Die algerische Nationalversammlung, Parlament und Senat gemeinsam, hat der dritten Verfassungsrevision zugestimmt. Der Entscheid, dem keine Debatte vorausging und der mit Handerheben zustande kam, fiel mit 459 gegen zwei Stimmen bei 16 Enthaltungen.
Es ist die dritte Verfassungsrevision unter Präsident Abdelazis Bouteflika. Sie ist seit 2011 auf dem politischen Webstuhl. Damals war sie vom Präsidenten versprochen worden, um die Wogen des Arabischen Frühlings zu glätten, die - wie sich erweisen sollte - in Algerien nicht sehr hoch brandeten. Dem Versprechen nach sollte die Revision, ähnlich wie dies in Marokko unter den gleichen Umständen geschah, "mehr Demokratie" und effektives Mitspracherecht für die Algerier festschreiben.
Ein Zückerchen für die Berber
Doch davon blieb wenig übrig. Die Revision erklärt das Berberische ("Amazigh" wie die Berber es selbst nennen) zur offiziellen Sprache neben dem Arabischen. Was bedeutet, dass staatliche Dokumente nun auch auf "Amazigh" veröffentlicht werden müssen.
Zur zweiten Landessprache war das Berberische schon 2001 durch eine erste Verfassungsrevision erklärt worden, nachdem blutige Demonstrationen während des "Berber-Frühlings" in den Berbergebieten ausgebrochen waren. Die Berber machen fast ein Drittel der algerischen Bevölkerung von 39 Millionen Menschen aus.
Zurück zu zwei Präsidialmandaten
Die zweite Verfassungsrevision von 2008 hatte es dem Präsidenten erlaubt, mehr als zwei Fünfjahresmandate anzustreben. Deshalb konnte sich Bouteflika 2009 ein drittes und 2014 ein viertel Mal wählen lassen. Die jetzige dritte Verfassungsrevision führt die Beschränkung auf zwei Fünfjahresmandate wieder ein.
Denn: Ein fünftes Mandat kommt für Bouteflika nicht in Frage. Er ist krank. Nach einem oder mehreren Herzinfarkten (Details sind geheim) bewegt er sich im Rollstuhl und soll Schwierigkeiten haben zu sprechen. Aus diesem Grund, so heisst es, kommuniziert er mit seinen Ministern und Gehilfen vor allem schriftlich.
Kaum Einfluss auf die Machtverhältnisse
Eine neue Verfassungsbestimmung legt auch fest, der Präsident werde in Zukunft den Anführer der Mehrheitspartei zum Ministerpräsidenten ernennen. Doch der Ministerpräsident ("premier ministre", nicht mehr "président du conseil des ministres") ist nur noch "Koordinator der Weisungen des Präsidenten".
Ob die revidierte Verfassung Einfluss auf die gegenwärtigen Regierung Algeriens und die Machtverhältnisse hat, ist unklar. Alle Oppositionsstimmen sagen sehr deutlich, dass sie dies nicht erwarten. So Ali Benflis, der Vorsitzende der Oppositionspartei "Vorhut der Freiheit". Er erklärt: „Es geht um nichts Anderes als darum, die seit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings praktizierte langsame Taktik fortzuführen und die Diversion zu intensivieren“.
Die Oppositionsparteien und zahlreiche angesehene Altpolitiker und einstige Kämpfer des Bürgerkriegs (1991-1999 und darüber hinaus), sowie Überlebende aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich (von 1954-1962) erklären die Verfassungsänderungen als irrelevant. Sie änderten nichts Wirkliches an den bestehenden Machtverhältnissen.
"Die Präsidentschaft" regiert
Die Machtstruktur sieht so aus: Da gibt es die „Präsidentschaft“, die wirklich regiert. Dieser Begriff umfasst den Präsidenten und seine engsten Mitarbeiter sowie deren Verbündete in der Wirtschaft und der Verwaltung.
Bei der Opposition besteht der Verdacht, dass der Präsident nicht mehr in der Lage sei, das Land zu regieren, und dass es seine engsten Mitarbeiter seien, die dies in seinem Namen täten. Viele der nicht zur "Präsidentschaft" gehörigen Politiker und ehemaligen Würdenträger haben gefordert, vom Präsidenten empfangen zu werden. Sie erklärten öffentlich, sie wollten sich versichern, dass er wirklich noch in der Lage sei, zu regieren. Doch ihren Gesuchen wurde nie stattgegeben.
Die "Präsidentschaft" ernennt die Richter
Die wichtigsten Figuren "der Präsidentschaft" sind Generalstabschef Ahmed Gaid Salah; der jüngere Bruder des Präsidenten, Dr. Said Bouteflika; der Kabinettschef des Präsidenten, Ahmed Ouyahia und der vom Präsidenten ernannte Ministerpräsident, Abdel Malek Sellal.
"Die Präsidentschaft" ernennt auch die Obersten Richter. Mit ihr agieren, die von "der Präsidentschaft" ernannten Spitzen der staatlichen Unternehmen, allen voran jene der Erdölgesellschaft SONATRACH (über der ein Korruptionsskandal schwebt) und private Unternehmer, die reich wurden, weil sie mit Hilfe ihrer politischen Verbündeten monopole und oligopole Positionen ergattern konnten.
