Es gibt wenige Länder, die so viele Briefkastenfirmen haben wie die Schweiz. Diese Jahr dürften sie die Zahl 50‘000 überschreiten. Spitzenreiter ist der Kanton Zug mit etwa 8‘000 Domizilgesellschaften, wie der offizielle Name lautet. Damit kommt auf jede fünfzehnte Person eine Briefkastenfirma. Laut der Wirtschaftsinformations-Plattform Moneyhouse, die der NZZ-Mediengruppe angehört, befinden sich von den 135 wichtigsten Briefkasten-Adressen deren 64 im Kanton Zug.
Briefkastenfirmen dürfen weder eigenes Personal anstellen noch eigene Räume unterhalten, also keine Geschäftstätigkeit ausüben. Dafür zahlen sie keine oder eine sehr geringe Gewinnsteuer. Die Kapitalsteuer beträgt 0,075 Promille. Wie viel Geld die Domizilgesellschaften dem Fiskus einbringen, wird geheim gehalten. Lukrativ sind sie sicher für die Wirtschaftsanwälte, die den Firmen ihren Briefkasten zur Verfügung stellen. Der Zuger Volksmund nennt sie deshalb „Briefkastenonkel“. Früher waren einige dieser Steuerfluchthelfer in der Politik, sogar in der Regierung, tätig. Dass das in den 1990er Jahren aufhörte, hat zu tun mit einer Prophezeiung Philipp Etters vor 91 Jahren und der Geburt der Neuen Linken fünfzig Jahre später.
Philipp Etters Befürchtung
Als der Zuger Regierungsrat im Januar 1925 über ein „Spezialgesetz“ beriet, das Steuerprivilegien für Holding- und Domizilgesellschaften einführte, drückte der spätere Bundesrat Philipp Etter die Befürchtung aus, „dass nach Inkrafttreten vorgeschlagenen Gesetzes eventuell Gesellschaften in den Kanton Zug hinziehen könnten, die später demselben mehr Sorge als Freude bereiten.“ Auch der sozialdemokratische und einer der beiden freisinnigen Vertreter im siebenköpfigen Gremium äusserten starke Vorbehalte. Als der Kantonsrat im November 1929 das Gesetz verabschiedete, kam die heftigste Opposition vom Rischer Kirchenratsschreiber Georg Weber. Der katholisch-konservative Parteikollege Etters geisselte die „ganz ungerechtfertigte Begünstigung des Grosskapitals, wogegen sich das gerechtdenkende Volksempfinden aufbäumen muss. Das Volk kann solche Privilegien nicht verstehen.“
Allerdings hatten das Holding- und das Domizilprivileg bis in die frühen 1960er Jahre wegen der Krise und des Kriegs keine grossen Auswirkungen. Erst als Zürich und Deutschland so richtig boomten, begannen sie ihre Wirkung zu entfalten. Gab es 1958 ganze 10 Briefkastenfirmen im Kanton Zug, waren es 1969 bereits 1’406. Eine regelrechte Steuerfluchtwelle löste die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt (1969-1974) aus.
In seiner Dissertation „Das vermeintliche Paradies“ über die „Anziehungskraft der Zuger Steuergesetze“ bringt Michael van Orsow ein Beispiel: „Eine deutsche Firma kaufte ihre Produkte zu untersetzten Preisen ihrer in Zug beheimateten Domizilgesellschaft und kaufte sie dann zu übersetzten Preisen wieder zurück. Der Gewinn blieb dadurch in der Domizilgesellschaft in Zug, wo dieser ungleich milder (oder gar nicht) versteuert wurde.“ Solche Praktiken bescherten dem Kanton Zug 1970 im „Stern“ und 1971 im „Spiegel“ erstmals negative Schlagzeilen – und Marc Rich 1983 eine Anklage der USA, die sich auf 325 Jahre Gefängnis belief.
Finanzdirektor und Briefkastenonkel
Aus dem Domizilprivileg entwickelte sich Ende der 50er Jahre das einträglichste aller drei Steuerprivilegien: die gemischte Gesellschaft. Briefkastenfirmen, die mit der Zeit an Ort und Stelle eine gewisse Geschäftstätigkeit aufnehmen wollten, veranlassten die Steuerbehörden, die eigentliche Zuger Spezialität zu entwickeln: Unternehmen, die in der Schweiz nur eine untergeordnete Geschäftstätigkeit ausüben, zahlen für die im Ausland erzielten Gewinne nur einen Bruchteil, dürfen aber Personal einstellen und eigene Büros anmelden. Diese Erfindung wurde attraktiv für Grosshändler wie Metro, Philipp Brothers, Marc Rich, Glencore.
