Ich werde mich bei meinen Ausführungen bewusst etwas von der aktuellen Entwicklung lösen – weil mir scheint, dass wir alle vielleicht eine Spur zu stark an den gegenwärtigen Problemen in diesem Land und in Europa nagen: An den längst nicht ausgestandenen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise, die immer deutlicher zu einer tiefgreifenden Schuldenkrise wird, an Entlöhnungs- und Boni-Systemen, an Aktienrechtsreform, Staatsquote und Verschuldungskrise, an Wertewandel und Velohelmtragpflicht-Geboten, an kleingeistigem Regulierungswahn bei der Bau- und Zonenordnung - wohl auch hier und nicht nur Seldwyla.
Liberal als Mode-Erscheinung
Und das führt nun fast nahtlos über zum etwas Grundsätzlicheren, über das ich heute hier vor Ihnen sprechen möchte: Die Frage, was eigentlich heute noch liberal ist, und was der Liberalismus im 21. Jahrhundert und angesichts der oben erwähnten Verwerfungen in dieser jüngsten Zeit noch sein soll.
Wir alle sind heute, in diesen Breitengraden, liberal. Liberal zu sein ist gleichsam eine Mode-Erscheinung geworden, weil die Umkehrung des Begriffs – unliberal – negativ besetzt ist und sozial, gesellschaftspolitisch und kulturell gleichsam verwerflich mit Engstirnigkeit, mangelnder Aufgeklärtheit, schalem Fortschrittsglauben verbunden wird. Werden dann auch noch adverbiale Zusätze verwendet – wie etwa wirtschafts-, ordo- oder gar neo-liberal – dann können Sie sicher sein, dass der Begriff im Mehrheitsverständnis gerade in der heutigen Zeit pejorative verstanden wird.
Munter tummeln sich bekanntlich unter dem schillernden Begriff «Liberalismus» Linke wie Rechte, Bürgerliche wie sozialdemokratisch Geeichte, Patrioten wie Euro-Turbos, Aufgeklärte und solche, die es erst noch werden müssen, Internationalisten und Nationalkonservative. Dabei stünde «liberal» für eine Wertequalität, und der Begriff und schon gar nicht der damit verbundene Inhalt darf nicht zum Allerweltsbegriff werden.
Der Ruf nach dem Staat – zur Fürsorge, zur Regelung, zur Bekämpfung allen Übels, als Anstandswauwau und Gouvernante – ist lauter denn je: Rauchverbote sind nur die Spitze des Eisberges; es wird uns doch schon längst subtil auch ein schlechtes Gewissen vermittelt, wenn wir zu viel Rotwein trinken und Cervelat essen. Wir sind potenziell alles Raser, auch wenn die Zahl jener Bussen, die sich knapp über der Toleranzschwelle bewegen, dominiert.
Dazu gehört auch, dass wir für ein Nicht-Problem – den Bau von Minaretten – heute einen Verfassungsartikel haben. Sind das wirklich unsere dringendsten Probleme? Schaffen wir so Aufbruch, Wachstum, sichern wir Wohlstand?
Geschichtliche Durchschlagskraft
Der Liberalismus ist die erfolgreichste, modernste und zugleich eine uralte Staatsphilosophie. Gemeinhin wird von Bildungsbürgern die berühmte Grabrede des Perikles von Athen als erste Quelle des Liberalismus zitiert. Die Rede wurde anlässlich des Begräbnisses der im Krieg gegen Sparta gefallenen Soldaten gehalten. Perikles lobte die Vorzüge der freiheitlichen Demokratie Athens und verurteilte gleichzeitig die autoritär gehandhabte spartanische Aristokratie. Wichtig und seiner Zeit voraus war Perikles vor allem, indem er seinen Zuhörern deutlich zu machen versuchte, wie wichtig es sei, sich für die öffentliche Sache zu engagieren: Seine Grabrede ist der erste bekannte Appell an die Adresse des mündigen und verantwortungsbewussten Staatsbürgers.
Wenn man die Philosophie der politischen Systeme bis ins Jahr 500 v. Chr. zurückverfolgt, wird man feststellen, dass die liberalen Ideen seit Perikles zwar ihren Niederschlag in Büchern und Schriften gefunden haben, dass sie aber in der politischen Praxis noch nie so erfolgreich waren wie in der Neuzeit. Oder umgekehrt: dass es in der Neuzeit keine erfolgreicheren politischen Rezepte gibt als die liberalen.
