Auf den Strassen und Plätzen von Moskau ist wenig zu sehen, dass in Russland am 18. März Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Von einem wirklichen Wahlkampf kann keine Rede sein. Denn schon heute steht fest. Der neue Präsident wird der alte sein: Wladimir Putin.
Im überfüllten Saal des riesigen, aus der Sowjetzeit stammenden Moskauer Hotels Cosmos herrscht eine erwartungsvolle Stimmung. Hier hält der russische Präsidentschaftskandidat Grigory Jawlinky eine Wählerversammlung ab. Jawlinsky, ein im demokratischen Lager verankerter Wirtschaftsexperte, hat für seine Anhänger eine klare Botschaft: „Russlands Wirtschaft befindet sich in einem schlechten Zustand. Wenn wir nichts ändern, wird die Armut in unserem Land stark zunehmen. Es wird Aufstände geben.“
Jawlinsky wendet sich an die jungen Wähler
Viele seiner älteren Anhänger erinnern sich, wie Jawlinsky in den 90er Jahren als Gegner der sogenannten „Schocktherapie“ auftrat. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand in Russland ein von den USA unterstützter Wild-West-Kapitalismus, der die russische Gesellschaft spaltete. In Russland entstand eine kleine, extrem reiche Minderheit. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung stürzte als Folge der „Schocktherapie“ in bittere Armut.
Unter Jawlinskys Zuhörern befinden sich auch zahlreiche junge Wähler, die zum ersten Mal an Wahlen teilnehmen. Jawlinsky wendet sich in seinem Parteiprogramm „Weg in die Zukunft“ ausdrücklich an diese jungen Wähler, für welche die Ereignisse in den 90er Jahren bereits Geschichte sind. Er verspricht, die soziale Spaltung der Bevölkerung zu überwinden, die bei Umfragen regelmässig an erster Stelle steht.
Warum nimmt der Demokrat Grigory Jawlinsky überhaupt an den Präsidentschaftswahlen teil, die von etlichen Kremlkritikern als reine Propaganda-Show Putins empfunden wird?
Zum vierten Mal Präsidentschaftskandidat
Jawlinsky hat insgesamt dreimal an russischen Präsidentschaftswahlen teilgenommen. 1996 präsentierte er sich als eine Alternative zu Jelzins Politik, der für die „Schocktherapie“ verantwortlich war. 2000 trat Jawlinsky als einziger demokratischer Kandidat gegen Putin an und rangierte mit 5,8 Prozent der Stimmen an dritter Stelle hinter Putin sowie dem kommunistischen Kandidaten Gennady Sjuganow. 2012 weigerte sich die Wahlkommission, Jawlinskys Kandidatur zu akzeptieren. 20 Prozent der für die Wahlbeteiligung notwendigen Unterschriften wurden als ungültig erklärt. Jaswlinsky kritisierte den Urnengang von 2012 mehrmals als „Wahlfälschung“.
Auch am 18. März dürfte Jawlinsky wiederum nur wenige Prozent der Stimmen erhalten. Demokratisch gesinnte Wahlexperten sind aber überzeugt, dass Jawlinskys Teilnahme an den Wahlen ein wichtiges politisches Zeichen setzt. Die bekannte russische Journalistin Nadia Azhgikhina unterstützt Jawlinsky im Wahlkampf. „Auch wenn an den Wahlen vieles zu kritisieren ist“, erklärt sie im Gespräch, „Jawlinsky bestätigt damit die Wichtigkeit von Wahlen als Institution und lehnt die rein populistische Forderung ab, die Wahlen zu boykottieren.“
Nawalny – ein „autoritärer Populist, aber mutig“
Zum Boykott der Wahlen aufgerufen hat der im Westen bekannte Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. Er hatte seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im Dezember 2016 angekündigt. Die zentrale Wahlkommission Russlands hatte aber Nawalnys Kandidatur für nicht zulässig erklärt und begründete dies mit der Verurteilung Nawalnys zu einer Bewährungsstrafe. Im Oktober 2017 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Nawalnys Verurteilung als „rechtswidrig“ erklärt.
