«Bürger zweier Welten» ist eine Charakterisierung, die auf manche zutrifft. Gerade die Viten herausragender Leute sind oft gespalten: Sie leben an Epochenübergängen, verkörpern die Spannung zwischen zwei Sphären oder haben die Seiten gewechselt. Jürgen Kaubes Max-Weber-Biographie gewinnt aus diesem Grundmotiv nicht nur äusserst aufschlussreiche Zugänge zum grossen Soziologen Weber und seinem Umfeld, sondern auch persönlich und anekdotisch Erhellendes.
Bei Max Weber (1864 – 1920), dem wohl einflussreichsten Exponenten seiner jungen Wissenschaft, spiegelt die eigene Lebensgeschichte den dramatischen Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Zudem steht er als Person exemplarisch für das untergehende Bürgertum und eine heraufziehende Weltgesellschaft. Wissenschaftsgeschichtlich verkörpert er die klassischen deutschen Gelehrtenzirkel ebenso wie den Aufstieg des modernen, global ausgerichteten Forschens.
Zwischen den Disziplinen und Epochen
Als Spross einer grossbürgerlichen preussischen Akademiker- und Beamtenfamilie studierte Max Weber Juristerei, schlug aber schon mit seiner rechts- und wirtschaftsgeschichtlichen Dissertation den Weg zum Historiker und Ökonomen ein. Er konstatierte einmal, er sei «im Lauf der Zeit ungefähr zu einem Drittel Nationalökonom geworden». Dazu ist immerhin festzustellen, dass seine Lehrstühle an der Freiburger und Heidelberger Universität wirtschaftswissenschaftliche waren und er in diesem Fach nachwirkende Spuren gelegt hat.
Dass Weber schliesslich als Soziologe in die Geschichte einging, liegt in der Konsequenz seines Interesses an gesellschaftlichen Fakten und Machtverhältnissen. Schon seine ökonomischen Fragestellungen waren immer konkret und nicht auf die Bestätigung von Theorien ausgerichtet. Jürgen Kaube schildert Webers Forschungsinteresse und Methodik so:
«Von Beginn seiner Forschungen an beschäftigt Max Weber eine Frage, die Geschichte und Soziologie verbindet: Ob nämlich die gegenwärtige Lage der Gesellschaft nicht am besten durch das Studium jener historischen Prägungen zu erkunden sei, die ihr gerade verloren gehen. Wer Zeuge einer Epochenschwelle sein möchte, heisst das mit anderen Worten, tut gut daran, jeweils ein Bein dies- und jenseits der Schwelle stehen zu haben. Die Industrialisierung, hiess das für Weber, studiert man am besten auf dem Lande.»
Die Frau nicht hinter, sondern neben ihm
Kaube arbeitet in seiner brillant geschriebenen und spannend zu lesenden Weber-Biographie nicht nur den geistigen Werdegang und die wissenschaftliche Entwicklung dieser Schlüsselfigur der Sozial- und Geisteswissenschaften heraus, sondern mit ebensolcher Eindringlichkeit auch das Bild einer faszinierenden und irritierenden Persönlichkeit.
In einem begleitenden Erzählstrang geht Kaube auf Marianne Weber ein, mit der sich Max Weber 1893 verheiratete. Es ist eine eigenartige und sehr berührende Ehegeschichte, die da aufscheint. Max, von Anfang an distanziert, lässt sich heiraten, nicht ohne in einem Brautbrief seine Zukünftige verklausuliert vor seinem Distanzbedürfnis gewarnt zu haben. Dass diese Bindung trotz verkorkstem Beginn und zahlreichen Eskapaden seinerseits nicht nur hält, sondern sich zu einer von Achtung, Zuneigung und Solidarität geprägten Gefährtenbeziehung entwickelt, muss man schon als eine Art Wunder sehen. Kaube nähert sich ihm mit spürbarem Respekt.
Starke Frauen haben Webers Leben geprägt. Das beginnt in zwiespältiger Weise mit der puritanischen Mutter Helene Weber, die sich in einer traditionell-bürgerlichen Frauenrolle opfert und mangels Zuwendung ihres Mannes den ältesten Sohn Max als emotionale Stütze beansprucht. In der Max-Weber-Literatur wird diese Beziehung vielfach analysiert und als Schlüssel für so manches verwendet. Kaube macht sich über die populärpsychologischen Zugriffe lustig und plädiert dafür, die durchaus luziden Selbsteinschätzungen dieses Mannes, der immerhin damit beschäftigt war, einen epochalen Schritt zur Entwicklung der Sozialwissenschaften zu tun, ganz einfach beim Wort zu nehmen statt besserwisserisch zu interpretieren.
