Doch wer das Land kennt, sollte eigentlich wissen: Unmöglich, dass ein Mann mit Kamel bei den Pyramiden - wo er saftigen Gelder verdient, die ihm die Touristen bezahlen - nicht dafür sorgt, dass die Polizei ihn dort gewähren lässt, ihn und keinen seiner möglichen Konkurrenten. Vielleicht bezahlt er die Polizisten, vielleicht hat sonst irgendwelche Beziehungen zu Personen, die das Sagen haben. Jedenfalls könnte er seinen Posten dort und damit seinen relativ sicheren und für ägyptische Zustände höchst lukrativen sowie auch und ziemlich mühelosen Broterwerb nicht ohne die Protektion der Polizei einnehmen.
Schlägertrupps im Dienste der Polizei
Folglich, wenn die Polizei wünscht, dass er mit seinem Kamel für Mubarak demonstriere, hat er gar keine andere Wahl. Sein Broterwerb ist ihm lieb und teuer, und deshalb kommt dann auch leicht eine gewisse Begeisterung beim Draufschlagen auf jene zustande, von denen er annimt, dass sie ihm möglicherweise seinen Broterwerb streitig machen könnten, wenn ihre Seite gewinnt.
Für jedermann, der Ägypten kennt, ist sehr klar: die Pro-Mubarak Demonstranten, die plötzlich und genau zur richtigen Zeit auf den Strassen erschienen sind (sie wurden mit Autobussen an ihre Einsatzpositionen transportiert), bestehen aus Polizisten und deren Agenten, Mitläufern sowie bezahlten Cliquen, welche die Polizei für solche Gelegenheiten aufbieten kann.
Das ist alter Brauch in Ägypten,wahrscheinlich haben schon die Pharaonen vergleichbare Techniken gekannt. Die diplomatische Gemeinschaft in Kairo weiss das und die erfahreneren Journalisten auch. Doch dies allzu offen herauszusagen, wäre für die Diplomaten undiplomatisch, sie können ja ihre geheimen Berichte schreiben, und für die Journalisten gefährlich. Sie müssten damit rechnen, vor das Informationsministerium zitiert zu werden, wo ihnen erklärt würde: „Wir haben offiziell dementiert, dass es sich um Polizeikräfte handle. Wie könnt ihr es wagen, uns Lügen zu strafen. Wo sind eure Beweise?“ Darauf würde die Drohung mit Ausweisung folgen.
Beweise oder mindestens schwerwiegende Indizien scheint es allerdings doch zu geben. Die Anti-Mubarak Demonstranten sagen aus, sie hätten 120 Identitätskarten von „Gefangenen“ Pro-Mubarak Schlägern in der Hand, die bewiesen, dass es sich bei ihren Widersachern um Leute der Polizei handle. Einzelne der Schläger gaben auch auf Befragen von Journalisten zu, dass sie bezahlt worden seien. In der Nacht auf den 3. Januar fielen Schüsse auf dem Tahrir Platz und in seiner unmittelbaren Nähe, Todesopfer waren zu beklagen.
Erklärungen im staatlichen Fernsehen
Über Schusswaffen verfügt die Polizei, nicht die demonstrierende Bevölkerung. Das Vorgehen der als zivile Demonstranten eingekleideten Polizisten und ihrer Mitläufer, war gelenkter militärischer Natur mit taktisch durchdachten Bewegungsmanövern. Die Schläger verfügten auch über Petroleumbomben, die sie des nachts zum Einsatz brachten. Die Armee öffnete den pro-Mubarak Schlägern den Zugang zu dem von ihr abgesperrten Tahrir Platz.
Das staatliche Fernsehen sendete Erklärungen aus, zuerst von Armeesprechern, dann vom Vizepräsident und bisherigem obersten Geheimdienstchef, Omar Soleiman, höchst persönlich, in denen die Bevölkerung aufgefordert wurde, nach Hause zu gehen. Das Ziel der Demonstrationen sei ja erreicht. Mubarak sei bereit, nur noch bis zum September zu bleiben. Ein Dialog mit der Opposition werde beginnen und sogar einige der Wahlkreise, in denen im vergangenen Dezember besonders zweifelhafte Wahlen stattgefunden hätten, könnten nocheinmal wählen.
