Dieses Buch ist traurig wie eine öde abendliche Landschaft, an deren Horizont nur ein schmaler Lichtstreifen unsichere Hoffnung verheisst. Hauptgestalt ist Pelagea Nilowna Wlassow, die Witwe eines Schlossers, eines üblen Trunkenbolds, der seine Frau viele Jahre lang gequält hat. Die Witwe Wlassow ist eine weichherzige, demütige und tief gläubige Frau, die im Roman meist «Mutter» genannt wird. Damit wird nicht nur ihre Stellung zum Sohn Pawel bezeichnet; sie erscheint gleichzeitig als eine Art Urmutter des Volkes, als jene Identifikationsfigur, die in der russischen Geschichte immer eine wichtige Rolle gespielt hat.
«Mutter» heisst denn auch der schlichte Titel, den der Autor seinem Roman gegeben hat, der zuerst auf Englisch in den Vereinigten Staaten erschien. Ort der Handlung ist ein hässlicher industrieller Vorort am Ende des 19. Jahrhunderts irgendwo in Russland. Das Personal sind arme Fabrikarbeiter, eigentliche Arbeitssklaven, die der schamlosen Ausbeutung durch die Fabrikherren ausgeliefert sind. Pawel Wlassow scheint zuerst dem Beispiel seines unseligen Vaters folgen zu wollen und sich dem Trunk hinzugeben. Dann aber beginnt er Bücher zu lesen, die ihn seine Rolle als Fabrikarbeiter kritisch reflektieren lassen. «Ich lese verbotene Bücher», sagt er zu seiner Mutter, «weil sie die Wahrheit über unser Leben, das Leben der Arbeiter, sagen.»
Revolutionäre Erweckung
Allmählich bildet sich im Hause der Wlassows eine geheimer sozialistischer Lesezirkel von Genossinnen und Genossen, die sich zum Ziel setzen, eine gerechtere Gesellschaft, wenn nötig mit Gewalt, zu begründen. Die Mutter solidarisiert sich mit den jungen Sozialisten, die in ihrer naiven Vorstellung den Jüngern Christi gleichen. «Sie verstand vieles von dem», schreibt der Autor, «was sie über das Leben sagten, fühlte, dass sie wirklich die wahre Quelle des Glücks entdeckt hatten, und war gewohnt, ihren Gedanken beizustimmen.»
Die Witwe Wlassow lernt lesen und hilft mit, politische Flugblätter in die Fabrik einzuschmuggeln. Doch die Gegenmassnahmen von Behörden und Polizei lassen nicht auf sich warten und sind unerbittlich. Hausdurchsuchungen werden vorgenommen, Arbeiter werden verhaftet und gefoltert, Protestkundgebungen werden niedergeschlagen. An der Feier zum Ersten Mai wird die Menge auf Befehl des Gouverneurs von Polizei und Militär auseinandergerieben. Zuletzt steht die Witwe Wlassow mit einem Fetzen roten Fahnentuchs in der Hand auf dem Hauptplatz und sagt: «Unser Herr Christus wäre nicht, wenn nicht Menschen zu seinem Ruhm umgekommen wären.» Ihr Sohn Pawel wird als Rädelsführer mit einer Gruppe seiner Freunde festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Seine Mutter wandert, als Marketenderin und Pilgerin verkleidet, über endlose Landstrassen und verteilt Propagandamaterial an Bauern, die sich in dumpfer Resignation mit ihrem Los abgefunden haben.
Flammende Anklage
Den Höhepunkt des Romans bildet eine Gerichtsszene, der die Witwe Wlassow beiwohnt. Ihr Sohn Pawel hält eine flammende Verteidigungsrede. «Wir sind Sozialisten», ruft er aus, «das heisst, wir sind Feinde des Privateigentums, das die Menschen entzweit, sie gegeneinander rüstet und unversöhnliche Interessengegensätze schafft... Wir sagen: Eine Gesellschaft, die den Menschen nur als Mittel zu ihrer Bereicherung betrachtet, ist menschenwidrig; wir können uns mit ihrer heuchlerischen und lügenhaften Moral nicht aussöhnen. Ihr Zynismus und die Grausamkeit ihres Verhaltens der einzelnen Persönlichkeit gegenüber sind uns verhasst, wir wollen und werden gegen alle Formen physischer und moralischer Knechtung kämpfen, gegen alle Methoden der Zerstückelung des Menschen dem Eigennutz zuliebe.»
Und an die Richter gewendet, fährt Pawel fort: «Sie sind geistig versklavt, wir nur leiblich. Sie können dem Druck der Vorurteile und Gewohnheiten nicht entrinnen, einem Druck, der Sie seelisch getötet hat; uns hindert nichts, innerlich frei zu sein. Das Gift, mit welchem Sie uns vergiften, ist schwächer als das Gegengift, das Sie, ohne es zu wollen, in unser Bewusstsein träufeln.» Den Augenblick der Urteilsverkündung schildert der Autor so: «Der Richter mit dem kranken Gesicht, sein aufgedunsener Kollege und der Staatsanwalt betrachteten aufmerksam die Angeklagten. Hinter den Richtern, über ihre Köpfe hinweg, blickte aus dem Bilde mit gleichgültigem bleichem Gesicht der Zar in roter Uniform, und über sein Gesicht kroch ein Insekt.»
