Am 17. September bombardierten amerikanische und alliierte Kampfflugzeuge Stellungen der syrischen Armee in der Nähe des Flughafens der Stadt Deir az-Zor am Euphrat und töteten mindestens 62 syrische Soldaten. Möglicherweise waren es sogar mehr, gegen 100.
Mehr als ein Fehlgriff
Die Syrer standen in Positionen auf dem sogenannten Tharbeh Hügel, von denen aus sie den Flughafen dominieren. Der IS stand ihnen in niedriger gelegenen Stellungen gegenüber. Der Flughafen ist für die syrische Armee nichts weniger als eine Überlebensfrage. Denn sie ist in Teilen der Stadt Deir az-Zor und dem Flughafen vom IS eingekreist und belagert. Es gibt für sie nur eine einzige Verbindung zur Aussenwelt: den Flughafen. Deshalb versuchte der IS seit Wochen, den Flughafen einzunehmen. Die syrische Armee verfügt über vier unterirdisch verbundene Abwehrpositionen.
Als die Führung der russischen Luftwaffe von dem amerikanischen Angriff auf die syrische Armee erfuhr, kontaktierte sie die Amerikaner und machte ihnen klar, dass sie die syrische Armee und nicht, wie sie geglaubt hatten, den IS bombardiert hatten. Die Amerikaner stellten ihre Angriffe sofort ein. Doch der Schlag, den die syrische Armee erlitten hatte, bewirkte, dass der IS syrische Positionen über dem Flughafen vorübergehend besetzen konnte. Die syrische Armee ging später zu einem Gegenangriff über und trieb den IS zurück.
Die erste Reaktion der amerikanischen Armeesprecher bestand in der Ausflucht, es müsse ein Irrtum vorgelegen haben. Sie seien sicher gewesen, den IS zu bombardieren, nicht die syrische Armee, und erst durch den russischen Hinweis sei der Fehler erkannt worden. Doch Damaskus beschuldigte die Amerikaner, den IS gegen die syrische Armee unterstützt zu haben, und die Propaganda von Damaskus fügte gleich hinzu, das täten die Amerikaner heimlich „seit langem“.
„Operative Zusammenarbeit mit Russland“
Der 17. September war der letzte Tag eines einwöchigen Waffenstillstandes, den die Aussenminister Kerry und Lawrow vereinbart hatten. Der von ihnen geschlossene Vertrag, dessen genauer Wortlaut nie veröffentlicht wurde, sah vor, dass, falls der Waffenstillstand eine Woche lang halten sollte, eine „operative Zusammenarbeit“ der russischen und der amerikanischen Luftwaffen gegen den IS und die frühere al-Nusra-Front, heute Syrische Eroberungs-Front, beginne. Dies war ein Vorschlag, den die Russen seit langer Zeit vorgelegt hatten und der ihnen offenbar wichtig war.
Während der sieben Tage des Waffenstillstands hätten nach dem Vertrag die Zufahrten nach Aleppo für humanitäre Hilfe für die dortige Zivilbevölkerung geöffnet werden sollen. Doch die Zufahrtsstrasse blieb geschlossen. Die Erklärungen, warum sie geschlossen blieb, divergierten. Die syrische Armee und die Widerstandskämpfer von Ostaleppo hätten nach der Übereinkunft die Zufahrtsstrasse räumen sollen, doch die beiden beschuldigten sich gegenseitig, dies nicht getan zu haben. Deshalb sei jeder von ihnen in seinen Stellungen nahe an der Durchgangsstrasse geblieben oder nach anfänglicher Räumung in sie zurückgekehrt.
Angriff auf den Hilfskonvoy der Uno
Nach den Schlägen auf die syrischen Truppen in Deir az-Zor erklärte die empörte Regierung von Damaskus, der Waffenstillstand sei zu Ende, und am 20. September wurde ein Geleitzug der Uno mit Hilfsmaterial für die syrischen Aufständischen aus der Luft angegriffen. Das geschah, als das Material in einem Rotkreuz-Depot in Urum al-Kubra ausserhalb Aleppos, im Hoheitsgebiet des Widerstandes, ausgeladen werden sollte. Da die Stadt selbst nicht zugänglich war, sollte das Material offenbar möglichst nahe bei der Stadt gelagert werden. Die Lastwagen waren mit Erlaubnis der syrischen Regierung unterwegs. Bei dem Luftangriff wurden 18 Lastwagen zerstört und 20 Chauffeure und Hilfskräfte des syrischen Roten Kreuzes verloren ihr Leben.
Ob die bombardierenden Kampfflugzeuge russisch oder syrisch waren, ist umstritten. Die Russen erklärten, es habe sich überhaupt nicht um einen Luftangriff gehandelt, sondern um einen Artillerieüberfall oder um Sabotage und Provokation, womit sie jedenfalls nichts zu tun gehabt hätten. Jedenfalls wurde der Waffenstillstand aufgrund dieser beiden Angriffe – zuerst in Deir az-Zor und dann in der Nähe von Aleppo – endgültig beendet. Damit war auch die vorgesehene russisch-amerikanische Zusammenarbeit gegen den IS begraben.
