Die Wallfahrt begann schon am Vortag. Es war der Sonntag vor einer Woche, und bereits am Morgen waren die Sitzplätze auf der Umrandungsmauer des kleinen Parks besetzt. Es waren die Pilger, die sich jeden Sonntag vor dem Haus Mannat – ‚Paradies’ – einfinden: Studenten, junge Pärchen, Touristen, Matronen mit ihren Kindern, hie und da ein ausländisches Gesicht. Vor Jahren hatte ich dort eine Frau aus Westfalen erspäht und angesprochen; sie käme bereits das dritte Jahr nach Bombay, nur, um einmal SRK zu sehen.
SRK ist das allbekannte Kürzel für Shahrukh Khan, Indiens populärsten Bollywood-Star. Der 2. November ist sein Geburtstag, und der diesjährige war ein besonderer: Badshah Khan – ‚Kaiser Khan’ – wurde fünfzig. Am Sonntagabend, Stunden vor Mitternacht, war auf der Strasse kein Durchkommen mehr. Wir hörten es am Stimmengewirr, und den hupenden Autos, deren Insassen hilflos aufs Horn drückten, während über dem Indischen Ozean die Sonne unterging – ohne sie.
Ungepflegte Frisur eines Strassenjungen
Mitten in der Nacht dann ein brutales Erwachen, das rasselnde Geschützfeuer explodierender Knallkörper. Ach, Mitternacht, dachte ich, der Beginn des langen Geburtstags. Ich tastete nach den Gehörschutzpropfen. Erst gegen Morgen drangen keine Geräusche mehr in die Träume ein. Doch die Belagerung des Paradieses war nicht aufgehoben, es waren einfach neue Kontingente von Pilgern aufgekreuzt. Und ein Dutzend Fernsehwagen mit Satellitenschüsseln auf dem Dach.
In den Morgen-Nachrichten flimmerten dann die Bilder ins Wohnzimmer – SRK, wie er mitten in der Nacht von weit oben, über die Stacheldrahtrollen hinweg seinen Fans zuwinkte. Sie schrien, pfiffen und hielten ihre leuchtenden Handys hoch, die neue globale Fan-Geste. Wie üblich war Shahrukh sorgfältig nachlässig gekleidet – zerrissene Jeans, ein herunterhängendes T-Shirt, Turnschuhe. Dazu gesellte sich die ungepflegte Frisur eines Strassenjungen.
Fragen zur politischen Grosswetterlage
Der Montagabend war dann der Höhepunkt der wilden Party – oder so hatte ich geglaubt, als ich das Dreirad-Taxi bereits einen Kilometer früher bezahlte und zu Fuss weiterging. Doch statt dem wachsenden Gedränge von Fahrzeugen und Fussgängern war Mannat weiträumig durch Polizei-Barrieren abgesperrt. Autos wurden umgeleitet, während die Massen von Fans durch eine enge Gasse von Metallzäunen gezwängt wurden. Sie konnten eben noch ein Foto des Mannat-Eichentors schiessen, bevor sie weitergeschoben wurden.
Was war geschehen? Am Vorabend hatte Khan einige Fernseh-Interviews gegeben. In jenem mit dem Star-Moderator Rajdeep Sardesai wurden ihm Gratulations-Tweets vorgelesen, Fanmail sozusagen. Doch dann kamen Fragen zur politischen Grosswetterlage. Und SRK musste sich stellen.
Wer Kuhfleisch ist, ist ein Landesverräter
Im fernen Bihar standen Landtagswahlen an, und die in Delhi regierende BJP muss diese Wahlen gewinnen, um ihre Mehrheit in der Volkskammer mit einer solchen im Senat zu sichern. Nur Mehrheiten in möglichst vielen Landesparlamenten kann diese bringen. Und Bihar ist ein grosser Bauernstaat mitten im Hindi Belt, dem riesigen Wähler-Reservoir von Hindus, aus denen die BJP Gefolgsleute ihrer Hindutva-Politik machen will.
Modi, der Landesvater, der Staatsmann, der Visionär, wurde wieder zum Wahlkämpfer. In jeder Rede spie er Gift und Galle, er scheute sich nicht, auch die Religion ins Spiel zu bringen, den Schutz der heiligen Kuh, die Plage der säkularen Intelligentsia – sickular, nannte sie einer seiner Minister. Sein Wahlkampfchef Amit Shah brachte Pakistan ins Spiel, mit dem perfiden Subtext: Jeder indische Muslim ist ein potentieller Quisling. Und wer Kuhfleisch ist, ist ein Landesverräter.
