Ja, Mr. Assange, die Welt ist voller Geheimnisse. Und viele sind überflüssig, manche schädlich und sollten bekannt werden. Regierungen, Minister, Diplomaten, Generäle und Bürokraten dehnen die Geheimhaltung weit über das Nötige hinaus. Mehr Transparenz würde der Demokratie dienen, das wachsende Misstrauen der Bürger gegen die Politik und die Politiker abbauen.
Aber, Herr Assange, nicht wie Sie es machen. Die Welt braucht Geheimnisse. Und nicht nur für Privates, auch Politisches und Staatliches braucht einen geschützten Raum, in den nicht jeder und jede jederzeit hineinschauen kann. In diesem Bereich ist Geheimhaltung nötig für unser aller gutes Zusammenleben.
Pauschaler Rundumschlag
Hätte Ihr Kampf für totale Transparenz Erfolg, dann würden Verhandlungen unmöglich, sogar die Demokratie nähme Schaden. Sie glauben, ihr mit der Veröffentlichung von zehntausenden von Dokumenten zu dienen. Sie tun das pauschal, unkontrolliert und unkontrollierbar. Diese hunderttausend Mails haben Sie nicht geprüft, nicht einmal gelesen. Damit bringen Sie Menschen in Gefahr.
Vielleicht sind Sie am Tod von Soldaten, Diplomaten, Politikern schuldig, weil Sie Terroristen militärische Geheimnisse verraten haben. Das wollten Sie selbstverständlich nicht, aber Ihr pauschaler Rundumschlag macht das möglich. Wie ein Don Quichotte reiten Sie mit der Wikileaks-Fahne gegen Mauern an, hinter denen Sie eine weltweite Verschwörung der Mächtigen wittern. Don Quichotte war ein ungefährlicher Phantast. Sie sind ein gefährlicher Don Quichotte, getrieben vom monomanen Drang, die Menschheit durch totale Transparenz erlösen zu müssen.
Riskante Offerten
Sie ist Gift für das gewaltlose Zusammenleben von Staaten und Organisationen. Gewalt unter Staaten muss durch friedliche Verhandlungen ersetzt werden. Verhandlungen brauchen aber, um Erfolg zu haben, Geheimhaltung. Geheimhaltung von riskanten Offerten, die unerlässlich sind, um zu Kompromissen zu gelangen, die aber, verfrüht bekannt, in der demokratischen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung auslösen würden, der die Regierung zum Zurückkrebsen zwingt und Kompromisse unmöglich macht.
Der Gegenspieler muss ja auch riskante Offerten machen, die seine Leute beunruhigen, bis beide von zwei unvereinbar scheinenden Ausgangspunkten einen Kompromiss in der Mitte erreichen, den sie dann ihren Völkern mit überzeugenden Argumenten präsentieren können. Parlamente oder bei uns in der Schweiz das Volk können noch darüber abstimmen, meistens stimmen sie zu, und wenn nicht, wird halt noch eine Runde weiterverhandelt.
„Off the record“
In meinen dreissig Brüsseler Korrespondentenjahren habe ich Dutzende von Verhandlungen erlebt, hunderte von Pressekonferenzen, „Briefings“ (lockere Pressegespräche) und Hintergrundgesprächen mit Unterhändlern. Hätten wir nur die offiziellen Informationen erhalten, via Pressekonferenz oder Communiqué, dann hätten wir von den wirklichen Streitfragen nichts mitbekommen, dort wird vom Gang der Verhandlungen nur der oberflächlichste Schaum in sprachlichen Trivialitäten breitgeschlagen.
Um das tiefere Bild zu sehen und unseren Lesern vermitteln zu können: die Konflikte, Gegensätze, Spannungen, die umstrittenen hochheiklen Fragen, brauchten wir diskrete Gespräche mit einem Unterhändler, der uns Geheimnisse verriet, die noch nicht an die Öffentlichkeit gelangen durften, aber zum Verständnis der Lage unerlässlich waren. Er verriet sie uns nur wenn wir sein Vertrauen gewonnen hatten, dass wir sie in dem Mass respektierten, wie er es verlangte. „On the record“ hiess: das dürfen Sie veröffentlichen, „off the record“: das nicht.
