Am 11. März 2011, um 14.46 Uhr, teilte sich der Planet in zwei getrennte Welten.
Dumpfes Grollen im Erdboden rollte in diesem Moment heran. Als es näher kam, fingen Zimmerwände und -boden in meinem Büro in Tsukuba an zu wackeln. Zunächst schwach, dann heftiger. Kurz speicherte ich die Datei in meinem Computer ab, lief zur Tür und stellte mich in den Türrahmen. Die Stöße wurden heftiger, die Wände schwankten stark. Nachbarn rannten in den Flur, verharrten dort und starrten wie ich an die Decke. Es knallte, und der Strom war weg. Wir rannten aus dem Gebäude.
Lange fünf Minuten
Tsukuba, ca 180 km vom Katastrophen-Kernkraftwerk Fukushima entfernt, ca. 60 km nördlich von Tokyo, liegt in der Gegend, von der es heisst, man dürfe den dort wachsenden Spinat nicht essen. Denn der sei verstrahlt. Man kann ihn nicht kaufen, er wird auch nicht exportiert. Die Bauern am Ort aber bestreiten nach eigenen Messungen, dass ihr Spinat verseucht ist. Die Regierung glaubt den Bauern nicht.
Ja, an diesem Tag des Bebens, hat auch hier alles stark gewackelt; einige Begrenzungsmäuerchen sind umgekippt, ein paar Dachfirste sind zerborsten, manches Geschirr ist zerbrochen. Es war ein sehr schweres Beben auch hier, es dauerte fünf lange Minuten. Nicht nur der Strom fiel aus, auch die Wasserversorgung brach zusammen. Die Verbindungen über die Autobahn und die Eisenbahnen waren gekappt. Die Stadt war ruhig und dunkel.
Der Körper gaukelt schwankenden Boden vor
Gestorben ist hier niemand durch das Beben, kein Haus ist zusammengebrochen. Zwei Stunden brauchte ich, um meine Frau in Tokyo per Telefon zu erreichen. Auch Handys waren nutzlos. Denn die Transmitter hatten keinen Strom. Aus Tsukuba konnte niemand telefonieren. Und nur wer Benzin im Tank hatte, kam mit dem Auto in zähen Staus aus Tsukuba heraus.
Zehn Stunden später aber war der Strom wieder geschaltet. Bis überall in der Stadt wieder Wasser floss, dauerte es eine Woche, denn einige Wasserrohre waren geplatzt. Dann fuhren auch die Bahnen wieder und alle Strassen waren offen. Die Tankstellen hatten Benzin, die Geschäfte geöffnet mit Waren in den Auslagen. Wer es will, kann sogar Mineralwasser kaufen. Derweil bebt die Erde immer noch. Der Körper hat zudem die Angst vor Beben gespeichert, gaukelt schwankenden Boden vor, auch wenn alles stabil ist. Aber das Leben geht seinen gewöhnlichen Gang.
Tsukuba ist „Forschungsstadt“, mit über 7000 Wissenschaftlern eine der größten Ansammlungen wissenschaftlicher Forschungsinstitute weltweit ausserhalb großer Metropolitanbezirke. Die Produkte, die wir fertigen, sind immateriell – also nicht verstrahlbar, wie wir hoffen. Wir produzieren unverdrossen weiter. Die Universität beschloss Ende März, den Lehrbetrieb für das Anfang April beginnende neue Akademische Jahr am 11. April aufzunehmen. Zu den neu ankommenden Studierenden zählen fünfzehn Stipendiaten der Weltbank, de hier ihren Master erwerben wollen. Sie werden am 10. April eintreffen und zwei Jahre hierbleiben. Die Weltbank plant, arrangiert und bezahlt. Die Studierenden kommen aus Südostasien, Südasien und Afrika. Abgesagt hat niemand.
Japan nuklear verseucht?
Erst langsam beginne ich zu bemerken, dass meine Welt nicht de Welt der Medien anderswo ist. Das ist meine Welt.
Die andere Welt: In der EU wiegen Hafenbeamte ihre gewichtigen Köpfe mit der Frage, wie sie die Anlandung verstrahlter Ware aus Japan verhindern können. Der frühere Vorsitzende der deutschen FDP Gerhard macht „Japan“ für das politische Desaster seiner Partei bei den Wahlen am 27. März verantwortlich. Aus dem Fernsehen sprudeln üppig Katastrophennachrichten: Japan erscheint nuklear verseucht. Das ist die Welt der deutschen Medien.
Meine Welt ist anders. Nicht dass mich die nukleare Katastrophe nicht betrifft. Die Strahlungswerte im Boden und im Wasser werden regelmässig hier wie in Tokyo gemessen. Sie sind normal. Meine Frau und ich tragen Gesichtsmasken, wenn wir nach draussen gehen, und haben einen Fluchtplan entworfen für den Fall, dass wir sofort wegfahren müssen und uns nicht mehr verabreden können. Für diesen Fall stehen Notrucksäcke und Koffer gepackt griffbereit hinter der Eingangstür. Das Hybridauto steht vollgetankt abfahrbereit; es schafft 900 km, wenn man ruhig fährt und die Klimaanlage abstellt. Darauf aber beschränkt sich unsere Vorsorge.
Man kann Leitungswasser trinken
Aber in Tsukuba, auch in und um Tokyo tun 30 Millionen Menschen genau, was ich tue: sie gehen ihrer gewöhnlichen Arbeit nach. Akute Gefahren für Leib und Leben bestehen nicht. Man kann Leitungswasser trinken, ohne gesundheitliche Schäden zu nehmen, das gilt auch für Babys. Aber die Deutsche Botschaft forderte – zeitgleich mit der Britischen, Chinesischen und Russischen Botschaft – ihre Landsleute am 16. März über Rundfunk auf, sich aus Tokyo und Umgebung ins 550 km entfernte Osaka durchzuschlagen und von dort das Land zu verlassen. Die Aufforderung wurde bisher nicht zurückgenommen.
Die Botschaftsleute selbst haben sich aus Tokyo abgesetzt und den Geschäftsbetrieb nach Osaka verlegt. Die chinesisch-deutsche diplomatische Zusammenarbeit ist hervorragend, so gut, dass ich mich ihrer schämen muss. Denn es gibt keinen Grund, von hier wegzugehen. Ich habe kein höheres Sicherheitsbedürfnis als die 30 Millionen Menschen um mich herum.
Die sich aufbäumende Gewissheit: Wir schaffen es
In der schlichten Welt der deutschen Medien ist Fukushima Japan. In meiner Welt ist Fukushima Nr. 1 bedrohlich präsent als havariertes Kernkraftwerk. Aber daneben gibt es anderes: das Wissen um die endlosen Leiden der überlebenden Erdbebenopfer; die nicht enden wollende Trauer um die fast 30 000 Toten und Vermissten; die Angst vor den schweren wirtschaftlichen Folgen; aber auch die Dankbarkeit für das Davongekommensein; die sich gegen alles Ungemach aufbäumende Gewissheit: wir schaffen es; die wiederkehrende Normalität des täglichen Lebens; die gerade jetzt faszinierende, geradezu trotzige Schönheit der aufblühenden Natur im verspätet beginnenden Frühling.
Doch drängt die Welt der deutschen Medien in meine Welt. Sie klebt auf meine Welt das Etikett „Verstrahlt“. Gegen die nukleare Verstrahlung in und aus Fukushima können wir, bei aller Unbeholfenheit, ankämpfen. Gegen die globale mediale Verstrahlung sind wir chancenlos. Die globale mediale Verstrahlung tötet nicht. Aber sie macht ohne Grund das Leben unerträglich.