Medienscheu ist er, Interviews gibt er grundsätzlich nicht, aber die Musiker lieben ihn. Und die Berliner Philharmoniker haben den Russen zu ihrem neuen Chef gewählt, als Nachfolger von Simon Rattle. Man wird neugierig auf diesen Kirill Petrenko, 45, und möchte ein bisschen mehr über ihn erfahren und wie er so ist.
Zurzeit ist er noch Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Er spielt in der obersten Liga und gehört zur internationalen Spitze. München, Bayreuth, Wien, New York, Berlin sind seine Spielstätten. Und jetzt: Götzis.
Götzis? Ein Städtchen mit nicht einmal 12‘000 Einwohnern im Kreis Feldkirch in Vorarlberg. Provinz. Zu sehen gibt es nicht viel. Aber: Kirill Petrenko tritt hier auf.
An diesem grauen und etwas kühlen Karsamstag sind Musikliebhaber nach Götzis in die «Kulturbühne AmBach» gepilgert, um dabei zu sein, wenn Kirill Petrenko mit dem Symphonieorchester Vorarlberg Mahlers Fünfte Sinfonie spielt. Es ist die Generalprobe für die beiden Konzerte an den Ostertagen in Feldkirch und Bregenz. Erstaunlich. Michael Löbl, der Geschäftsführer der Kulturbühne, steht am Eingang und freut sich. Ein Superstar in Götzis – das gibt es nicht alle Tage.
Anhänglichkeit zu Vorarlberg
Warum aber kommt Petrenko ausgerechnet nach Vorarlberg? Aus Anhänglichkeit. Geboren und aufgewachsen ist er in Omsk, Sibirien. Sein Vater war Musiker und ist 1990 nach Vorarlberg übersiedelt. Sohn Kirill der bereits in Omsk musikalisch ausgebildet worden war, besuchte das Konservatorium in Feldkirch, anschliessend die Musikuniversität in Wien. Nach seinem Abschluss wurde er gleich an die Wiener Volksoper engagiert. Von da an ging’s bergauf und Kirill Petrenko war plötzlich in der grossen Welt zuhause. Wobei: zuhause ist er eigentlich nirgends. In der Musik am ehesten. Und halt doch ein bisschen in Vorarlberg, am Bodensee, wo die Mutter lebte. Das sagte er in einem der ganz seltenen Interview-Gespräche, auf das er sich vor fünf Jahren ausnahmsweise einmal mit einem Musiker der Berliner Philharmoniker eingelassen hatte. Ansonsten verweigert er sich Journalisten. «Reden bringt nichts und kostet nur Zeit», ist sein Motto. Zeit, die er lieber ins Notenstudium investiert.
«9x9» steht auf dem Programmzettel. Neun Mahler-Sinfonien in neun Jahren, soll das heissen. «Das war Kirills Idee», sagt Michael Löbl. «An einem Sonntagnachmittag rief Kirill an, nachdem er im Radio eine Aufnahme des Symphonieorchesters Vorarlberg gehört hatte, und sagte, dieser Klang würde gut zu Mahler passen und schlug einen Mahler-Zyklus vor.» Das war 2008. In der Zwischenzeit hat Petrenko freilich mächtig Karriere gemacht und das mit «9x9», also eine Sinfonie pro Jahr, ist bald einmal aus dem Rhythmus gefallen. Aber das Vorhaben wurde nicht aufgegeben Dieses Jahr ist man bei Nummer fünf angekommen. Mahlers Fünfte, das ist jene Sinfonie, die Luchino Visconti vorschwebte, als er «Tod in Venedig» verfilmte und die sehnsuchtsvollen Mahler-Klänge haben den Film unvergesslich gemacht.