Schutz des Verhandlungsgeheimnisses
Am häufigsten hiess es aber „non attributable“. Das durften wir schreiben, ohne die „Quelle“ zu nennen, den Informanten und das Land, für das er sprach. Für ihn war das oft ein Mittel, das Image seines Landes zu verbessern, dessen Sicht zu vermitteln oder ein neues Argument zu testen; manchmal liess er wie zerstreut eine schlau gezielte Indiskretion fallen, um ein Druckmittel oder gar eine versteckte Drohung an die Öffentlichkeit zu bringen. Für uns war das ein Gottesgeschenk, Einblick in die heiklen Streitfragen zu bekommen. Ohne das Geheimnis direkt zu verraten, konnten wir unseren Lesern mit geschickten Umschreibungen die echten Probleme zeichnen.
Wir Schweizer haben diese „Geheimdiplomatie“ in den EWR- und den bilateralen Verhandlungen oft erlebt. Erinnern Sie sich an den Alpentransit von 40Tönner-EU-Lastwagen und an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, welche die EU zur Bedingung jedes Abkommens machte? 40-Tönner statt unseren 28 Tonnen, freie Einwanderung aus Spanien und Portugal: Undenkbar! Eine Zumutung! Ein Diktat der EU!
Unter dem Schutz des Verhandlungsgeheimnisses boten unsere Unterhändler Franz Blankart und Jakob Kellenberger der EU partielles Nachgeben an: 40-Tönner ja, aber nur für ein begrenztes Kontingent von EU-Transitfahrten über Gotthard und Lötschberg; Freizügigkeit für EU-Arbeitnehmer ja, aber nur schrittweise eingeführt im Verlauf einer langen Übergangsfrist.
Akzeptanz des zuvor "Undenkbaren"
Wären diese Angebote bekanntgeworden, das Volk hätte dem Bundesrat Verrat an heiligsten Schweizer Prinzipien vorgeworfen und den Rückzug dieser Konzessionen erzwungen. Als aber die Kompromisse bekannt wurden, welche diese Zumutungem enthielten, akzeptierte das unser Volk! Das „Undenkbare“ wurde durch Zugeständnisse der EU aufgewogen, die ihr ähnlich schwer fielen wie uns das „Undenkbare“.
Den EWR haben wir zwar abgelehnt, aber aus politischen Gründen, nicht wegen dieser Zugeständnisse. In mehreren Abstimmungen über die bilateralen Abkommen haben aber unsere Stimmbürger den Alpentransit und die Freizügigkeit akzeptiert! Nur die Geheimhaltung dieser Konzessionen während der heiklen Anfangsphase der Verhandlungen hat diese Kompromisse ermöglicht und unsere Wirtschaft vor der tödlichen Abschnürung vom EU-Binnenmarkt behütet.
Das sind kleine Schweizer Beispiele für die Notwendigkeit von Geheimhaltung in Verhandlungen. Aber ohne die Geheimhaltung von Anfangsangeboten, welche auf die Gegenseite zugingen, wäre auch die atomare Abrüstung zwischen den USA und Sowjetrussland nie zustandegekommen, wir hätten vielleicht einen Atomkrieg erlebt.
Naiver Idealismus
Herr Assange, Geheimhaltung in internationalen Verhandlungen ist überlebenswichtig für die Menschheit, Ihre Enthüllungsmanie hochgefährlich. Ja, es ist Aufgabe des Journalisten, unsaubere Machenschaften aufzudecken. Aber mit einer sorgfältigen Prüfung der Fakten und Beweise in jedem Einzelfall, nicht mit der Massenveröffentlichung von Dokumenten, die unkalkulierbaren Schaden anrichten können bis zum Tod Unschuldiger. „Collateral damage“, wie das die Militärs nennen, wenn eine Bombe auch Zivilisten tötet. Das ist nicht Journalismus und hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. Totale Transparenz ist ein totalitäres Konzept.
Ich bin überzeugt, dass Sie das nicht wollen und nicht einmal sehen. Ich möchte nicht, dass Sie an die USA ausgeliefert werden, ich bin nicht sicher, ob die amerikanische Justiz die Gratwanderung zwischen der Gefährlichkeit Ihrer Massenveröffentlichung und Ihrem naiven Idealismus gerecht abwägen würde. Aber Mitleid mit Ihrem Exil in der Londoner ekuadorianischen Botschaft habe ich nicht. Das Zimmerchen, von dem aus Sie einigen Dutzend Anhängern Ihre pathetischen Botschaften über (Zitate aus Ihrer jüngsten Ansprache) „Pressefreiheit, Hexenjagd gegen Wikileaks und die heimlichen Verbrechen der Mächtigen“ verkünden, ist die paradoxe Endstation Ihres Welterlösungsmessianismus.