Die Witwe Wlassow bewundert ihren Sohn. «Grosse Gedanken berauschten sie», schreibt der Autor, «sie legte alles in sie hinein, was in ihrem Herzen brannte, alles, was sie durchlebt hatte, und sie presste ihre Gedanken in feste, grosse, helle Wortkristalle.» Pawel Wlassow und seine Genossen werden zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Die Mutter wird geschlagen und festgenommen.
«Der Bittere»
Der Verfasser des Romans «Mutter», Alexej Maximowitsch Pleschkow, der sich Gorki (der Bittere) nannte, stammte aus ärmlichsten Verhältnissen. Seinen Vater kannte er nicht, und seine Mutter verlor er mit neun Jahren. Seine Schulbildung war lückenhaft, sein Russisch nicht ohne Fehler. Nachdem er in verschiedenen Berufen gearbeitet hatte, zog er als Wanderarbeiter durch Russland. Seine Begegnungen mit Arbeitslosen, Vagabunden und Gaunern, mit «gewesenen Menschen», wie Gorki sie nannte, boten den Stoff für die ersten Erzählungen.
Diese Erzählungen machten ihn rasch berühmt, in Russland, aber auch im Ausland. Hier traten einfache und vitale Lohnarbeiter auf, die bisher kaum je Gegenstand einer Literatur gewesen waren, die in Russland hauptsächlich durch Schriftsteller aus der Aristokratie geschaffen worden war. Etwas wie Aufbruchsstimmung ging von diesen Erzählungen aus. Gorki verfasste auch Lyrik. Teile des Gedichts «Das Lied vom Sturmvogel» wurden trotz der allgegenwärtigen Zensur verbreitet; bald nannte man Gorki den «Sturmvogel der Revolution».
Das Drama «Nachtasyl», das im niedrigsten sozialen Milieu der Armen, Verzweifelten und Resignierten spielt, wurde nach der Jahrhundertwende zum Welterfolg. Gerhart Hauptmann, der mit seinen sozialkritischen Stücken «Vor Sonnenaufgang» und «Die Weber» eine ähnliche Pionierrolle übernahm wie Gorki, beglückwünschte den Russen zu seinem Erfolg.
Galionsfigur der Revolution
Immer mehr wurde Gorki zur Galionsfigur des geistigen Widerstandes gegen die zaristische Diktatur. Im Januar 1905 befand sich der Schriftsteller unter den hunderttausend Demonstranten vor dem Petersburger Winterpalais, welche von den Elitetruppen des Zaren beschossen wurden. Dieser «Blutsonntag» war die erste grosse Protestkundgebung der organisierten Arbeiterschaft, das Vorspiel der Revolution, die zwölf Jahre später der Zarenherrschaft ein Ende setzte. Maxim Gorki wurde inhaftiert, aber nach einem Protest europäischer Intellektueller auf Kaution wieder freigelassen.
Die Diktatur und seine eigene Ruhelosigkeit zwangen Maxim Gorki zur Emigration. In den Jahren 1906 bis 1913 weilte er in Finnland, Schweden, in Deutschland, der Schweiz und Frankreich, in Nordamerika und auf Capri.
«Agitation schlimmster Sorte»
«Mutter» gilt unter Kennern der russischen Literatur als eines von Maxim Gorkis schwächsten Werken. Schon die Zeitgenossen äusserten sich skeptisch. «Ich bin sehr enttäuscht», schrieb Rosa Luxemburg, «das ist ein Agitationsroman schlimmster Sorte. Ich finde nicht die Spur echte Kunst.» Und der Marxismus-Theoretiker Georgij Plechanow urteilte: «Der Dichter verteidigt marxistische Ideen, aber das Buch offenbart, dass er Marx überhaupt nicht verstanden hat.»
Gorkis Roman gibt fast ausschliesslich die Gespräche wieder, die unter den jungen Fabrikarbeitern geführt werden, und in denen immer wieder von Freiheit und Gleichheit die Rede ist. Es wird nie klar, ob die Agitatoren eine Vorstellung von Demokratie haben und ob sie bestimmten revolutionären Strömungen nahestehen. Von den gesellschaftlichen Missständen, gegen welche die sie ankämpfen, ist kaum je die Rede. Ein Fabrikant, ein Gouverneur und ein Polizeichef treten kurz auf; aber es fällt kein Wort über die Arbeitsbedingungen in der Fabrik und die Berechtigung der behördlichen Anordnungen. Die Romanfiguren erscheinen als blasse Schemen, aus deren Mund das Pathos ihrer politischen Forderungen hohl klingt.
