Am 17. Dezember, einen Tag nach dem Massaker von 132 Schulkindern in Peshawar, protestierten einige Dutzend Bürger von Islamabad vor der ‚Roten Moschee’ im Zentrum der pakistanischen Hauptstadt. Abdul Aziz, der Imam der Moschee, hatte am Abend zuvor in einer Fernsehendung behauptet, Indien sei für das Massaker in Peshawar verantwortlich. Am 16.Dezember 1971 habe Indien die pakistanische Armee im damaligen Ostpakistan zur Kapitulation gezwungen. Sie habe den 16. Dezember 2014 gewählt, um Pakistan eine erneute Niederlage beizubringen. Die Taliban seien unschuldig.
"Run, Burqa, run!"
Die Demonstranten forderten die Verhaftung des Imams. Die "Rote Moschee" sei eine Terrorfabrik, die Selbstmordtäter wie jene von Peshawar mit ihrer Hassrhetorik indoktriniere. "Run, Burqa, run!" riefen sie dem Imam zu. "Burqa" ist Aziz’ Spottname, weil er im Jahr 2007, als die Armee die Taliban in der Roten Moschee ausräucherte, als verschleierte Frau geflohen war.
Doch statt gegen "Burqa" ging die Polizei gegen die Demonstranten vor und zeigte sie an. Sie erhielt Hilfe von seiten von Madrassa-Studenten, die mit Stöcken bewehrt aus der Moschee angriffen. Es war nur eines der vielen Beispiele, wie tief Pakistan in Selbstverleugnung verstrickt ist, während es langsam aber sicher verblutet. „Es gibt keine guten und schlechten Taliban“, rief Premierminister Nawaz Sharif in Peshawar tapfer aus. „Es gibt nur Terroristen“. Doch auch er vermied es, die Mörderbande beim Namen zu nennen, zu einem Zeitpunkt, als sich die TTP-Taliban bereits zum Attentat bekannt hatten, mit Bildern der Täter im Internet.
Neues Etikett
Vor drei Jahren hatte es die amerikanische Aussenministerin Hillary Clinton drastisch auf den Punkt gebracht: Man kann in seinem Hinterhof nicht Giftschlangen züchten und hoffen, dass sie nur die Nachbarn beissen. Im Fall von Hafiz Saeed, auf dessen Kopf eine Zehn-Millionen-Dollar-Prämie ausgestellt ist, ist es nicht einmal der Hinterhof. Seine "Religionsakademie" in Muridke ausserhalb von Lahore sieht aus wie ein amerikanischer Uni-Campus. Kürzlich wurde ihr vom Staat der Status einer Universität verliehen, mit entsprechenden Zuschüssen.
Saeed musste seinem Reptil, der "Lashkar-e-Toiba", lediglich einen neuen Namen überstülpen, um aus der Terrororganisation eine karitative Vereinigung zu machen. Am Tag nach dem Attentat von Peshawar wurde Saeeds Militärkommandant Zaki Lakhvi gegen Kaution freigelassen, obwohl die Beweislast überwältigend ist, dass er der Fadenzieher im Terrorangriff vom November 2008 in Mumbai war.
Vernichtungsfeldzug gegen das Terrornetzwerk
Dennoch gibt es Anzeichen, dass Pakistan – sprich: die Armee – endlich zu begreifen beginnt, dass seine langjährige Politik, Terrororganisationen für den Kampf gegen Indien zu züchten, eine Selbstmord-Strategie ist. Vielleicht sind die 132 Kinder nicht vergeblich gestorben. Vielleicht ist diese Untat der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. 132 tote Schulkinder sind wahrhaftig mehr als ein Tropfen; aber sie schrumpfen zu einer kleinen Prozentziffer, wenn man die Zahl von Pakistans militärischen Terror-Toten (15'000) und vor allem seiner zivilen Gefallenen (34'000) dagegenhält, die seit dem September 2001 dem islamistischen Terror zum Opfer gefallen sind.
Der neue Oberkommandierende der Armee, General Raheel Sharif (kein Verwandter des Premierministers), führt seit Juni dieses Jahres einen Vernichtungsfeldzug gegen das Terrornetzwerk in Nord-Wasiristan. In Umfang und Brutalität überschattet er alles, was die Armee bisher unternommen hat. Bereits vor seiner Berufung zum Oberkommandierenden hatte Sharif als Chef-Ausbilder der Truppen begonnen, das Training von der monomanischen Fixierung auf Indien zu lösen und dem Anti-Terror-Kampf eine höhere Priorität einzuräumen.