Sieg über den Geheimdienst
Die Präsidentschaft hat in die letzten Jahren einen zähen Machtkampf gegen den algerischen Geheimdienst, das andere frühere Machtzentrum des algerischen Staates, geführt. Dieser Geheimdienst wurde vom legendären General "Toufik" geleitet, der mit bürgerlichem Namen Mohamed Mediène heisst. Toufik hatte den Geheimdienst DRS (Direction du Renseignement et de la Sécurité) seit 1990 geleitet. Er galt jahrelang als der bitterste Feind der Islamisten und war der geheime "Königsmacher" Algeriens. Seine Spezialität war es, Dossiers über alle und jeden anzulegen, besonders natürlich über jene, die sich anrüchiger oder wenig legaler Machenschaften zuschulden kommen liessen.
Die DRS wurde seit 2010 von der Präsidentschaft in kleinen Schritten liquidiert, indem einzelne ihrer Kompetenzen anderen Ministerien oder staatlichen Stellen zugeteilt wurden. Ihre hohen Beamten wurden pensioniert, ersetzt oder anders platziert. Später wurden ihre wichtigsten Generäle teils vor Gerichte gestellt, teils dazu veranlasst, zurückzutreten. Dieses Schicksal ereilte im vergangenen September auch General Toufik selbst. Man erfuhr nie, ob er freiwillig zurücktrat oder entlassen wurde.
Zur "Präsidentschaft" übergelaufen
Die verschiedenen Dienste der DRS gingen aufgrund eines nicht veröffentlichen Dekrets der Präsidentschaft in die Hände des oben erwähnten Generalstabschefs Ahmed Gaid Salahs über. Die frühere DRS war dem Armeeministerium unterstanden.
Verbleibende Reste der früheren Organisation unter neuen Namen koordiniert nun Athmane Tartag, einst "die Rechte Hand" des nun pensionierten Generals Toufik. Tartag war jedoch vor einigen Jahren zur Präsidentschaft übergelaufen und wirkte dort dort als Sicherheitsberater des Präsidenten. In dieser Funktion war er in der Lage, am Abbau seiner früheren Organisation mitzuarbeiten, bis er deren Reste selbst übernahm.
Gefälschte Wahlen
Es gibt nach wie vor Stimmen in Algerien, die es wagen, die Präsidentschaft und ihre Herrschaft zu kritisieren und die fordern, eine echte Demokratie müsse errichtet werden. Vier der kleineren Oppositionsparteien, die nicht zur Pro-Regierungsmehrheit gehören, hatten beschlossen, an der Abstimmung über die Verfassungsrevision nicht teilzunehmen.
Unter ihnen gibt es Politiker wie die früheren Präsidentschaftskandidaten Mouloud Hamrouche und Ali Benflis, die beide einst als Gegenkandidaten gegen Bouteflika aufgetreten waren: Benflis kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen von 2014. Hamrouche war 1998 Kandidat, doch trat er noch vor dem Wahltermin zurück, weil klar wurde, dass die damaligen Militärführer den Ausgang der Wahlen bestimmten. Beide und mit ihnen viele Algerier sind der Ansicht, dass in allen Wahlen das Ergebnis zugunsten Bouteflikas gefälscht wurde. So auch bei der jüngsten Wahl von 2014. Damals trat der kranke Staatschef nur wenige Male im Rollstuhl öffentlich auf, erhielt aber dennoch 81,4 Prozent der Stimmen.
Demokratie oder Untergang
Mouloud Hamrouch war Ministerpräsident unter General Chadli Benjedid, als dieser ab 1989 versuchte, eine echte Demokratie in Algerien einzuführen. Er trat dann mit seinem Präsidenten zurück, als die Armee 1991 eingriff und den zweiten Wahlgang für das Parlament abbrach, weil sie fürchtete, dass der FIS (Front Islamique du Salut) den Sieg davontragen werde. Daraufhin begann der algerische Bürgerkrieg. Hamrouche fordert bis heute "echte Demokratie". "Algerien", so sagt er, "wird ein demokratischer Staat werden, oder Algerien wird nicht überleben".
Ali Benflis ist Jurist, war Richter und Justizminister zur Zeit der Reformversuche Benjedids, als Hamrouche Ministerpräsident war. Er ist auch Mitbegründer der algerischen Menschrechtskommission. Benflis sagt: "Präsident Bouteflika hat mit Gewalt eine Verfassungsreform durchgedrückt, die ihm eine extreme Konzentration der Macht verschafft. Doch nun, wo der Präsident wegen seines Gesundheitszustands nicht regieren kann, ist die Macht in die Hände von ausserkonstitutionellen Kräften geraten. Dazu gehören Klienten des Regimes, Verwandte des Präsidenten und Leute mit schmutzigem Geld."
Abbau von Subventionen und Sozialleistungen
Abgesehen von der völlig offenen Frage, wie sich die Nachfolge des kranken Präsidenten Bouteflika gestalten wird, steht Algerien vor einer unsicheren Zukunft. Wegen des sinkenden Erdölpreises werden die Einkommen aus dem Erdöl halbiert. Deshalb wird der Staat in den kommenden Jahren sehr viel Geld einsparen müssen. Algerien lebt vor allem vom Erdöl und vom Erdgas.
Jetzt müssen Subventionen und Sozialleistungen abgebaut werden. Die Jugendarbeitslosigkeit ist schon heute erschreckend hoch. Zudem hat die Agitation der Islamisten nie wirklich aufgehört. Diese Agitation ist viel radikaler als zur Zeit des demokratiewilligen Front Islamique du Salut (FIS).