Schweigen der Opferlämmer
Das Überschwappen von Gewalt-Rhetorik zu physischer Gewalt – sichtbar an vier Lynchmorden – zwang endlich auch die Intellektuellen zum Stellungsbezug. Rund vierzig Schriftsteller gaben ihre nationalen Auszeichnungen zurück. Filmemacher taten es ihnen nach, ebenso Akademiker, denn an Universitäten, Kultur-Institutionen und im bekannten Film-Institut von Pune geht’s ans Saubermachen: Nun werden Hindutva-Parteigänger in Führungspositionen gehievt statt ausgewiesene Fachleute.
Aber es waren meist unabhängige Filmschaffende, die ihre Auszeichnungen zurückgaben. Wo blieb Bollywood, Kulturfabrik, Wirtschaftsunternehmen und Aushängeschild Indiens? Es blieb stumm. War es das Schweigen der Opferlämmer, fragte man sich. Denn Bollywood ist das eine – und einzige – Geschäftsfeld, in dem Muslime in überdurchschnittlicher Zahl vertreten sind, als Skriptschreiber, Musiker, Regisseure. Und als Schauspieler.
Sohn eines Freiheitskämpfers
Jedermann wusste, dass nur Shahrukh Khan es wagen konnte, Klartext zu reden, ohne Gefahr zu laufen, in einem Gegenfeuer von Hass-Tweets, Morddrohungen und Boykottaufrufen Hals und Kragen zu riskieren. Er hatte nur auf seinen runden Geburtstag gewartet, als ohnehin alle Fernsehkameras der Nation auf Mannat gerichtet waren. Und er zeigte, mit was für einer Meisterschaft er seine mediale Selbstdarstellung mit einer politischen Botschaft zu verbinden weiss.
Keine düstere Miene, kein schwarzer Rollkragen-Pulli. Stattdessen sass er, in Jeans und T-Shirt, im feinen Sessel des Studio-Intérieurs, als hätte man ihn soeben von der Strasse geholt. Er sprach im Staccato eines Strassenhändlers, ulkte über sich selbst, brachte die Moderatoren zum Lachen. Aber dann kam er zur Sache. Er habe bisher geschwiegen, weil seine Religion nichts mit seiner Berufsarbeit zu tun habe; sie sei eine Sache zwischen ihm und Gott. Wenn er jetzt spreche, dann als Bürger Indiens, der er immer war, der Sohn eines Freiheitskämpfers.
"Shut up! Just Shut up!"
Und er ging zum Gegenangriff über, mit demselben Gusto und frechen Maul, mit dem er sich selber hochnehmen konnte. Dass er in Amerika wegen seines Namens angefeindet würde, das könne er verstehen bei dessen Sicherheitsneurose. Mit seinem Film My Name is Khan. And I am not a Terrorist habe er ihm einen Spiegel vorgehalten. Aber dass er es in seiner Heimat tun müsste? „Es ist stupid. Religiöse Intoleranz und nicht säkular zu sein in diesem Land ist das schlimmste Verbrechen“. Niemand habe das Recht, ihn wegen seiner Religionszugehörigkeit in die Gosse zu zerren. Er sei ein freier Bürger seines Landes. Und was seinen Patriotismus angeht, prüfe man doch seine Filmografie. „Deshalb sage ich diesen Leuten: Shut up! Just Shut up!“
Ganz Indien wartete gespannt, wie die Hindutva-Brigaden reagieren würden. Zuerst lief das übliche Szenario ab: Ein BJP-Generalsekretär sagte salbungsvoll, SRK sei zwar ein Pass-Inder, aber seine Seele – sein Atman – sei pakistanisch. Ein Abgeordneter in Swami-Kleidern verglich ihn mit Hafiz Saeed, dem pakistanischen Terroristen, der die Attentate auf die Bombay-Hotels auf dem Gewissen hat. Die Polizei zog vor Mannat erneut einen Barrikaden-Gürtel hoch.
"Du bist einer von uns"
Doch plötzlich kam Gegenwind auf. Die BJP-Parteileitung, mit einem feine Ohr für den Widerhall aus den social media, stellte fest, dass die Hass-Trolls für einmal nicht obenaus schwangen. Sie wurden vielmehr förmlich eingedeckt von Bravo-Rufen für SRK. Am Mittwoch kam es vor Shahrukhs Anwesen erneut zu Fan-Gedränge. Doch diesmal nicht, um SRK zu sehen, sondern um sicherzustellen, dass er sie sah, dass sie zu ihm hielten. Die Lautmäuler wurden hastig zurückgepfiffen, der BJP-Sprecher versicherte, es zieme sich nicht, ein nationales Denkmal anzugreifen. Stattdessen: Schulterklopfen, ‚Du bist einer von uns’.
Ich kann mir vorstellen, wie SRK darauf reagierte, zuhause in seinen Wänden: ‚Oh, just shut up!’. Eine Woche nach dem Geburtstag wurde auch das Verdikt der Wähler in Bihar bekannt: Eine vernichtende Niederlage für die BJP.