Während das von Perikles als demokratisch gerühmte Athen den Peloponnesischen Krieg gegen Sparta letztlich verloren hat, hat sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten der Liberalismus in den grossen Auseinandersetzungen um die ideologische Vorherrschaft in Europa durchwegs als siegreich erwiesen, sei es gegen den Nationalismus des 19. Jahrhunderts, gegen den Imperialismus im Ersten sowie gegen Faschismus und Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg, sei es gegen den Kommunismus im Kalten Krieg.
So lautet das Fazit zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass in der ganzen bisherigen Weltgeschichte keine andere politische Idee dieselbe nachhaltige Durchschlagskraft bewiesen hat wie der Liberalismus. Was politische Denker seit Jahrhunderten gelehrt und theoretisch diskutiert haben, ist im Verlauf der letzten zweihundert Jahre in einer kontinuierlich zunehmenden Anzahl Staaten in die Praxis umgesetzt und gegen alle Anfechtungen verteidigt worden: nämlich die der persönlichen Freiheit, die Menschenrechte, die Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht, das Recht auf Eigentum, die Religions-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit.
Es ist freilich unübersehbar, dass gerade in der heutigen Zeit der Liberalismus immer wieder aufs Neue verteidigt werden muss – auch oder gerade gegen Stimmen, die mit Verweis auf die Verteidigung westlicher Werte nach einer Redefinition liberaler Prinzipien rufen und damit dem Staat überbordende Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten zu gewähren bereit sind.
NZZ – Kein Organ des „Brüllradikalismus“
In der Schweiz war der Liberalismus die ausschlaggebende Kraft bei der Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848. Ein Organ des sogenannten „Brüllradikalismus“ war die NZZ indes nicht. In der revolutionären Siedehitze des Meinungskampfes vor 1847, aber oft auch später, musste sie aus den eigenen liberalen Reihen nicht selten den Vorwurf entgegennehmen, sie trete zu wenig forsch auf in der politischen Auseinandersetzung mit den Konservativen, sie schreibe „zu objektiv“ und „denke zu langfristig“.
Die Freisinnigen haben den eidgenössischen Bundesstaat geschaffen und ihn in seiner liberalen und demokratischen Form stets verteidigt. So wurde aus dem hitzigen Kampfblatt des gärenden und sich dann durchsetzenden Liberalismus im 19. Jahrhundert ein Blatt eher bewahrender, gemessen reformerischer Haltung im Laufe des 20. Jahrhunderts. Der Temperamentsunterschied, der sich innerhalb einiger weniger Generationen vollzogen hat, ist offenkundig.
Politik bedarf der kritischen öffentlichen Resonanz und kritischer, unabhängiger Urteilsinstanzen, wenn sie nicht zum gefährlichen Spiel einer „classe politique“ werden soll. Hingegen ist es – zumindest in schweizerischen Verhältnissen – ein abwegiges Vorurteil, dass alle Politik und alle Regierungs- und Amtstätigkeit grundsätzlich und jederzeit unter den Verdacht des Machtmissbrauchs und der Korruption gestellt werden müssten.
Journalismus, der seine Überwachungsaufgabe unter solchem Vorzeichen betreibt, wird sich täglich über eingebildete „Skandale“ heiser schreien, mit „Enthüllungen“ und „Sensationen“ kurzlebige Schlagzeilen machen, aber selten etwas Handfestes zutage fördern, letztlich jedoch dazu beitragen, dass die Optik des Publikums, der Blick auf die Realität verzerrt und die Wahrnehmung der Wirklichkeit verbaut wird.
Der Preis der Freiheit ist die Verantwortung
Damit der Staat im liberalen Sinne funktionieren kann, garantiert er nicht nur Freiheiten und Bürgerrechte, sondern verlangt auch die Wahrnehmung der Bürgerpflichten. Selbstverantwortung des Bürgers, wie der Liberalismus sie proklamiert, entbindet nicht von der Verantwortung für das Ganze, für das Gemeinwesen. Um seine Verantwortung im Staat wahrnehmen zu können, braucht es mündige Bürgerinnen und Bürger. Mündig ist indessen nur, wer urteilen kann. Urteilsfähig ist nur, wer informiert ist.