Das zeigt, dass die Gegendemonstrationen genau in dem Zeitpunkt organisiert worden waren, in dem durch die scheinbaren Konzessionen möglicherweise ein Teil der Anti-Mubarak Demonstranten sich als befriedigt erklären könnte. Es sind nur Scheinkonzessionen weil sie jederzeit abgebogen oder rückgängig gemacht werden können, solange das Regime Mubarak und die Macht seines Vizepräsidenten, Omar Soleiman, weiter besteht.
Hat die Armee eine gemeinsame Linie gefunden?
Nach wie vor ist bei alledem die Rolle der Armee entscheidend. Doch die Armee hält sich bedeckt. Sie scheint eine Rote Linie zu kennen, die lautet, „Wir schiessen nicht scharf auf das ägyptische Volk“. Doch wie weit sie die Pro-Mubarak Demonstranten beschützt und begünstigt, lässt sie offen. Am Mittwoch schien sie eher diese fördern zu wollen, doch am Donnerstag nach den Schüssen in der Nacht, nahm sie eher die Position eines Schiedsrichters ein, der die Kämpfer zu trennen versucht.
Man kann sich ein Hintergrundszenario zurechtlegen, wie sich die inneren Ausmarchungen und Auseinandersetzungen unter den Offizieren abgespielt haben könnten. Doch dies sind nur Möglichkeiten, nicht Sicherheiten. Omar Soleiman könnte die Persönlichkeit sein, die versucht, eine gemeinsame Linie auszuhandeln, auf die sich alle Tendenzen, die es unter den hohen Offizieren gibt, einigen könnten.
Damit sie seinen Interessen gerecht wird, muss diese Linie ihm selbst die Rolle eines Leiters der versprochenen Übergangsoperation zu einem Nach-Mubarak Regime zuteilen. Wenn es ihm gelingt, den Übergang zu dominieren, kann er auch darauf zählen, die Präsidentschaft zu erlangen. Der Übergang freilich dürfte in diesem Fall auf eine Erneuerung des bisherigen Regimes hinauslaufen. Eine etwas gefälligere politische Dekoration, mindestens für den Anfang, und Beibehaltung der Privilegien der Streitkräfte. Was auch bedeuten würde, Beibehaltung des gegenwärtig bestehenden Klientel-Kapitalismus, sowie der pro-amerikanischen und fast offen pro-israelischen bisherigen Aussenpolitik - weil die Bezahlung der Streitkräfte (durch die USA) von dieser politischen Ausrichtung abhängt.
Um ein solches Szenario zu verwirklichen, muss der Vizepräsident die Demonstranten zur Ruhe bringen, durch Schläge der Gegendemonstration, durch physische Ermüdung, durch politische Versprechen einer „Reform“ und eines „Dialogs mit der Opposition“ , durch die langsam steigende Angst vor dem Chaos und vor Nahrungsengpässen. Er muss auch in der Lage sein, die Armee so zu steuern, dass sie zwar nicht das Feuer eröffnet, dass sie aber auch nicht mit den Anti-Mubarak Kräften fraternisiert.
Die einzige Chance neuer Massendemonstrationen
Die einzige Chance der Anti-Mubarak Kräfte, einer derartigen Falle zu entgehen, läge darin, dass sie ihrerseits einmal mehr so gewaltige Massen von Demonstranten auf die Strassen wirft, dass sie in der Lage sind, die Schlägerbanden des Innenministeriums im Meer der Demonstranten zu ersticken, so wie es ihnen in den ersten Tagen des Volksaufstandes gegenüber der uniformierten Sicherheitspolizei gelungen war.
Ein derartiger Erfolg würde wohl auch bewirken, dass die Armeeoffiziere ihre Politik neu ausrichten. Wahrscheinlich wird dies aber noch bedeutende Opfer an Verwundeten und an Menschenleben erfordern, weil die Schläger in ihrer zivilen Verkleidung noch viel brutaler und hemmungsloser vorgehen, als die auch schon höchst brutal agierende uniformierte Polizei es tat. Die Volksbewegung hat in der Tat für den Freitag eine neue Grossmobilisation angekündigt.