Trockenmauern gibt es nicht nur in England, aber sie sind wohl nirgends so auffällig wie hier. Sie zeugen von einem ungeheuren Fleiss und sie gestalten die Landschaft weitflächig. Die Erbauer bleiben anonym, und gleichwohl sind Trockenmauern Meisterwerke der Baukunst.
2018 wurde der Trockenmauerbau – das Schichten von Bruchsteinen ohne Mörtel – in die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Allerdings betrifft dies lediglich Werke in Kroatien, Zypern, Griechenland, Italien, Slowenien, Spanien, Frankreich, in der Schweiz und seit 2021 auch in Österreich.
Sonderbarerweise fehlen Irland und England, wo es Trockenmauern ohne Ende gibt. Alleine in Yorkshire, einem Gebiet, das viermal kleiner als die Schweiz ist, schätzt man die Gesamtlänge aller Trockenmauern auf rund 8000 Kilometer. Wer beispielsweise wandernd unterwegs ist, staunt über die Linienführung solcher Mauern. Jeder Weg, jede Strasse scheint auf beiden Seiten eingefasst zu sein, und teilweise entdeckt man sie an steilen Hängen, die zu Fuss kaum zu bewältigen sind.
Neugestaltung der Landschaft
Man geht davon aus, dass schon vor 3500 Jahren Trockenmauern gebaut wurden, von denen es auf den Orkney-Inseln, im Dartmoor und in Cornwall noch Reste gibt. Seit dem 15. Jahrhundert expandierte die Landwirtschaft; die Landbevölkerung konsolidierte ihren den Heidelandschaften abgerungenen Besitz mit der Errichtung einfacher Trockenmauern.
Die meisten der heute erhaltenen Mauern, die von einem grossen technischen Know-how zeugen und über grosse Distanzen präzise angelegt sind, stammen vorwiegend aus dem 18. und 19. Jahrhundert, nachdem das britische Parlament 1773 ein Gesetz erlassen hatte, das die Eigentumsrechte von Landparzellen neu regelte. Die als «Inclosure Act» bekannte und mehrmals erneuerte Verordnung führte dazu, dass nun systematisch Felder mit Mauern eingefriedet wurden. Das prägt die englische Landschaft bis in die Gegenwart und damit auch das Bild, das Reiseprospekte uns von den britischen Inseln vermitteln. Von erhöhten Warten aus betrachtet, erscheinen die Geländekammern als bis ins Detail strukturierte Areale, die zudem unterschiedlich grün gefärbt sind.
Es ist für Aussenstehende ein Rätsel, wie es die damalige Bevölkerung schaffte, ein solch zusammenhängendes Netz von Abgrenzungen zu flechten. Man war gewiss auf Spezialisten angewiesen, die von Grossgrundbesitzern mit der Errichtung von Trockenmauern beauftragt wurden. Die Stabilität der Mauern wird dadurch erreicht, dass der Mauerquerschnitt als Dreieck ausgelegt ist und somit am Boden die grösste Dicke besitzt. Während die Quader meistens flach aufeinandergelegt werden, besteht die Mauerkrone aus aufgestellten Blöcken. Vermutlich holte man die Rohlinge aus den Feldern und bearbeitete sie. Doch das dürfte kaum gereicht haben, sodass lokale Steinbrüche genutzt wurden.
Heute würde man sich mit Zäunen begnügen. Der Erhalt von Trockenmauern ist mit grossem Aufwand verbunden, und doch wird alles versucht, dieses wertvolle Kulturerbe zu erhalten. Die Mauern schufen ein eigenes Ökosystem, das für Insekten und Vögel, aber auch für spezielle Pflanzenarten bedeutend ist. 1968 wurde die «Dry Stone Walling Association» gegründet mit dem Ziel, einerseits die bestehenden Mauern zu erneuern, andererseits aber auch neue zu bauen. Hierfür werden Kurse angeboten, in denen die Technik von Grund auf erlernt werden kann.
Der Hadrianswall – die ultimative Mauer
Für alle, die von Trockenmauern fasziniert sind, stellt der Hadrianswall das Highlight dar. Lediglich sechs Jahre, von 122 bis 128 nach Christus, dauerte die Errichtung der von Kaiser Hadrian angeordneten Befestigungsanlage, die zwischen Newcastle und Solway Firth angelegt wurde. Sie diente dem Schutz vor den Angriffen schottischer Stämme, aber auch der Kontrolle des Handels an dieser Peripherie des Römischen Reiches.
Die Ausmasse sind gewaltig: 177 Kilometer lang, bis zu 4,5 Meter hoch und 2 Meter breit, bestückt mit 320 Türmen und rund 100 Kastellen. Obwohl der Wall insbesondere ab dem 18. Jahrhundert als Quadersteinlager entdeckt wurde, von dem man sich grosszügig für Haus- und Strassenbau bediente, ist insbesondere im mittleren Bereich noch genug übriggeblieben, um sich ein Bild vom ursprünglichen Zustand zu machen.
Nur mit minutiöser Planung war es möglich, ein solches Bauwerk in derart kurzer Zeit zu realisieren. Verschiedene Arbeitsbrigaden arbeiteten gleichzeitig an verschiedenen Sektoren. Die Quader wurden aus Steinbrüchen bezogen und von Hand bearbeitet. Bei der Linienwahl wurden markante Geländekanten ausgewählt, die, teilweise nach Norden steil abfallend, einen zusätzlichen Schutz gewährten. Der Wall wurde zudem durch ein System von Strassen und Gräben ergänzt, die heute nur noch ansatzweise zu erkennen sind.
Mauern erwandern
In England bestehen zahlreiche Fernwanderwege, von denen der Pennine Way und der Hadrian’s Wall Path die besten Möglichkeiten anbieten, die Trockenmauern in Yorkshire und den Hadrianswall aus nächster Nähe zu erleben. Zusätzlich schreiben lokale Organisationen Tageswanderungen aus, die Trockenmauern zum Thema haben. Es ist eine reizvolle Möglichkeit, den Blick auf besondere architektonische Ausdrucksformen zu erweitern.
Alle Fotos: © Fabrizio Brentini