„Wenn es in Russland freie und faire Wahlen gäbe, könnte Nawalny bis zu 40 Prozent der Stimmen erhalten und damit Putins Wahl gefährden“, meint Tatjana Woroscheikina, eine Politologin, die den Demokraten nahe steht. Andere Quellen sprechen von rund 30 Prozent. Bei der Bürgermeisterwahl in Moskau im September 2013, so erinnert Woroscheikina, erzielte Nawalny 27 Prozent der Stimmen. Seither gilt er als unbestrittener Anführer der Anti-Putin-Opposition.
„Ja, Nawalny ist ein autoritärer Populist. Aber er ist mutig und riskiert sein Leben“, glaubt Woroscheikina. Für die an einer Moskauer Hochschule lehrende Politologin sind die Präsidentschaftswahlen eine Falle: „Wenn wir wählen gehen, erhöhen wir damit die für den Kreml wichtige Wahlbeteiligung. Wenn wir nicht wählen gehen, helfen wir wiederum Putin. Der Kremlchef ist in jedem Fall der Sieger.“
Grudinin – das neue Gesicht der Kommunisten
Ein neues Gesicht ins Rennen um die Macht im Kreml schickt die grösste Oppositionspartei des Landes, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF). Anstatt den altgedienten Gennady Sjuganow, der seit 1996 für die Kommunisten viermal angetreten war und immer den zweiten Platz erreichte, hat die KPRF überraschend den bisher unbekannten Landwirtschaftsexperten Pawel Grudinin zu ihrem Kandidaten ernannt.
Grudinin ist Direktor der Erdbeer-Farm Lenin, die den Titel einer Sowchose trägt aber nach streng kapitalistischen Regeln bewirtschaftet wird. Bis 2010 war Grudinin Mitglied der Regierungspartei „Einiges Russland“. Er war nie Mitglied der KPRF. Bei einer Meinungsumfrage Mitte Januar war Grudinin etwa doppelt so beliebt wie Sjuganow und erreichte landesweit eine Zustimmungsrate von rund acht Prozent. Bei den Präsidentschaftswahlen dürfte Grudinins Wähleranteil höher ausfallen. Die Stammwählerschaft der Kommunisten umfasst rund 15 Prozent.
Grudinin kritisiert den „Oligarchen-Kapitalismus“ und scheut sich auch nicht, Putin direkt anzugreifen. Auch Grudinin selber musste sich Kritik gefallen lassen. Zu reden gaben seine Bankkonten im Westen, darunter auch in der Schweiz. Präsidentschaftskandidaten ist der Besitz von Vermögen im Ausland untersagt.
Grudinin rechtfertigte sich, die Konten seien eingerichtet worden, um Familienmitgliedern Spitalaufenthalte im Ausland zu finanzieren. Der schlechte Zustand des russischen Gesundheitswesens habe das erfordert. Aber das werde sich ändern, wenn er Präsident sei. Mit den neuen Tönen versucht Grudinin, auch die jüngere Generation anzusprechen, die in den vergangenen Jahren ihre Bereitschaft zu Protesten gezeigt hat.
Xenia Sobtschak – Herausforderin oder Alibi-Figur?
Ein neues Gesicht unter den Präsidentschaftskandidaten ist auch Xenia Sobtschak, die Tochter von Putins ehemaligem Chef im St. Petersburger Rathaus. Sobtschak wurde berühmt als Fernsehmoderatorin. Im Wahlkampf kritisiert sie die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim. Das sind unerhörte Töne für eine russische Präsidentschaftskandidatin, die im Gegensatz zu Nawalny an den Wahlen teilnehmen darf.
