Da gibt es die Zensur, die durch die Wissenden und jene, die durch die Unwissenden ausgeübt wird. Die Wissenden sitzen in Machtpositionen und nützen diese aus. Durch Zensur und andere Manöver verschaffen sie ihrer Sicht der Dinge, ob diese nun wahr oder erlogen sind, Gehör.
Die Unwissenden konsumieren, was sie vorgesetzt bekommen. Sie tragen es weiter und verteidigen diese vermeintliche Wahrheit, oft deshalb weil sie tatsächlich daran glauben.
Die Wissenden pflegen eher im Orient zu sitzen, die Unwissenden eher im Westen.
Das Internet dient dazu, diese Meinungsmache zu durchlöchern. Diese Woche sind mir zwei Beispiele aufgestossen.
Uri Avneri wurde 87. Eine einzige Zeitung „Haaretz“ erwähnte den Anlass. Gideon Levy schrieb einen einsichtigen und tief empfundenen Gratulationsartikel. (Zu lesen im Internet, Adresse siehe unten).
Wahrscheinlich hat er sich dadurch bei rechtsgerichteten Regierungskräften und ihren Mitläufern noch etwas weniger beliebt gemacht, als er es schon bisher gewesen war. Aber wer ist Uri Avneri? Ich muss gestehen, während Jahrzehnten habe ich auch zu den oben erwähnten Unwissenden gehört.
Uri Avneri, der totgeschwiegene "Verrückte"
Ich glaubte dem Bild, das die offiziellen Organe von ihm zeichneten. Das Internet gab es noch nicht. Die Zeitungen aller Welt (natürlich auch in der Schweiz) stellten ihn als einen „Verrückten“ dar, der Frieden mit den blutigen Arabern anstrebte, gegen jede Vernunft.
Am besten rede man möglichst wenig über ihn, wurde hinzugefügt, und er wurde in der Tat systematisch totgeschwiegen. Wer sich besser über ihn orientieren wollte, musste nach Israel reisen und ihn dort persönlich besuchen. Wie viele Leute hatten Zeit und Gelegenheit dazu?
Dann kam das Internet. Heute können alle Interessierten im Netz lesen, was er schreibt und denkt. Als Geburtstagszugabe erschien soeben ein ausführlicher Lebenslauf. Dieser allein sollte Augen und Ohren weit öffnen. (Man findet ihn auf der gleichen, unten angegebenen Internetseite.)
Der Nicht-Wahlkampf in Ägypten
Reden wir nicht nur von den Israeli. Reden wir auch vom gegenwärtigen Nicht-Wahlkampf in Ägypten. Dort findet ein unglaubliches Schattenboxen statt. Es geht um die Nachfolge Mubaraks. Wer wird ihm folgen, wann wird das sein, wie wird er erkoren? Oder wird Ägypten in der Nach-Mubarak-Zeit ein riesengrosser "failed state"?
Unbekannte – vielleicht sind es die Geheimdienste – kleben in Kairo Plakate an die Wände. Auf diesen Posters wird der Geheimdienstchef, Umar Solaiman, als möglicher Nachfolger gepriesen. Den Zeitungen wird verboten, diese Aktion auch nur zu erwähnen. Übers Internet bringt man sie in Erfahrung.
Andere Unbekannte – vielleicht aus der Staatspartei – kleben andere Plakate an die Mauern: mit dem Bild des Sohnes von Mubarak. Doch er streitet ab, die Nachfolge anstreben zu wollen. Immerhin dürfen seine Reklamebilder in den Zeitungen erwähnt werden.
Einzig das Internet wirft einige Lichtkegel in das Dickicht. Muhammed Baradei, der bisherige Vorsitzende der Internationalen Atomagentur, wäre ein aussichtsreicher Kandidat, falls ein ehrlicher Wahlprozess durchgeführt würde. Das sagt er selbst, mündlich und im Internet.
"Freiheit ist wichtiger als der Bikini von Fräulein Baradei"
Er hat 250 000 Fans bei Facebook. In einer Internet-Petition wurden eine Million Unterschriften für ihn gesammelt. Doch nun wird auch im Netz scharf auf ihn geschossen. Eine Schmierkampagne zeigte angebliche Bilder seiner Tochter im Bikini und bei einem Empfang mit angeblich alkoholischen Getränken.
Für Abermillionen von muslimisch empfindenden Ägyptern ist das gleich schockierend, wie es bei uns vor 30 Jahren der Vorwurf von Homosexualität war.
Doch Wunder über Wunder: In einem englischsprachigen Blog der verbotenen Muslim-Brüder erschien der Kommentar: die Freiheit der Ägypter ist wichtiger als der Bikini von Fräulein Baradei.
Nur das Internet erlaubt einen solchen Einblick in die ägyptische Gesellschaft. Durch die Lektüre von 20 oder 30 im Lande erscheinenden Zeitungen erfährt man nichts dergleichen.