Der Mensch kann sich nur in Freiheit entfalten. Deshalb ist und bleibt die Freiheit ein zentraler Wert des Liberalismus. Der Preis der Freiheit ist die Verantwortung: Zuerst die Verantwortung für sich selber, das heisst, jeder soll so lange und so weit es ihm möglich ist für sich selbst sorgen. Dann an zweiter Stelle die Verantwortung für die andern, für die Gemeinschaft, die soziale Verantwortung für jene, die ohne eigene Schuld von Hilfe und Unterstützung abhängig sind. Drittens die Verantwortung gegenüber der Umwelt, der Natur und ihren Ressourcen. Und damit, viertens, die Verantwortung gegenüber den Generationen nach uns, die auf diese Ressourcen angewiesen sein werden.
Liberale Haltung und EU-Beitrittsfrage
Die Entfaltung der individuellen Freiheit muss ihre Grenzen dort finden, wo sie die Freiheit der andern beeinträchtigt. Um diese Grenzen festzulegen und ihre Respektierung sicherzustellen, braucht es den Staat und braucht es gesellschaftlich akzeptierte Spielregeln. Der Liberalismus will einen effizienten Staat dort, wo der Staat wirklich unentbehrlich ist, er will aber einen Staat, der vom Volk getragen und kontrolliert wird. Die Liberalen wehren sich gegen die Verteufelung des Staates und der Herabwürdigung seiner Leistungsträger. Aber sie wollen keinen ausufernden Moloch von Staat, der mit Gesetzen und Verboten alle Lebensbereiche beschlägt, der den Anschein erweckt, er sei in der Lage, seinen Bürgern alle noch so kleinen Probleme abzunehmen und zu lösen, der gar die Bürger zu ihrem vermeintlich eigenen Schutz entmündigt und bevormundet.
Der Liberalismus verschliesst sich dabei nicht der Tatsache, dass der Ordnungsrahmen der Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr genügt, um in einer vernetzten Welt schwierigen Problemen wirkungsvoll zu begegnen. Der Liberale wägt ab, ob eine autonome Regelung zum Ziel führt, oder ob die Lösung eines Problems im internationalen Verbund herbeigeführt werden muss.
In der Schweizer Integrationspolitik entspricht es dem liberalen Verständnis, sich weder vorschnell für den EU-Beitritt zu entscheiden noch den „Sonderfall“ und „Alleingang“ zur aussenpolitischen Maxime zu erheben, sondern laufend die Vorteile der Integration (wie die Möglichkeit, an entscheidender Stelle mitzubestimmen) und die Nachteile (wie die Notwendigkeit, Abstriche an der direkten Demokratie und am Föderalismus machen zu müssen) gegeneinander abzuwägen.
Denn, und nun komme ich zum wohl heikelsten und gleichsam umstrittensten Thema der Zeit: Die Wirtschaft ist aus liberaler Sicht kein Gegenspieler von Individuen oder Staat, sondern die andere Seite der gleichen Medaille. Politik und Wirtschaft gehören zusammen, und wenn Sie so wollen, bilden Staatssystem, Gesellschaft, kulturelle Prägung und Tradition unseres abendländischen Werte- und Verständniskanons den beide Seiten umgebenden Rand dieser Medaille.
Nur mit einer gut funktionierenden Marktwirtschaft, in der Wettbewerb gefördert und Leistung belohnt und nicht bestraft wird, können die materiellen Grundlagen bereitgestellt werden, damit sich der Einzelne entfalten und der Staat die von ihm geforderten Leistungen erbringen kann.
Schuldenkrise – eine geschichtliche Zäsur?
Das macht uns in der NZZ auch so skeptisch gegen das, was nun als Medizin gegen die Geschehnisse an den internationalen Finanzmärkten geplant und derzeit in fast schon beängstigend hohem Tempo auch beschlossen wird. Einiges ist richtig – falsch aber ist es definitiv, Ursache und Wirkung nachträglich umzudeuten und sich auf populäre, weil letztlich einfach zu identifizierende Sündenböcke einzuschiessen, statt sehr viel grundsätzlicher über die Gründe von eklatantem Fehlverhalten zu sprechen: Der Übertreibung bei dem, was nachhaltig noch finanzierbar ist. Wer ohne Aussicht auf eine vernünftige Refinanzierbarkeit auf Pump lebt, lebt auf zu hohem Fuss – als Individuum, als Unternehmung, als Land, als Gesellschaft. Wenn es auch kurzfristig notwendig sein kann: Es darf nicht sein, längerfristig Schulden durch noch mehr Schulden tilgen zu wollen.