Die umstrittene Kandidatur Sobtschak, so glauben mehrere Quellen, sei vom Kreml zugelassen worden, um eine höhere Wahlbeteiligung zu erreichen. Im Volk jedoch wird Sobtschak als mondäne Dame gehasst. Es zirkulieren viele Videos, in denen Sobtschak angeblich ihr wahres Gesicht zeige.
Ist Putin nicht zu ersetzen?
Auf einem der wenigen Wahlplakate, die in Moskau zu sehen sind, ist zu lesen: „Unser Land. Unser Präsident. Unsere Wahl.“ Das ist die Botschaft des Kremls: Es gibt keinen Kandidaten, der Putin ersetzen kann. Damit sollen sich auch Putins Gegner abfinden. Putins grösstes Problem ist aber er selbst. Die Wirtschaft stagniert, die Reallöhne sinken seit Jahren. Alles, was Putin den Wählern verspricht, hat er schon oft versprochen – angemessene Löhne und Renten, bessere Gesundheitsversorgung und die Lösung aus der Abhängigkeit von Öl und Gas. Aber wenn ihm in 18 Jahren an der Macht nicht gelungen ist, diese Versprechen umzusetzen, wie sollte das jetzt mit einem Mal gelingen ?
Für den auch im Westen bekannten Soziologen Boris Kagarlitzky ist die zentrale Frage die Wahlbeteiligung. Er selber werde an den Wahlen nicht teilnehmen. Kagarlitzky ist überzeugt, nicht die Wahlresultate würden gefälscht sondern die Wahlbeteiligung. Der Soziologe kritisiert Alexei Nawalny, der das Protestthema besetze, aber auf konkrete Fragen keine Antworten habe. Zum Beispiel: „Nawalny hat aufgerufen, die Oligarchen zu bestrafen er vermeidet aber, über die Enteignung ihres Eigentums zu sprechen. Nawalny provoziert nur Diskussionen, hat aber keine politische Strategie.“ Laut seriösen amerikanischen Quellen werden die Wahlkampfkassen von Nawalny und anderen Putin-Gegnern auch von Washington finanziert.
Wichtig ist für Kagarlitzky, was nach den Wahlen passiert. „Die wirtschaftliche Situation dürfte sich verschlechtern. Der Lebensstandard sinkt, aber er ist immer noch besser als in den 90er Jahren. Offiziell hat Putin weiterhin eine Popularitätsrate von rund 80 Prozent, die er der patriotischen Stimmung nach der Annexion der Krim zu verdanken hat. Der Krim-Effekt ist heute aber verpufft.“ In Wirklichkeit sei Putins Popularität unter 50 Prozent gefallen. Diese Angaben stammen gemäss Angaben Kagarlitzkys aus einer undichten Stelle des Kremls.
Die Fabel von der Krähe
Gespräche mit Politologen, Wahlexperten und Politikern zeigen immer nur eine Seite. Was aber denkt der sogenannte russische Durchschnittsbürger? Zum Beispiel Nikolai, ein Fachmann, der auf dem Gebiet der Umweltschutzkontrolle arbeitet. 60 Prozent der Kunden seines Unternehmens, so berichtet Nikolai, seien vom Staat finanziert. 2016 seien während Monaten die Löhne verzögert ausbezahlt worden. Seither habe sich die Situation jedoch wieder verbessert.
Der Umweltschutzexperte beendet das Gespräch mit einer in der russischen Bevölkerung beliebten Fabel: „Eine Krähe sitzt auf einem Baum und hält ein Stück Käse im Schnabel. Ein Fuchs kommt und fragt den Vogel: ‚Gehst Du zu den Wahlen?‘ ‚Nein‘, antwortet die Krähe. Das Stück Käse fällt zu Boden und der Fuchs macht sich mit der Beute zufrieden aus dem Staub. Die Krähe sitzt zerknirscht da und überlegt: ‚Was wäre geschehen, wenn ich Ja gesagt hätte?‘“