Während die Rohstoffkonzerne Philipp Etters „Sorgen“-Prophezeiung seit gut drei Jahrzehnten mit schöner Regelmässigkeit bestätigen, ist es um die Briefkastenfirmen zwischenzeitlich etwas ruhiger geworden. Dies hat drei Gründe: Der kritische Fokus konzentrierte sich immer mehr auf den Rohstoffhandel. Geschäfte zur Umgehung von Boykotten wie damals des Ostblocks oder Südafrikas sind seltener geworden. Die Zuger Wirtschaftsanwälte agieren vorsichtiger als früher. Noch in den 60er und 70er Jahren benutzte der FDP-Finanzdirektor und 82fache Verwaltungsrat Hans Straub seine Amtsräume gleichzeitig als Anwaltsbüro. Wenn ein deutscher Reicher, der seine Millionen dem Fiskus entziehen wollte, sich von einem Beamten über die Zuger Privilegien beraten liess, wurde ihm anschliessend der zuständige Regierungsrat als Briefkastenonkel vorgeschlagen.
Kaskade von Skandalen
Solche Praktiken kamen 1977 zu einem abrupten Ende. Eine Partei von Jugendlichen, die im stockbürgerlichen Kanton unter dem Namen Revolutionäre Marxistische Liga firmierten, hatte wegen der Verwicklung eines CVP-Regierungsrates in einen Grossbankenskandal eine Volksinitiative eingereicht, die es Regierungsmitgliedern verbot, gleichzeitig private Verwaltungsratsmandate auszuüben. Nachdem im Kantonsrat ein einziger Sozi den Mut gefunden hatte, für die RML-Initiative zu stimmen, wurde diese an der Urne von 37 Prozent der Stimmenden unterstützt.
Allerdings wollten viele bürgerliche Politiker weiterhin von den Tausenden von privilegierten Gesellschaften profitieren. Und da diese insbesondere in den 80er und 90er Jahren in eine Unmenge von Dreckgeschäften verwickelt waren, enthüllten die Neulinken, die inzwischen Parlamentsmandate und 1990 sogar einen Regierungssitz erobert hatten, mit Vorliebe jene Fälle, in die politische Amtsträger verwickelt waren. Wenn es irgendwo in der Welt einen Skandal gab, war die Chance, dass eine Zuger Briefkastenfirma mit ihren einheimischen Briefkastenonkeln drin steckte, sehr hoch.
So gab es Skandale um Nuklearwaffen, in die zu allem Übel noch ehemalige Nazi-Offiziere verwickelt waren; um Atommüll, der für China oder Angola bestimmt war; um Firmen, die der italienischen Mafia oder der Kommunistischen Partei Österreichs gehörten; um Brandbomben und Mittelstrecken-Raketen, die Saddam Hussein oder den argentinischen und ägyptischen Militärs vermittelt wurden; um Umgehungsgeschäfte für Südafrika, den Ostblock und die Kriegsparteien auf dem Balkan. Der politische brisanteste Fall war die Enthüllung, dass Zug ein Zentrum der Stasibeschaffung gewesen war und rechte CVP-Hardliner an dieser wacker mitverdient hatten. Einer von ihnen stellte sich später in die Dienste der von einem ehemaligen Stasi-Boss geleiteten Gazprom, die ihren Steuersitz ebenfalls in Zug hat.
Als 1990 nach einer zweiten, diesmal gemeinsamen Volksinitiative von Alternativen und SP das revolutionäre Begehren aus den 70er Jahren umgesetzt wurde und als den Wirtschaftsanwälten zu dämmern begann, dass ihnen das Geschäften leichter fiel, wenn sie sich von Partei- und Staatsämtern fern hielten, kam es zu einer gewissen Trennung von Wirtschaft und Politik. Allerdings übernahmen die Wirtschaftsanwälte, Treuhänder und Steuerberater im Jahre 2000 noch einmal die Mehrheit in der kantonsrätlichen Sonderkommission für die Totalrevision des Steuergesetzes. Hier konnte ich als Vertreter der Alternativen direkt verfolgen, wie Gesetzgebung aus dem handfesten Interesse einer beispielsweise ungarischen Briefkasten-Firma höchst konkret betrieben wurde.
Verpasster Befreiungsschlag
Der Panama-Skandal rückt auch die Schweizer, insbesondere die Zuger Briefkastenfirmen wieder stärker ins Rampenlicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese in den nächsten Monaten und Jahren „mehr Sorge als Freude“ bereiten, ist sehr hoch. Auch weil der internationale Druck heute viel grösser ist als 1925. Umso unverständlicher ist es, dass der Zuger Kantonsrat im November 2013 den Vorstoss der Alternativen Fraktion, die Steuerprivilegien aufzuheben und die Briefkastenfirmen zu verbieten, abgelehnt hat. Es wäre für den Kanton Zug und die ganze Schweiz ein Befreiungsschlag gewesen.