Marianne Weber hat ihren Mann immer beim Wort genommen. Sie ist als historische Figur kaum weniger interessant als er. Als Politikerin, Frauenrechtlerin und Rechtshistorikerin ging sie ihren eigenen Weg und war überdies stark genug, nicht nur die ehelichen und ausserehelichen Zumutungen ihres Mannes, sondern auch seine jahrelange tiefe Krise zu ertragen und bei ihm zu bleiben.
Prominent besetzte Nebenrollen: Mina Tobler und Else Jaffé
Zugemutet hat Max seiner Frau unter anderem seine Beziehungen zu zwei weiteren starken Frauen. Mit der Schweizer Pianistin Mina Tobler, 16 Jahre jünger als er, verband ihn nicht nur eine fulminante – von Marianne tolerierte – Romanze. Diese Beziehung brachte auch den Aufbruch in ein neues Gebiet: Mina Tobler gab ihm die Anregungen für musiksoziologische Studien, die er während längerer Zeit mit grossem Engagement betrieb.
Und dann war da Else Jaffé-von Richthofen, einstige Studentin Max Webers, eine der ersten Sozialwissenschafterinnen Deutschlands, umschwärmte Femme fatale und als Fabrikinspektorin schliesslich erste badische Staatsbeamte. Nicht genug, dass sie den auch sonst rivalisierenden Brüdern Max und Alfred Weber zur Geliebten wurde. Auch Marianne erlag ihrer Ausstrahlung und Schönheit, während Max sich über ihr zeitweiliges Ausscheren mit Mina tröstete. Die Konstellation war offenbar derartig eng verstrickt, dass sie schon wieder eine erstaunliche Stabilität gewann. Jedenfalls bildeten die drei Frauen nach Maxens Tod eine im Hause Weber domizilierte Lebens- und Erinnerungsgemeinschaft.
Masslos in jeder Beziehung
Doch zurück zu den Anfängen. Früh zeigte sich Max Webers Hang zur Masslosigkeit. Schon als Junge absolvierte er ein mengen- und anforderungsmässig unglaubliches Lese- und Lernpensum. In einem Brief von 1878 an einen Vetter zählte er die erhaltenen Weihnachtsgeschenke auf, unter anderem: «Da war zuerst ein englischer Shakespeare, von dem ich allerdings vorläufig keinen Gebrauch machen kann, aus Mangel an Kenntnis der englischen Sprache. Da ich ja erst seit einem Vierteljahre englischen Unterricht habe. Indessen denke ich, mir bis Ostern so viele Kenntnisse erworben zu haben, um ihn dann einigermassen verstehen zu können.»
Auch wenn sich der Vierzehnjährige da etwas verschätzt haben mochte, ist die Ambition bezeichnend. Webers Lektürekonsumption und Textproduktion waren zeitlebens absolut phänomenal. Riesige Themen hat er enzyklopädisch beackert, ständig sich neue Wissensgebiete angeeignet, zahllose Reisen unternommen, rastlos publiziert und Reden gehalten, manchmal vor mehreren tausend Zuhörern. Dabei hat er sich dem geselligen Akademikerleben nicht entzogen, auch nicht dem oft exzessiven Konsum von Alkoholika, hat intensive Korrespondenzen geführt, Freundschaften gepflegt – und in der Regel bis zwei oder drei Uhr früh gearbeitet. Ernährt hat er sich typischerweise abends mit einem Pfund rohem Rindfleisch und vier Spiegeleiern.
Nicht zu kurz kamen auch die Feindschaften. Weber war nervös, unbeherrscht, reizbar und streitsüchtig. War schon das akademische Klima generell von Profilierungssucht, Rechthaberei und Unversöhnlichkeit geprägt, so trieb Weber seine Empfindlichkeit und Wut immer wieder auf die Spitze. Nicht umsonst lag der Begriff Satisfaktionsfähigkeit stets in der Luft. Schärfste Demütigung war es, sie einem Widersacher abzusprechen. Von seinem Temperament her hätte Weber sich bei manchem Streit – wie in der Studentenverbindung geübt – mit der blanken Waffe geschlagen. Doch die Zeiten waren halt vorbei. Es blieb bei bösen Briefen.
