Der Titel „Maschinenzeit“ wirkt altertümlich, als käme er aus fernster Vergangenheit. Dieser erste Eindruck ist gar nicht so falsch. Denn die Phase der Industrialisierung, die Tuggener in seinen Bildern festgehalten hat, ist tatsächlich vergangen. Aber auch der Fotograf selbst war immer irgendwie unzeitgemäss. Als käme er von ganz weit her.
Schrecken und Begeisterung
Das macht die Ausstellung in Winterthur berührend und befremdlich zugleich. Der Betrachter spürt, dass sich die Bilder nicht auf den ersten Blick erschliessen, aber sehr wohl einen zweiten und tieferen Blick verdienen. Da setzte sich ein Fotograf so unmittelbar mit den Maschinen auseinander, dass man nicht weiss, ob er vom Schrecken oder von naiver Begeisterung überwältigt war.
Die Bilder aus der Maschinenfabrik Oerlikon bilden den Schwerpunkt der Ausstellung. Hier hat Tuggener in den 1930er und 1940er Jahren regelmässig fotografiert. Dabei entstanden auch Porträts der Arbeiter und Mitarbeiterinnen. Der Leiter des Unternehmens, Hans Schindler, gab Tuggener wiederholt Aufträge für die Firmenzeitschrift und für Prospekte. Und daneben arbeitete Tuggener an eigenen Büchern, für die er zahlreiche „Maquetten“ anfertigte.
1943 erschien Tuggeners Buch „Fabrik“. Dieses Buch war, wie alles in Tuggeners Leben, kein kommerzieller Erfolg, aber es gilt bis heute als Meilenstein der Fotografie. Neben Gotthard Schuh war Tuggener der erste Schweizer Fotograf, der sich intensiv mit dem Thema der Industrialisierung auseinandersetzte. Auch wenn er am liebsten zurückgezogen und im Verborgenen lebte, war seine Ausstrahlung doch so stark, dass sich sogar Edward Steichen für ihn interessierte, ihn im MoMA zeigte und in die legendäre Ausstellung „The Family of Man“ aufnahm.
Neben den Bildern aus Oerlikon sieht man Fotos von Flugzeugen und Autorennen. Auch hier dasselbe: Begeisterung und Schrecken. Tuggener hat zudem gefilmt. Man kann einiges davon in einem Vorführraum anschauen. Die Frage aber bleibt, wie dieser Fotograf zu deuten ist.
Zerissenheit
Die begleitenden Wandtexte und der Flyer bieten gute Einblicke in das Denken und Wirken Tuggeners, aber das ist zu wenig, um ihm näherzukommen. Der eine oder andere Besucher wird sich an die Ballnächte erinnern, die Tuggener in Zürich und Davos ebenso obsessiv fotografiert hat wie die Technik. Davon ist auch in Begleittexten die Rede. Und man erinnert sich an die Ausstellungen im Kunsthaus Zürich (2000) und in Winterthur (2004/2005).
Maschinen und Schweiss, Seide und Erotik: Faszination und Horror vor dem, was der Mensch mit seiner Technik und erotischen Raffinesse in Gang setzt. Jakob Tuggener war ein Kind seiner Zeit. Zugespitzt kann man ihn mit seinen Maschinen, Rennwagen und Flugzeugen künstlerisch zu den Futuristen rechnen, auf der Suche nach seinem eigenen spirituellen Weg war er ein hoch religiöser Mensch und in seiner Skepsis gegenüber der Zukunft und dem Weg des Mainstream hätte er zur intellektuellen Linken gepasst, wenn er sich denn dafür interessiert hätte.
Die Ausstellung entspricht dieser Vieldeutigkeit, indem sie dem Betrachter weitgehend die Deutungen überlässt. Das ist ein Understatement besonderer Art. Denn der Kurator Martin Gasser hat sich wie kein Zweiter mit Jakob Tuggener beschäftigt. In Princeton schrieb er über ihn seine Doktorarbeit (1996), und im Scalo Verlag erschien der Band „Jakob Tuggener, Fotografien“, für den Gasser den Text geschrieben hat. Akribisch ist Gasser darin den Verästelungen von Tuggeners Leben, aber auch seines Charakters gefolgt. Dieser Text erschliesst die Bilder, die nicht leicht zugänglich sind.
Leider ist dieser Band vergriffen. Mitte Dezember erscheint aber im Göttinger Steidl Verlag ein Konvolut mit Werken Tuggeners. Darin finden sich die legendäre „Fabrik“ von 1943, einige Filme und ein beschreibender Band, zu dem Martin Gasser einen neuen Text beigesteuert hat. Eine besondere Pointe bilden Faksimiles, die von einzelnen „Maquetten“ Tuggeners angefertigt worden sind.
Damit macht der Verlag etwas zugänglich, was über Jahrzehnte die grösste fotografische Leidenschaft Tuggeners war, aber sich praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzog. Wieder und wieder stellte er Fotos für Bücher zusammen, veränderte die Auswahl und die Gruppierung. In der Ausstellung in Winterthur sieht man Spuren dieser Arbeit nicht nur in einzelnen Maquetten in den Vitrinen. Vielmehr fallen die doppelseitigen Bilder auf, die man eigentlich auf einem Blatt erwarten würde. Man hat also den optischen Eindruck, den diese Bilder in einem Buch erzeugen würden.
Die Herstellung der Faksimiles erwies sich für den Steidl Verlag als weitaus aufwendiger als zunächst kalkuliert. Denn die Maquetten liessen sich nicht einfach scannen. Sie wären dadurch bechädigt worden. Also mussten Fotos angefertigt werden, und die erforderten zusätzlich Bearbeitung. Daher erscheint die eigentliche Publikation zur Ausstellung deutlich nach ihrer Eröffnung. Der Kurator Martin Gasser sieht darin auch einen Vorteil: Zunächst können sich die Betrachter ganz auf die Ausstellung konzentrieren, um später dank der Edition bei Steidl den weiteren Spuren Tuggeners zu folgen.
Jakob Tuggener – Maschinenzeit, 21. Oktober 2017 bis 28. Januar 2018, Fotostiftung Schweiz, Winterthur.