Ich bin mir dabei nicht sicher, ob das Wort „Schuldenkrise“ für das, was wir heute beobachten, überhaupt richtig gewählt ist. Denn ich fürchte, wir erleben weit mehr als eine Krise; diese kommt und geht, kann überwunden werden. Was aber, wenn wir am Anfang einer echten Zäsur stehen, weil eine sehr fundamentale Infragestellung sehr vieler bisher kaum infrage gestellter Gewissheiten unseres Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses nach einer langen Nachkriegsära in weitgehend stabilen Verhältnissen hier in Europa fehlt?
Ich fürchte daher auch, dass diese Verwerfungen nicht zwei Jahre dauern werden, sondern möglicherweise sehr viel länger – als Phase in Ablösung des bestehenden, bekannten und in vielem lange Zeit bewährten Systems hin zu etwas Neuem, das erst sehr schemenhaft am Horizont sich abzeichnet.
Dieses Neue müsste nach liberaler Lesart heissen, zurückzufinden zu einer Form des Wohlstands, der auf Leistung und durch echte Wertschöpfung getriebenes Wachstum baut, der stärker als es heute noch der Fall ist die individuelle Verantwortung wieder einfordert und gleichzeitig einem überbordenden Gerechtigkeits- und Gleichheitswahn Grenzen setzt, wie er in Europa leider in Reaktion auf die Geschehnisse politisch opportuner wird.
Sträflich vernachlässigte Tugenden
Darum zweifle ich etwa, ob staatlich verordnete Entlöhnungssysteme – bei allem Verständnis, ja durchaus geteiltem moralischen Degoutant gegen Exzesse, wie wir sie in verschiedenen Fällen der jüngeren Vergangenheit erfahren haben – wirklich zum Guten sind. Denn seien wir achtsam darauf, was wir moralisch verurteilen und welche gesetzgeberischen Akte daraus abgeleitet werden sollen: Noch sprechen wir nur über eine kleine, weil auch identifizierbare Klasse von Lohnempfängern – die Topkader grosser, global tätiger Bankinstitute. Bald aber sind die mittleren Bezüge auch im Werkplatz zu hoch, der Neid auf all jene, die deutlich mehr als der Durchschnitt verdienen, nimmt nicht ab bei einer Verschärfung der Entlöhnungspraxis, sondern er nimmt zu.
Dies gesagt, ist Wirtschaftsführern und Unternehmern – gerade von liberal gesinnten – deutlich mehr Verantwortungsbewusstsein und vor allem mehr Sensorium für diese Zusammenhänge einzufordern: Mut zur Demut vor diesem liberalen Prinzip, das wünschenswert vieles zulässt, aber nicht alles erlaubt, gehört zu einer Tugend, die gerade im Wirtschaftsleben zum Teil sträflich vernachlässigt worden ist.
Keine unscharfe Mitte und doch differenziert
Über den Liberalismus lässt sich nicht nur trefflich diskutieren, sondern auch engagiert streiten. Eine liberale Position aber, meine Damen und Herren, ist sehr wohl ein Punkt – keine unscharfe Fläche, oder wie wir es in der NZZ vor einiger Zeit geschrieben haben: Ein sich ausbreitender Tintenfleck. Nicht alles, was sich liberal nennt, ist es auch. Und darum täte gerade auch die sogenannte politische Mitte in diesem Land gut daran, sich von dieser Unschärfe endlich zu verabschieden – weil sie weder inhaltlich noch programmatisch überzeugend ist. Mitte ist keine politische Position, sondern entlarvt ein gerütteltes Mass an Unentschlossenheit über die eigenen Werte und Einstellungen. Solches Lavieren aber ist in der heutigen Zeit nicht mehr mehrheitsfähig, weil so verstandene Politik auf die grossen Fragen der Zukunft keine griffigen Antworten mehr formulieren kann.
Es gibt sehr wohl Antworten, leider sind es aber aus liberaler Optik nicht mehr simple und vor allem auch keine schmerzfreien. Wer sich für Freiheit und Selbstverantwortung ausspricht, wer an Leistung und Effizienz glaubt, der kann sich aber dieser Ehrlichkeit nicht entziehen. Es gehört zum liberalen Wertekanon, Differenziertheit zu wahren, aber auch Konsequenzen aufzuzeigen und einzufordern – gerade in Zeiten wie diesen, in denen der liberale Gedanke in einer geradezu grotesken Umdeutung seines wahren Kerns als Chiffre für Zügel- und Masslosigkeit von der Linken und für Wischiwaschi und für naive Fortschrittsgläubigkeit von der Rechten verhöhnt wird.