Zehn Männer schauen sie an, Palästinenser mit schwarzen Augen, Schauspieler. Sie stehen auf der Bühne im grossen Theater von Gaza-Stadt.
„Erfindet eine Geschichte“, sagt die junge Frau, „und tanzt mir die Geschichte vor“. Die Männer stecken die Köpfe zusammen. Bald beginnen sie zu tanzen.
Die Geschichte geht so: Zwei Männer streiten sich, sie kommen sich näher, dann versöhnen sie sich. „Diese Leute wollen nur eins: Frieden“, sagt Mirjam Sutter, die Tanzlehrerin. „Ich war ergriffen von dieser spontanen Aufführung“.
Spione im Theater
Das war vor zwei Jahren. Am Sonntag ist die 38-jährige Zürcherin erneut nach Gaza gereist. Und wieder unterrichtet sie im grossen Theater. Geplant ist diesmal ein Stück über das hoffnungslose Leben. Alles wird zerstört, alles muss neu aufgebaut werden, alles beginnt wieder von vorn.
„Das Theater ist wie eine sichere Insel in der verwüsteten Stadt“, sagt Mirjam Sutter. „Ich will keine Politik machen, ich will keine Friedensarbeit leisten. Ich will Tanzunterricht geben“.
Wenn eine Christin im Gaza-Streifen das Tanzen lehrt, zuckt mancher Hamas-Mann zusammen. "Ich muss diesen Leuten zeigen, dass der Tanz, den ich hier lehre eine Kunst ist. Er hat nichts mit dem zu tun, was muslimische Fanatiker westliche Dekadenz nennen". Trotzdem wird sie wohl im Theater von Hamas-Spionen beobachtet.
Fusion von zeigenössischem und orientalischem Tanz
Mirjam Sutter hatte als Ballett-Tänzlehrerin begonnen. Dann liess sie sich in Genua drei Jahre lang im zeitgenössischen Tanz ausbilden. Später kam eine siebenjährige Ausbildung in orientalischem Tanz dazu. Ein ägyptischer Tanzlehrer hatte sie unterrichtet. Jetzt verschmelzt Mirjam die beiden Stilrichtungen: den zeitgenössischen mit dem orientalischen Tanz. Längst ist sie selbst Tanzlehrerin, sie experimentiert, sie geht auf Tournee, sie spielt in Tanzfilmen – und sie hat sich einen Namen geschaffen.
Der orientalische Tanz war es, der sie 2004 erstmals in die palästinensische Welt zog. Es war die Zeit der zweiten Intifada. „Schon bei der Einreise nach Israel musste man beweisen, dass man eine gläubige Pilgerin ist“, erzählt sie. „Ich gab eine jämmerliche Pilgerin ab, doch man liess mich einreisen“.
Die drohende Mauer
Der Anblick der Mauer war ein Schock für sie. Sie sprach mit Palästinensern, deren Familien plötzlich zerrissen waren. Sie sah Kinder, die am Fusse der Mauer spielten. „Ich wollte diese Mauer unbedingt berühren, Mauern sind etwas Schreckliches.“
2007 verarbeitete sie ihre Eindrücke in einem abendfüllenden Tanzstück. Es wurde drei Mal in der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) aufgeführt - vor prallvollem Saal. Als Kulisse wurde eine Styropor-Mauer aufgebaut. Mit ihrem Solo-Tanz versuchte Mirjam Sutter das Leben eines Mädchens im Schatten der Mauer aufzuzeigen. „Was kann eine Mauer mit einem Kinderleben anstellen?“ Das Mädchen wird älter und wird zur Frau – ständig konfrontiert mit der drohenden Mauer. Wie kann man diese Mauer in einem Leben integrieren?
Am Schluss des Stücks wird die Mauer vor das Publikum geschoben. Sie trennt dann den Zuschauerraum von der Bühne. Hinter der Mauer hört man den Lärm spielender Kinder.
„… wo ich mit Worten nicht mehr hinkomme“
„Es ist unmöglich, die Kinder von diesem Konflikt auszuschliessen“, erzählt uns Mirjam Sutter. „Sie kriegen alles mit. Sie sind mitten drin. Sie wissen, ich werde nie die Zukunft haben, die ich mir wünsche. Sie strotzen vor Energie, einige werden zu Steinwerfern.“ Die Aufführung in Zürich war ein voller Erfolg. Die Stadt Zürich beteiligte sich mit einem Unkostenbeitrag.
„Mit dem Tanz kann man ausdrücken, was mit Worten nicht mehr ausdrücken kann. Mit dem Tanz komme ich dorthin, wo ich mit Worten nicht mehr hinkomme. Ich kann Dinge im Menschen berühren, die ich mit Worten nicht abrufen kann.“
„Ich wurde nie belästigt“
Mirjam Stutter gab 2011 selbst Unterricht: im al Harah-Theater in Bethlehem und in Ramallah. Sie unterrichtet sowohl Männer als auch Frauen. Die Teilnehmer waren begeistert und luden sie erneut ein. Vor allem für Männer sei der Tanz eine Passion, sagt Mirjam Sutter. „Männer sind in Palästina starke Tänzer, Frauen weniger“.
Auf dem Kairoer Tahrir-Platz waren während des ägyptischen Aufstandes christliche Journalistinnen von Muslims sexuell belästigt worden. Was hat Mirjam Sutter erlebt? „Ich wurde nie, weder in Gaza, noch in Bethlehem, noch in Ramallah im Geringsten bedrängt. Die Männer traten mir stolz entgegen – immer korrekt, mit viel Respekt“.
„Frauen stecken immer zurück“
„In Gaza war ich sehr nervös. Hier treten Frauen und Männer getrennt auf“. Der Unterschied ist gross. Frauen machen sich energetisch klein. „Sie nehmen beim Tanz keinen Raum ein“. Der Grund ist wohl ein kultureller. „Die Frau steckt in dieser Gesellschaft immer zurück, sie gibt immer nach.“
Männer hingegen seien stark. „Sie legen sich ins Zeug. Sie müssen nicht wachsen. Sie stehen wie Felsen in der Brandung. Plötzlich werde „ihre sanfte Seite“ bemerkbar. „Der Körper kann nicht lügen“.
Wie die Männer mit den schwarzen Augen
Sechzehn Tage bleibt Mirjam Sutter jetzt in Gaza und in der Westbank. In Gaza lebt sie im ältesten Hotel der Stadt, dem Marna House. Nach der Arbeit im Theater fährt sie mit dem Taxi hierher. Ans Ausgehen ist nicht zu denken. „Am Abend sitze ich im Hotel, schreibe an meinem Blog und bereite den nächsten Tag vor“.
Die Sicherheitsbeamten am Flughafen von Tel Aviv stehen nicht gerade im Ruf, zur charmantesten Menschengattung zu gehören. Vor zwei Jahren erlebte Mirjam Sutter etwas Anderes. Bei ihrer Ausreise am Flughafen Ben Gurion wurde sie von einer jungen Sicherheitsbeamtin befragt. „Was, Sie sind Tänzerin!“, erklärte die Beamtin begeistert. „Ich würde auch gerne tanzen. Es gibt so wenig hier, auf das wir uns freuen können.“
Auch die Beamtin träumt nur von einem – wie die Männer mit den schwarzen Augen im Theater von Gaza: vom Frieden.