Peinliche Details
Der Luftangriff von Deir az-Zor wurde Gegenstand einer Untersuchung seitens verantwortlicher Offiziere, nicht nur der Amerikaner, sondern auch von Verbündeten, die an dem Angriff beteiligt waren, dem Vernehmen nach Engländer, Dänen und Australier. Man kann vermuten, dass dieser Umstand dazu beitrug, dass die Resultate der Untersuchung nicht einfach verschwiegen wurden, sondern nach internen Diskussionen, die Wochen in Anspruch nahmen, dieser Tage teilweise an die Öffentlichkeit gelangten. Sie waren schwerwiegend. Die bekannt gegebenen Einzelheiten machen es wahrscheinlich, wenn nicht sogar sicher, dass die Bombardierung von Deir az-Zor alles andere als ein Irrtum war.
Drei irreguläre Vorgänge
So wurde enthüllt, dass die Amerikaner den Russen mitgeteilt hatten, sie beabsichtigten, den IS bei Deir az-Zor zu bombardieren, wie dies routinemässig geschieht, um zu vermeiden, dass die beiden Luftwaffen über Syrien zusammenstossen. Doch die Amerikaner gaben den Russen Koordinaten an, die 20 und 7 Kilometer von den Punkten entfernt waren, die tatsächlich bombardiert wurden.
Es scheint auch zwei unterschiedliche Karten gegeben zu haben, die über den Standort der syrischen Truppen und ihres Gegners, des IS, Aufschluss gaben. Die eine basierend auf Luftbeobachtungen, in denen die syrischen Soldaten aufgrund ihrer Kleidung – fälschlich – als IS-Kämpfer identifiziert waren. Die andere jedoch aufgrund der Geheiminformationen, über die die Amerikaner verfügten. Diese zweite Karte identifizierte korrekt die Soldaten und Stellungen des Angriffsziels als Armeeangehörige. Die zweite Karte scheint beim Entschluss, zuzuschlagen, ignoriert worden zu sein. Der Bombardierungsbefehl sei aufgrund dessen gegeben worden, „was wir sehen wollten, nicht aufgrund dessen, was wir wussten“, wie sich der Offizier ausdrückte, der die Presse informierte.
Drittens wurde der Angriffsbefehl, der aufgrund der normalen Vorgänge nach genauerer Prüfung hätte erfolgen müssen, als ein operativ dringender Befehl („dynamic targeting“) über den zuständigen Oberkommandanten erteilt. Die hohen Offiziere, die die Operation beaufsichtigten, befanden sich im US Luftwaffenhauptquartier von Katar.
Die Bedenken der Offiziere
Es ist aufgrund von früheren Berichten bekannt, dass das Pentagon unter seinem Chef, Austin Carter, sich gegen den Plan einer operativen Zusammenarbeit mit den Russen zur Bekämpfung des IS ausgesprochen hatte. – Die gegenwärtig bestehende Zusammenarbeit ist „informativ“, nicht „operativ“.
Doch Kerry sprach sich dafür aus und Präsident Obama stimmte Kerry zu. Kerry hoffte, eine russisch-amerikanische Zusammenarbeit könne zu einem Ende des Krieges führen. Die Absetzung Asads ist für Kerry nicht unbedingt notwendig. Er ist der Meinung, dass Asad aufgrund seines Verhaltens gegenüber dem syrischen Volk früher oder später sowieso abtritt, selbst wenn die Amerikaner diese Forderung – auch nach einer feststehenden Übergangsperiode – nicht durchsetzen können.
Die Offiziere des Pentagons waren der Ansicht, die geplante operative Zusammenarbeit mit den Russen sei gefährlich, weil diese dadurch an geheime Informationen kämen – nicht nur in Bezug auf Syrien, sondern auch wegen anderer Reibungspunkte wie der Ukraine oder Nordkorea. Der Oberkommandant der Luftwaffe hatte daher in einer öffentlichen Presserklärung am 13. September gesagt, es sei noch zu früh, über die geplante operative Koordination mit den Russen zu sprechen. Die genauen Bedingungen dafür müssten noch ausgearbeitet werden. „Wir werden nicht sofort dort hineinspringen.“
Ein Wendepunkt für Aleppo
Die Andeutungen dessen, was nun über die Einzelheiten des Bombardierungsbefehls bekannt gegeben wurden, sprechen dafür, dass die Luftwaffe den Angriff mit dem Ziel durchführte, die geplante Zusammenarbeit mit den Russen zu verhindern. Der spätere Schlag gegen den UN-Konvoi wäre wohl als eine syrische Quittung für die Verluste durch die Amerikaner zu werten, und die heute sichtbare Entschlossenheit von Russen und Syrern, Aleppo militärisch zu erobern, koste es an zivilen Opfern, was es wolle, dürfte ebenfalls mit dem damaligen Fehlschlag der Hoffnungen auf Zusammenarbeit mit den Amerikanern gegen den IS und die Syrische Eroberungs-Front zusammenhängen.
Der Vorfall ist von besonderem Interesse, weil der kommende Präsident Trump nach wie vor behauptet, er wolle mit Russland „kooperieren“. Ob und inwieweit er das dann verwirklichen wird, bleibt natürlich offen. Ein Faktor dabei ist aber, dass die amerikanischen Militärs – mindestens bisher – sichtlich wenig von einer solchen Zusammenarbeit halten.