Physischer Zusammenbruch, wissenschaftlicher Durchbruch
Weber war erst vierunddreissig, als er den bereits erwähnten schweren Zusammenbruch erlitt. Neurasthenie – Nervenschwäche – lautete die damals gängige Diagnose. Heute hiesse sie wahrscheinlich Burnout. Runde fünf Jahre lang kam von ihm nichts mehr. Jedenfalls nicht an die Öffentlichkeit. In der Zurückgezogenheit aber entstand in diesen Jahren die Studie über protestantische Berufsethik und modernen Kapitalismus, der Kern der berühmten «Protestantismusthese». Jürgen Kaube fasst sie wie folgt in eine kurze Form:
«Die reformatorische Theologie (...) hat ihren Anhängern die Möglichkeit verwehrt, durch gute Werke wie Almosen, Gebete oder Abgaben an die Kirche etwas für ihr Seelenheil zu tun. Gottes Entschluss, wen er verdamme oder erlöse, sei völlig unerforschlich. Weil in all dieser Ungewissheit ökonomische Erfolge als Zeichen göttlicher Zuneigung gedeutet wurden, förderte dies als unbeabsichtigte Nebenfolge asketische Einstellungen, einen Berufsfleiss und eine systematische Disziplin der Lebensführung, die zu den Voraussetzungen des Industriekapitalismus gehörten.»
Es war ein längerer Rom-Aufenthalt, bei dem Weber diese Studien begann, die er dann lebenslang überprüft, modifiziert und erweitert hat. Anregungen fand er in der Geschichte der Klöster, in denen er einen Idealtyp methodischer Lebensführung mit entsprechenden ökonomischen Effekten erblickte. Webers Protestantismusthese ist also vom Ursprung und Kerngedanken her keineswegs so platt konfessionell ausgerichtet, wie sie oft rezipiert wird. In der Folge verdeutlichte Weber, dass eine direkte historische Anknüpfung des modernen Kapitalismus nicht beim Protestantismus generell, sondern bei den angelsächsischen Calvinisten, genauer: bei deren puritanischem Zweig feststellbar sei. Das Luthertum kam hingegen nicht in Betracht. Schon wirtschaftshistorisch sprach einiges für die These einer starken Affinität zwischen puritanischem Calvinismus und kapitalistischer Industrialisierung.
Neue Grundlagen für die Sozialwissenschaft
1902 begann die vorsichtige Erholung von der schweren Krise. Weber verbohrte sich in anspruchsvolle Grundlagenforschungen zu sozialwissenschaftlichen Methoden. Weber, der als Wissenschaftler nach der spezifischen Rationalität des Sozialen suchte, betonte die Unterschiede zur Naturwissenschaft: Um aus Bergen von sozialwissenschaftlichen Daten verständliche Aussagen zu gewinnen, dürfe man nicht auf monokausale Erklärungen setzen, sondern es seien vielfache Kausalitäten zu beachten. Nicht «Gesetze» erklärten die Dinge, sondern soziale Tatsachen seien als solche bedeutungshaltig. Ihre Bedeutung hätten historische Fakten nicht aufgrund von Gesetzmässigkeiten, sondern wegen ihrer jeweiligen Besonderheit. Max Weber schreibt dazu: «Für die exakte Naturwissenschaft sind die ‚Gesetze’ um so wichtiger und wertvoller, je allgemeiner sie sind; für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmässig auch die wertlosesten.»
Weber fragt weniger, was die historischen Akteure tun, sondern was sie sagen, lesen, glauben, kurz: Es geht um Mentalitäten. Für ihn zählt in der weiteren Entwicklung der Protestantismusthese nicht eine verallgemeinerte Sicht von Kapitalismus oder Unternehmertum, sondern die manifeste Bereitschaft zum Konkurrenzkampf, zu der sich die entsprechende Mentalität im Sinn einer Lebenshaltung realer Personen konkretisiert.