In der Figur der Mutter Wlassow wird noch am ehesten etwas von des Autors Gestaltungskraft sichtbar. Sie gewinnt als Persönlichkeit plastische Präsenz und ihre naive, innige und beharrliche Teilnahme am Kampf der Jungen wirkt glaubwürdig, auch wenn eine gewisse Sentimentalität nicht immer vermieden wird. Merkwürdig ist die Verbindung, welche im politischen Denken der Mutter die Religiosität mit dem Sozialismus eingeht – das war keineswegs im Sinne des staatlich geförderten Marxismus-Leninismus. Für den heutigen Leser, der nicht belehrt, sondern unterhalten werden will, wirkt Maxim Gorkis sozialpädagogische Absicht wohl am befremdlichsten; sie steht der Wirkung des Kunstwerks entgegen.
Enorme Wirkung
In geistesgeschichtlicher Hinsicht kann die Bedeutung von Maxim Gorkis «Mutter» jedoch nicht hoch genug veranschlagt werden. Der Roman wurde in Millionen von Exemplaren gedruckt, in unzählige Sprachen übersetzt, an unzähligen Schulen gelesen. Er wurde zum Musterbeispiel jenes «Sozialistischen Realismus», der vom kommunistischen Staat bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion gefordert wurde.
Im Moskauer Schriftstellerkongress von 1934, den Gorki als damals bekanntester russischer Schriftsteller eröffnete, wurde der «Sozialistische Realismus» definiert und als allgemein verbindliche künstlerische Doktrin in die Statuten des sowjetischen Schriftstellerbandes aufgenommen. Er habe, hiess es da, die «Hauptmethode der schönen Literatur und Literaturkritik zu sein». Und weiter: «Wahrheitstreue und historische Korrektheit der künstlerischen Darstellung muss mit den Aufgaben der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geistes des Sozialismus verbunden werden.»
In einem Aufsatz erläuterte Gorki seine Literaturtheorie und warnte vor «kleinbürgerlicher Mentalität» und einem Rückfall in den «bürgerlichen Individualismus». In einem Gespräch mit dem Schriftsteller vom Oktober 1932 brachte Stalin seine Forderung an die Kulturschaffenden in eine einprägsame Formulierung: Die Schriftsteller, sagte er, hätten «Ingenieure der menschlichen Seelen» zu sein.
«Urform des russischen Menschen»
Maxim Gorki blieb auch im Alter der Freund des Volkes, dem etwas Anarchisches anhaftete. Stefan Zweig, der ihn besuchte, sah in ihm die «konzentrierte Urform des russischen Menschen». Mit Lenin und Stalin war Gorki persönlich bekannt, und beide faszinierten ihn; doch die Skrupellosigkeit ihres Machtstrebens war ihm fremd. Oft hielt er sich im Ausland auf, aber immer wieder zog es ihn nach Russland zurück. Und immer blieb er tätig, als Autor, Gründer von Zeitschriften, Anwalt der russischen Sprache, Organisator humanitärer Aktionen. Ständig war er von Menschen umgeben, von Schriftstellern, die ihn als ihren Lehrmeister betrachteten, aber auch von der stalinistischen Geheimpolizei, die ihn überwachte.
Die Russische Revolution führte freilich in eine Richtung, die Gorkis Zielvorstellung nicht mehr entsprach. Die Schwingen des «Sturmvogels» ermatteten. Der französische Schriftsteller Romain Rolland, einer der letzten Besucher aus Westeuropa, schrieb: «Ich mag ihn, und er tut mir leid. Er ist sehr einsam, auch wenn er fast nie allein ist! Wenn wir hätten allein sein können, hätte er sicher die Arme um mich gelegt und still und lange geschluchzt.»
Maxim Gorki starb 1936 im Alter von 68 Jahren. Er erlag der Tuberkulose, unter der er ein Leben lang gelitten hatte. Doch beharrlich hält sich das Gerücht, Stalin habe ihn ermorden lassen. Fest steht, dass kurz nach seinem Tod die berüchtigten «Säuberungen» und Schauprozesse einsetzten, in denen sich der Diktator seiner Weggefährten und seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner entledigte. Zu Gorkis Lebzeiten hätte sich Stalin Untaten dieses Ausmasses wohl nicht leisten können.
Maxim Gorkis Roman ist in Russland verschiedentlich verfilmt worden. Bert Brecht hat ihn in ein «Lehrstück» mit vierzehn Szenen umgesetzt, das 1932 in Berlin uraufgeführt wurde. Die Fassung Brechts entstand in Kenntnis der gelungenen Russischen Oktoberrevolution und feiert den Sieg des Sozialismus in eingestreuten Gesängen wie «Lob des Kommunismus» und «Lob des Lernens». Seit dem Kollaps des Sowjetkommunismus wird Brechts Stück seltener gespielt und Gorkis Buch wird seltener gelesen.