Die Chinesen werden in Car-Ladungen hinaufgeschafft zur Talstation der Diavolezza. Oben auf der Bergstation – auf 3000 Meter Höhe - spuckt die Gondel im Halbstundentakt Chinesen-Gruppen aus. Sie strömen auf die Terrasse des Bergrestaurants, und da trifft sie der Schlag. Es ist ein Schock. Ein Licht-Schock.
Der Dreiergipfel des Piz Palü mit seinen hängenden Gletscherbrocken steht riesig und frisch verschneit im gleissenden Sonnenlicht. Ein wenig Himalaya-Feeling kommt auf. Die weisse Pracht ist für die Augen unerträglich ohne stark verdunkelnde Sonnenbrille. Soviel Neuschnee im Hochsommer, einen Tag vor dem 1. Juli. Die Chinesen und Chinesinnen sind ausgerüstet mit Digitalkameras und Sonnenhüten mit Sturmband am Kinn. Sie fotografieren die Bella Vista, den Piz Bernina und den Felsensporn Cresta Guzza. Aber vor allem den Piz Palü.
Er ist eben ein legendärer Berg, der Piz Palü. Den meisten chinesischen Allround-Touristen vielleicht nicht so bekannt wie das Matterhorn oder der Mont Blanc. Aber diejenigen, die ihren Graubünden-Guide dabei haben, wissen: Den Piz Palü muss man gesehen haben. „Dreiklang in Fels und Eis“ nennt der Bergautor Daniel Anker den 3900 Meter hohen Eisriesen mit seinen drei Pfeilern. Der Berg verdankt sein Renommé aber nicht nur seiner Schönheit, sondern am Anfang vor allem einem Film.
Die weisse Hölle vom Piz Palü
Arnold Fanck, der legendäre Bergfilmpionier der zwanziger und dreissiger Jahre, drehte den Stummfilm “Die weisse Hölle vom Piz Palü“. Ein alpines Melodram mit Leni Riefenstahl in der weiblichen Hauptrolle. Die Dreharbeiten fanden von Januar bis Juni 1929 im Berninamassiv statt. Der Film kam im Herbst 1929 in Österreich und Deutschland in die Kinos. In den ersten vier Wochen nach der Premiere wurde er von mehr als hunderttausend Menschen im Berliner UFA-Palast gesehen. 1930 erschien die englische Version als Tonfilm mit dem Titel „The White Hell of Piz Palü“. Der Film machte nicht nur den Palü, sondern die gesamte Bernina-Gruppe und den Morteratsch-Gletscher weltberühmt.
Das Umwerfende dabei war weniger der Film-Plot als das Making of, in diesem Fall die handwerkliche Schwerstarbeit, die es möglich machte, dass ein solcher Film entstehen konnten. Die Dreharbeiten selbst waren eine alpinistische Spitzenleistung, eine Materialschlacht in Eis und Schnee, wie sie unter den damaligen Verhältnissen nur ein Bergsteiger und Regisseur von der Besessenheit und Zähigkeit eines Arnold Fanck zustande bringen konnte.
Noch gab es keine Gondelbahn , das gesamte Material wurde zu Fuss auf die Diavolezza-Hütte und dann auf den Gletscher geschafft. Das Film-Team musste Wochen lang Tag für Tag mit Ski und Fellen zu den Drehplätzen aufsteigen. Die Szenen in Eisabbrüchen und Gletscherspalten wurden eins zu eins vor Ort gedreht.