Und wie ist er denn, dieser Kirill Petrenko, der sich den Medien gegenüber so verschlossen gibt? «Er ist ein Getriebener und gleichzeitig ein sehr herzlicher Mensch», sagt Michael Löbl. «Er möchte sich voll auf seine Fähigkeiten konzentrieren. Die Proben plant er sehr exakt, um keine Zeit zu verlieren. Er arbeitet sehr konzentriert. Es gibt keine Ausbrüche und es fällt kein böses Wort. Er hat die Gabe, die Spannung während der Probe aufrecht zu halten. Bei der Probenarbeit ist er knallhart, und im Konzert ‘lässt er den Hund von der Leine’ …»
Höhepunkt des Jahres
Monika Schuhmayer und Markus Ellensohn kennen Petrenko schon seit ihrer gemeinsamen Zeit im Konservatorium Feldkirch. Heute spielen beide im Symphonieorchester Vorarlberg. «Kirill ist immer noch freundschaftlich mit uns verbunden», sagt Konzertmeisterin Monika Schuhmayer. «Das hat fast etwas Familiäres. Natürlich haben wir seine Karriere mitverfolgt. Die Konzerte mit ihm sind für uns immer ein Höhepunkt des Jahres. Er gibt dem Orchester Impulse durch sein Bestreben, technisch und musikalisch einen Höchststand zu erreichen. Er hört jedes Detail heraus.» Markus Ellensohn, ebenfalls Geiger, bestätigt: «Für uns ist Kirill ein Glücksfall. Wir sehen, was wir erreichen können, wenn jemand wie er mit uns arbeitet. Er kann alles klar benennen und es bleibt trotzdem eine freundschaftliche Situation.»
Das Orchester klinge anders, wenn Petrenko es leite, betonen beide. «Die Stücke sind bei ihm nicht ‘abgespielt’, sondern wie neu», sagt Monika Schuhmayer und Markus Ellensohn ergänzt: «Der Klang des Orchesters ist unter ihm sehr geklärt, sehr fokussiert. Kirill sucht Blickkontakt zu jedem, er lenkt einen beim Proben wie an Fäden. Ganz anders im Konzert. Dann lässt er los und gibt den Musikern ihre Freiheit.»
Schon auf dem Konservatorium habe man gemerkt, was in ihm steckt, sagen beide. «Es gibt keinen Ton, über den Kirill nicht Bände sprechen kann», sagt Ellensohn, «er war schon früher ständig mit Partituren unterwegs.» Und welche Lehren können die Musiker aus der Arbeit mit ihm ziehen? «Seine Art steckt an», sagt Monika Schuhmayer. «Dieses unglaublich genaue Lesen der Noten, dieses In-die-Tiefe-Dringen, das ist eine echte Herausforderung. Es ist Schwerstarbeit, Musik so zu spielen, dass sie ganz leicht klingt.»
Einstimmen auf Petrenko
Dann packen beide ihre Instrumente und stimmen sich gemeinsam mit dem Rest des Orchesters ein. Kirill Petrenko, klein und bärtig, ist sportlich unterwegs zur Bühne: Das schwarze Hemd leicht zerknittert, Turnschuhe, unter dem einen Arm die Partitur, in der anderen Hand ein Mineralwasser. Und schon geht’s los mit Fanfaren und schwermütigen Streichern, man taucht sofort ein in Mahlers Klangwelt, lässt sich hinwegtragen mit einem Trauermarsch hin zu Ländlerweisen und Walzerklängen und weiter zum berühmten Adagietto und schliesslich zum mächtigen Schluss.
Das Publikum ist begeistert. Aber Kirill Petrenko hat doch noch dies und das gefunden, was noch besser gemacht werden könnte. Das Publikum wird ganz schnell verabschiedet, das Orchester arbeitet weiter. Es war ja noch kein Konzert, sondern nur die Generalprobe.
Draussen nieselt es ein bisschen, das Publikum macht sich auf den Heimweg, Götzis ist wie ausgestorben an diesem Samstagnachmittag. Dann die Rückfahrt im Zug nach Zürich. Am Walensee ziehen schwere, graue Wolken über die Spitzen der Churfirsten. Das Wasser ist dunkel und bleigrau. Vereinzelte Nebelschwaden liegen über dem See und ein paar Schwäne ziehen unverdrossen ihre Bahn. Im Ohr klingt immer noch Petrenko mit Mahlers Fünfter nach. Der perfekte Soundtrack zu diesen Bildern.