"Feind des Islam"
Dennoch bleibt höchst ungewiss, dass das Kalkül aufgeht. Zum Einen sind die Netzwerke der Taliban grenzübergreifend, und viele ihrer höheren Chargen sind einfach auf Stützpunkte im nahen Afghanistan ausgewichen. Mullah Fazlullah, der Chef der pakistanischen Taliban, operiert aus Nuristan. Es gibt Anzeichen, dass die afghanische Regierung ihm bisher nicht das Handwerk gelegt hat, aus Rache und Frustration dafür, dass Pakistan Mullah Omar, den Chef der afghanischen Taliban aus seinem Hauptquartier im pakistanischen Quetta wirken lässt. Islamabad hielt bislang auch am Haqqani-Netzwerk, seinem wichtigsten ‚strategic asset’ in Afghanistan, fest.
Mit einem neuen Armeechef, und einem neuen Präsidenten in Kabul, sind diese Konstellationen in Bewegung geraten. Nun, da die TTP den pakistanischen Staat zum "Feind des Islam" erklärt hat, ist er plötzlich auf den Nachbarstaat angewiesen, und kann mit diesem nicht mehr wie bisher Katz und Maus spielen. Zwischen Beiden entwickelt sich so etwas wie eine strategische Parität, und dies zwingt Pakistan, ernsthaft Zugeständnisse zu machen.
Der Kampf im Hafen
Aber die versprengten TTP-Kader sind nicht nur nach Afghanistan ausgewichen. Nach 25 Jahren Toleranz und aktiver Beihilfe bietet Pakistan den flüchtigen Gruppen eine Unzahl von Verstecken, um unterzuschlüpfen und sich mit operationell aktiven Zellen kurz zu schliessen.
Noch verhängnisvoller sind die zahlreichen Verbindungen zwischen Terrorgruppen und Armeeangehörigen. Dies erstaunt nicht, wenn man bedenkt, dass islamistische Indoktrination seit 35 Jahren Teil des Armee-Trainings bildet. Dies zeigte sich im September, als es einer Gruppe "Fidayeen" mithilfe von Marine-Angehörigen gelang, sich des Kriegsschiffs "Zulfiqar" zu bemächtigen, mit dem sie Kurs auf Indien nehmen wollten. Während die Medien schwiegen, sahen und hörten die Einwohner Karachis wie im Hafen mit allen Mitteln gekämpft wurde. Es dauerte zwei Tage und Nächte, bis der Spuk zuende war.
35 Jahre religiöser Hass
Wenn sich die Armee endlich eines Besseren besinnt – und das Wenn muss grossgeschrieben werden – wird sie zweifellos von der Zivilgesellschaft Unterstützung erhalten. Aber auch hier darf man sich keiner Illusion hingeben. 35 Jahre einer Politik des Religionshasses, die bis in die Gestaltung des Lehrstoffs für Erstklässler eingeflossen ist, haben tiefe Spuren hinterlassen. Ganz Pakistan ging auf die Strasse, als die Schule in Peshawar zu einer Blutstätte wurde. Aber als zwei Terroristen im September 2013 in der "All Saints"-Kirche in der derselben Stadt kurz nach dem Sonntagsgottesdienst um sich schossen und beinahe 100 Christen tot zurückliessen, blieb Pakistan passiv. Der Staat versprach 200 Millionen Rupien für den Wiederaufbau; die Diözese wartet noch heute auf das Geld.
Auch Politiker müssen sich in Acht nehmen, mögliche Attentäter nicht mit "liberalen" Statements auf sich aufmerksam zu machen. Sie müssen zudem damit rechnen, dass politische Gegner käufliche Jihadisten auf sie ansetzen. Dasselbe gilt für Vertreter der Zivilgesellschaft. Sie wissen nur zu gut, wie leicht es ist, mit dem Vorwurf der "Blasphemie" in das mittelalterliche Räderwerk der Shariat-Gesetzgebung zu geraten.
Umso bemerkenswerter ist daher die Reaktion der Demonstranten, die am Tag nach dem Peshawar-Attentat vor der Roten Moschee protestiert hatten. Trotz Polizeiverbot standen sie am nächsten Tag wieder vor deren Toren, diesmal bereits einige hundert Menschen stark. Statt dass die Polizei aus Routine auf sie einschlug, richtete sie ihre Aufmerksamkeit diesmal auf die Jihadis, die wiederum die Konfrontation suchten.
In der Schwärze der Nacht leuchtet bereits eine Kerze hell auf.