Diskussionen um die Protestantismusthese
Solche Motive und Triebkräfte findet Weber 1905 bei den Puritanern. In harter Arbeit sehen sie die wahre Askese, die gerade deshalb nie konsequent genug gelebt werden kann, weil das Urteil Gottes zwar schon gefällt ist (Präsdestination), aber unbekannt bleibt. Jürgen Kaube konstatiert: «Erst wenn man nicht mehr kann, ist der Gottesdienst zu Ende – jener Gottesdienst, der für die Puritaner das ganze Leben ist, weil sie fürchten, was danach kommt.»
Webers These hat Schwächen in der Beschreibung des Puritanismus und der Charakterisierung von Unternehmertypen wie auch des Kapitalismus insgesamt. Die von ihm vermuteten Kausalitäten sind nicht durchwegs schlüssig und nicht immer differenziert genug. Ein bis heute nicht abreissender Strom wissenschaftlicher Debatten hat – so zumindest der gegenwärtige Stand – diverse Mängel der Protestantismusthese zutage gefördert. Doch eigentlich, so meint Kaube, sei es Weber mehr um eine Deutung der Moderne gegangen, die nicht einseitig auf deren Ursprünge in der Aufklärung abstellt, sondern auch deren Wurzeln im calvinistischen Protestantismus beachtet.
Vertiefung und Ausweitung
Bei solchen Fragestellungen profitierte Weber von der engen Zusammenarbeit – und Freundschaft – mit dem liberalen Theologen und Kulturphilosophen – und Hausgenossen – Ernst Troeltsch. Beide sahen im Puritanismus ein Ideal der republikanisch-demokratischen Bürgerlichkeit, das sie dem allzu obrigkeitsfrommen Luthertum entgegenstellen. Im engen fachlichen Austausch entwickelten sie eine sozialwissenschaftliche Sicht religiöser Institutionen und Gemeinschaften. Die so entstandenen Denkmodelle sind bis heute wissenschaftlich fruchtbar.
In Heidelberg konzentrierte sich um die Jahrhundertwende eine fächerübergreifende Religionsforschung. Weber nahm rege teil an diesem Austausch. Sein religionsgeschichtliches Interesse schloss an die Protestantismus-Kapitalismus-Forschungen an und erweiterte diese. In grossen Studien untersuchte er mit enormer Arbeitskraft die Wirtschaftsethiken im Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus und antiken Judentum. Eine geplante Studie über das Christentum mit seinen drei Hauptkonfessionen – Katholizismus, Orthodoxie, Protestantismus – vermochte er nicht mehr auszuführen.
Weber erkannte als abendländische Besonderheit eine «rationale» Ausprägung des Religiösen, mit der die magischen Vorstellungen älterer Religionsformen «entzaubert» worden seien. «Entzauberung» wurde zu einem Schlüsselbegriff, der Webers multiperspektivisches Verständnis von Rationalität für das weite Feld des Religiösen veranschaulichte. Der Kapitalismus war nun in Webers religionssoziologischem Denken nur noch ein historisches Beispiel dafür, wie verschiedenartige Rationalitäten die Gesellschaft formen und modernisieren.
Enorme Wirkung bis heute
Max Webers Werk und dessen Nachwirkung sind Phänomene ganz eigener Art. Er, der zu Lebzeiten nur zwei Bücher publizierte, hinterliess ein enormes Konvolut von Aufsätzen, Artikeln, Reden, Vorlesungen, Konzepten, Entwürfen, Briefen. Die im Gang befindliche Gesamtausgabe ist ein Riesenprojekt mit über fünfzig Bänden.
Die Auseinandersetzung mit Webers Werk begann in den USA, wo der Soziologe Talcott Parsons ihn recht eigentlich zum Klassiker des Faches machte. Als solcher wurde er nach 1945 nach Deutschland re-importiert, und seither hat die Intensität der Weber-Forschung und Weber-Diskussion eigentlich nur ständig zugenommen.
Jürgen Kaubes Biographie hat das Verdienst, mit profunder Kenntnis dieser akademischen Max-Weber-Welt das Dickicht der Spezialistendiskurse zu lichten und die Sicht auf Person und Werk freizulegen. Er tut dies mit journalistischer Prägnanz und feuilletonistischer Eleganz. Ein Lesegenuss und eine intellektuelle Bereicherung der Sonderklasse!
Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Rowohlt, Berlin 2014, 495 S.