„Thérèse rêvant“ (1938) hat den Weg vom Metropolitan Museum of Art in New York nach Riehen gefunden. In New York unterschrieben 10’000 Leute eine Petition mit massiven Vorwürfen gegen dieses Gemälde. „Thérèse rêvant“ ist zum berühmtesten Bild von Balthus – Conte Balthasar Kolossowski de Rola, wie er sich dandyhaft nannte – avanciert. Und steht für den Skandal. Bereits 1934 stellte Balthus in der Pariser Galerie Pierre mehrere Werke aus, in denen er bewusst den Skandal suchte – mit „La Leçon de Guitare“ zum Beispiel. Dieses Bild ist in Basel nicht zu sehen. Es fehlte auch 1983/84 in Paris, in der grossen Balthus-Ausstellung im Centre Pompidou. Man kennt dieses frühe Schlüsselwerk von Balthus aber von Abbildungen: Die Lehrerin greift der quer über ihren Beinen liegenden Schülerin, deren Unterkörper nackt ist, zwischen die Beine, als spiele sie auf dieser lebendigen Gitarre.
„Thérèse rêvant“: Das vielleicht 12- oder 14-jährige Mädchen lehnt sich im Stuhl zurück, verschränkt die Arme über dem Kopf. Ein Bein ist angewinkelt, sodass der rote Rock über die gespreizten Schenkel rutscht und den Blick freigibt auf das weisse Höschen. Die Lichtführung zielt genau auf diese sensible Stelle. Zu Füssen des Mädchens schleckt eine Katze Milch aus dem Teller. Die Wangen der Kind-Frau sind gerötet. Die Erotik der Darstellung ist offensichtlich, Proteste sind verständlich, wenn auch zu hinterfragen: Balthus zeigt das in sich versunkene, von schwülem Licht wie übergossen dasitzende Mädchen als Objekt der Lust, aber er zeigt ebenso das erotische Erwachen an der Schwelle zwischen Kind und Frau. Und entstanden ist ein Bild von der ausserordentlichen malerischen Qualität eines Altmeisters.
Grenzüberschreitungen?
Damit, dass man, wie manche fordern, das Bild wegsperrt, wäre niemandem geholfen. Im Gegenteil: Zensur würde, wie stets, allenfalls damit verbundene Probleme verdrängen, statt sie zu lösen. Das gilt auch von „La Leçon de Guitare“: Dieses Bild handelt – unter anderem, denn da geht es auch um mancherlei kunsthistorische Reminiszenzen bis hin zur Pietà – vom Thema sexueller Macht- und Gewaltausübung und ist von brennender Aktualität. Überschreitet Balthus hier Grenzen?
Sicher brach er in den 1930er Jahren gleich mehrfach Tabus. Tabubrüche können schmerzen, aber auch heilsam sein. Balthus tut in diesen Bildern im Grund nur das, was schon seit je, neben anderem, Gegenstand der Kunst war und ist: Er lässt erotische Wünsche und Begierden, aber auch Ängste und Alpträume Bild werden. Und er zieht uns, indem er unseren Blick lenkt und uns zum Voyeur werden lässt, unerbittlich in diesen Strudel hinein. Balthus zeigt eine Realität, die es auszuhalten und der es sich zu stellen gilt. Sich ihr entziehen? Wegsehen? Das ist, da diese Kunst auf höchstem Niveau argumentiert, nur schwer möglich.
Rätselbilder
„Thérèse rêvant“ ist nicht das einzige derartige Werk in der Ausstellung in Riehen, doch die anderen sind meist „gemässigter“. Geheimnisvoll und doppelbödig sind sie, bei aller Klarheit der Komposition, allemal. In „Les Beaux Jours“ (1944–46) liegt das Mädchen in einem Sessel und betrachtet sich in einem Spiegel, der, wie viele Spiegel in diesem Oeuvre, die Selbstversunkenheit des Mädchens unterstreicht, aber in der perspektivischen Verkürzung auch als Phallus-Zitat durchgehen mag. Rechts entfacht ein kauernder Mann ein Kamin-Feuer: Die Glut der erotischen Empfindung? Enigmatisch ist auch das dunkeltonig-düstere Bild „Le Poisson rouge“ (1948): Auf dem Tisch steht ein Glasgefäss mit Goldfisch, von einem Kind, dessen Kopf kaum über die Tischkante reicht, sehnsüchtig bestaunt. Auf einem Stuhl sitzt, wie häufig auf den Bildern des „Roi des chats“, wie er sich in einem Selbstporträt nennt, eine Katze mit fratzenhaftem Gesicht.
Virtuose Malerei
Der Hinweis auf „Le Poisson rouge“ ist wichtig, denn Balthus schuf hier mit knappem Pinselstrich und virtuos ins Dunkel gesetzten Lichtern eine faszinierende Stillleben-Situation. Das Motiv findet sich in vielen Bildern, oft bescheiden und wie zufällig an den Rand gerückt.
Diese Details (im Bild: Detail von Porträt de Mrs. Paul Cooley. 1937. Öl auf Leinwand. Privatsammlung) verdienen Beachtung, denn da zeigt sich Balthus’ altmeisterliches malerisches Können, das sich der Autodidakt in intensivem Studium vor allem der Frührenaissance-Malerei, Piero della Francescas und Masaccios zum Beispiel, aber auch Nicolas Poussins erworben hat. Dieses Können zeigt sich auch in seinen ruhigen Mädchen-Akten der späten 1940er und 1950er Jahre mit ihrem fast betörend sinnlich gemalten Inkarnat, aber auch in manchen Landschaften – zum Beispiel in „Paysage de Champrovent“ (1941–1943): Auf einer sonnenbeschienenen Fläche liegt ein Mädchen in hellblauem Kleid und mit Strohhut. Dahinter weitet sich eine in ihrer Staffelung virtuos komponierte Hügel- und Berg-Landschaft, und in der Ferne ragt eine tiefblaue Gebirgskette in den Himmel.
Man sollte sich dem Werk von Balthus in Riehen in Ruhe stellen, sofern das beim hier üblichen Publikumsandrang überhaupt möglich ist, und auch auf die Details achten. Dann wird sich zeigen: Das hintergründige Werk lässt sich nicht auf die lauten Skandale reduzieren. Balthus’ Kunst bietet mehr.
Die Ausstellung vereinigt 40 Werke, entstanden zwischen 1928 und 1994, keine Zeichnungen, sondern lediglich Ölmalereien. Kuratiert wurde sie von Raphaël Bouvier und Michiko Kono.
Balthus. Fondation Beyeler, Riehen. www.fondationbeyeler.ch
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Balthus
1908 wird Balthasar Klossowski in Paris als Sohn des polnischen Kunsthistorikers und einer deutschen jüdischen Malerin geboren. 1916 ziehen er und sein Bruder Pierre Klossowski mit der Mutter nach Bern und Genf. Die Mutter wird zur intimen Freundin Rainer Maria Rilkes. 1924 Niederlassung in Paris. 1934 erste Ausstellung. 1937 Heirat mit Antoinette de Wattenwil aus Bern. 1940 Umzug nach Savoyen, 1942 nach Bern, Freiburg, Genf. Ab 1946 lebt Balthus in Paris, ab 1953 in einem Schloss im Burgund. 1961 wird er Direktor der Académie de France à Rome in der Villa Medici. 1962 Bekanntschaft mit der 19-jährigen Japanerin Setsuko Ideta, die er 1967 heiratet. 1977 bezieht die Familie das Grand Chalet in Rossinière (Pays d’Enhaut, Waadt). 2001 stirbt Balthus.