Was kann, was soll schon gefährlich sein, an einem 226 Seiten starken Text, der sich auf allgemeinste Art mit der Kultur dieser Jahre befasst? Mario Vergas Llosa, ein emsiger, ein äusserst fruchtbarer Romanautor und routinierter Journalist, der sich regelmässig zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen äussert, hat Frust und Empörung abreagiert, die aktuelle Kulturerzeugnisse in ihm verursachen. „Alles Boulevard“ (erschienen, in der Übersetzung von Thomas Brovot, im Suhrkamp Verlag) nennt er seine gesammelten Texte, die das weite Feld seines Themas von verschiedenen Seiten angehen und pro Kapitel aus einer frischen Polemik und einem oder mehreren dazu passenden, früher publizierten Zeitungsartikeln bestehen.
Vargas Llosa ist 1936 geboren. Das Gefährliche an seinem Buch ist, dass es seiner Generation, die auch meine ist, auf den ersten Blick aus der Seele zu sprechen scheint. Ja, ja, ja – ist man geneigt zu sagen: alles ist furchtbar, alles war früher besser, bei Picasso, bei Thomas Mann, bei Joyce, Tschechow, Brecht und heute? Alles flach, alles öde, alles trivial, geschwätzig. Die Kultur ist flächendeckend zum Spektakel verkommen, die Zeitungsschreiber, instrumentalisierte Liebdiener der Verleger, sind nur noch an Skandalen, an Klatsch und Tratsch interessiert und das Publikum verblödet zusehends. Bestsellerautor Vargas Llosa, der es seit seinen Anfängen versteht, komplexen literarischen Ansprüchen ebenso zu genügen wie dem Bedürfnis nach Unterhaltung, schwingt in diesem Buch die ästhetische Keule, die auch eine moralische ist, beweint den Untergang der Hochkultur, wie er sie versteht, und wird nicht müde, das, was er umfassend den Boulevard nennt, zu verteufeln. „Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst“, so das Menetekel, das als Untertitel den Umschlag seiner Essaysammlung ziert.
Widerspruch
Hat man sich vom zustimmenden Kopfnicken erholt, lässt man sich genauer auf die Argumente, die Tiraden des Autors ein, regt sich Widerstand, dann Widerspruch und man stellt fest: da ist jemand einer landläufigen geriatrischen Idee (früher war alles besser) zum Opfer gefallen, da wird auf masslose und ärgerliche Art pauschalisiert, da will einer vor lauter Wald die einzelnen Bäume nicht mehr sehen. Im übrigen ist dieses sich mit der Kultur auseinandersetzende Werk sprachlich ziemlich kulturlos hingeklatscht worden, ohne die formale Qualität, ohne den Unterhaltungswert, die die Romane des Autors auszuzeichnen pflegen.
Ich habe natürlich nicht das Geringste gegen die sogenannte Hochkultur einzuwenden und der Begriff „elitär“ erzeugt in mir keinerlei Abwehrreflexe. Im Gegenteil: für schwierige, sperrige, gedanklich aufwändige, dem mainstream sich verweigernde, masslose, antizeitgeistige Kulturprodukte einzustehen, halte ich für ein Vergnügen und für eine Selbstverständlichkeit – und wenn ich etwas sehr bedaure, dann die Tatsache, dass solche Bücher, Theateraufführungen, Konzerte, Ausstellungen von den offiziellen Medien immer weniger wahrgenommen werden, weil ja Berichte über triviale Fernsehsendungen oder über skandalträchtige Bücher ohne literarischen Mehrwert oder über die hohe Kunst des Fussballspielens den Löwenanteil an Aufmerksamkeit und Platz in den Kulturteilen der Zeitungen beanspruchen. In diesem Punkt (und nur in diesem) fällt es leicht,Vargas Llosa beizupflichten.
Eigenen Instinkten vertrauen
Wer sich aber in der Postmoderne, in diesen Zeiten des anything goes umschaut, der wird an jeder Ecke faszinierenden Produkten einer keineswegs dahinserbelnden Hochkultur begegnen. Es kann ja nicht schaden, wenn man seinen eigenen Instinkten vertraut und in den noch vorhandenen Buchhandlungen mit einem auch elitären Ansprüchen genügenden Sortiment nach verborgenen Schätzen fahndet, ohne sich von einer schwindsüchtig gewordenen Buchkritik leiten zu lassen; man wird Perlen entdecken in der zeitgenössiSchen Literatur – wie können sie dem belesenen Vargas Llosa, der sich seit Jahren „auf den Arm“ genommen fühlt, wenn er Bücher und Zeitungen liest, Filme und Ausstellungen anschaut, nur verborgen bleiben? Schaut er sich die falschen Filme an? Ist es wirklich so, dass die moderne Kunst nur noch von Scharlatanen gemacht und von Spekulanten manipuliert wird? Und gibt es neben jenem Theater, das allein auf Quote schaut und den Skandal als publikumswirksamen Stimulator in die Neuinszenierung bewusst einkalkuliert nicht auch jenes andere, das mit Lust und Fantasie neue Formen, neue Spielweisen, neue Sichtweisen auf alte Texte ausprobiert?
Vargas Llosa vergaloppiert sich in seiner Streitschrift. Die bedingungslose Verurteilung des Spektakels, die Bezichtigung der Kunst als Scharlatanerie, die Klage über das Verschwinden der Erotik aus der Literatur (er selber ist als Romanautor ein fantasievoller Erotiker), die Behauptung, dass sich Aufklärung und ReligiosiTät mehr und mehr in blosses Sektierertum verwandle, das alles, repetitiv dargelegt, wirkt undifferenziert und steril. Das Gefährliche an den früher-war-alles-besser-Statements (die genauerer Überprüfung sowieso nicht standzuhalten vermögen) liegt eben in dieser drohenden Sterilität: das Rad lässt sich nun mal nicht zurückdrehen und die nostalgische, die insistierende Rückschau kann einen blind machen für die spannenden Konzepte der Gegenwart. Wird der Kulturgenuss in der Jetztzeit nicht mehr gestillt, bleibt er auf eine geschönte und oft mumifizierte Vergangenheit reduziert, dann allerdings hat man sich einen massiven Kulturverlust eingehandelt.