, das mich an ein Schützenhaus erinnert. Tatsächlich ist an dieser Stelle auf der Karte bis 2012 ein Schiessstand eingezeichnet, den wehrwillige Schweizer einst in die fast einen Kilometer lange Waldschneise gebaut haben.
Von hier sind es nur noch zwei Schritte bis zur Rainstrasse der Stadt Rapperswil-Jona. Zur Rechten stehen Einfamilienhäuser, zur Linken fällt das unbebaute Gelände steil ab. Hier ist sie wieder, die asymetrische Schanze der aufgeschobenen Nagelfluhschichten. Ob die Bewohner wohl wissen, dass sie ihren Ausblick auf den Schlosshügel von Rapperswil und den Obersee der afrikanischen Platte zu verdanken haben?
Als ich später im Zug sitze, frage ich mich: Was, wenn meine geologischen Spekulationen alle falsch wären? – Dieses Risiko trägt man als Entdecker, tröste ich mich, Kolumbus hat schliesslich auch nicht Indien entdeckt. Die Geologen werden es mich schon wissen lassen.