Leni Riefenstahl hatte Angst
„Er hätte vieles mit Puppen machen können oder mit Doubles, aber wir mussten alles selber machen“, erinnerte sich Leni Riefenstahl Jahre später: „Bei den Totalaufnahmen haben wir nicht mit Kunstlicht gedreht, nur mit Sonne. Und das bedeutete, dass wir eben an manchen Tagen überhaupt nicht arbeiten konnten, weil Schneesturm war und keine Sonne. Und wenn Sonne war, dann nur in der Früh, wenn sie tief stand oder am Nachmittag, damit für Fanck das Eis richtig glitzerte.“
Arnold Fanck kannte auch bei Eiseskälte und Sturm kein Erbarmen mit der Crew. In seinen Memoiren beschreibt er die Arbeit des Kamerateams bei einer Aufnahme im Schneesturm am Piz Palü:
„Zwei Mann mussten auf dem Boden zusammengekauert das Stativ halten. Aber der Kameramann musste aufrecht stehen, was nur dadurch möglich war, dass er das Stativ selbst als Stütze umklammerte und so seinen vergeblichen Kampf begann, mit dem Sturm im Gesicht wenigstens die Scharfeinstellung nachzukontrollieren. Aber die paar Sekunden, die er dazu brauchte, genügten schon, das Objektiv zuzuwehen. Also rasch das Objektiv auswechseln. Aber im selben Moment, in dem der Objektivkoffer geöffnet wurde, war er auch schon zugeweht.“
Fanck war Perfektionist. Er liess durch Sprengungen Eis-Lawinen auslösen und über die Schauspieler niedergehen, er leitete Bäche um, um Felswände zu benetzen, damit sich nachts Eis bildete. Er liess den legendären Gletscherpiloten Ernst Udet halsbrecherische Einsätze fliegen. Sie habe manchmal vor Angst geschrieen, erinnert sich die Riefenstahl: „Aber wir waren doch irgendwie ein kleines begeistertes Team. Und so haben wir alles auf uns genommen, ohne es so unmittelbar negativ zu empfinden. Aber manchmal war es schon sehr hart.“ .“ (Stefan König u.a.: 100 Jahre Bergfilm. München 2001)
Prozessionen am Piz Palü
Seitdem sind mehr als 80 Jahre vergangen, gefühlsmässig ein ganzes Jahrhundert. Aus der Diavolezza-Hütte ist ein grosses Hotel mit mehreren Restaurant-Abteilungen geworden, bequem mit der Seilbahn erreichbar. Heute kann man auf 3000 Meter Höhe die Gletscherkulisse in Kombination mit zartem Hirsch-Bresaola und einem guten Tropfen Veltliner geniessen.
Komfort und hochalpine Kulisse kommen zusammen. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass das Berggasthaus Diavolezza meist ausgebucht ist. Alpinisten aus aller Welt wollen den legendären Piz Palü besteigen. Er ist vermutlich einer der meistbegangenen Gipfel der Schweizer Alpen.
Tagwacht ist für die meisten schon um drei Uhr in der Früh. Dann hört man auf allen Fluren das Gerassel und Geklirre von Eisschrauben, Karabinern und anderem Sicherungsmaterial. Dieser Massenaufbruch in der Dunkelheit hat immer etwas von Stress und Chaos. Wer nicht aufpasst, tritt auf Steigeisen oder anderes scharfkantige Gerät, welches hektische alpinistische Anfänger auf dem Boden liegen lassen. Am Frühstücks-Buffet erscheinen viele schon mit Klettergurt und an der Hüfte baumelnden Eisschrauben, die Stirnlampe am Kopf, den Helm griffbereit. Im Dunkeln sieht man hernach die Lichterketten der Gruppen, die sich auf den Weg zum Gletscher machen. Die meisten machen den Normalaufstieg über den Persgletscher auf die Schulter des Ostgrates und vom Ostgipfel über einen scharfkantigen Schneegrat zum 3900 Meter hohen Hauptgipfel.
Anspruchvollere Kletterrouten führen durch die nordseitigen Pfeiler des Palü. Letzten Sonntag war in diesen Routen niemand zu sehen. Zu viel Neuschnee war in der Nacht gefallen, es wäre zu gefährlich gewesen, sie zu begehen.
Am letzten Steilhang zum Ostgipfel herrschte Massenverkehr wie am Zürcher Hauptbahnhof. Aufsteiger und Absteiger mussten sehen, wie sie einander vorbeikamen. Bei schönem Wetter ist der Normalaufstieg zum Palü eine technisch einfache Tour. Viele warten am Morgen, dass die Bergführer mit ihren Gruppen eine Spur legen. Dann folgt alles dem Trampelpfad durch die Gletscherabbrüche.
Es war ein wolkenloser Tag und der Piz Palü zeigte seine Eismassen strahlend und gastfreundlich. Er liess die Prozession von Alpinisten gutmütig über seine Schulter laufen. Aber es könnte auch anders kommen. Wehe, wenn das Wetter plötzlich umschlüge und Nebel und Schneesturm einsetzen würden. Dann wäre es plötzlich wieder die weisse Hölle am Piz Palü.