Der erzwungene Rücktritt Silvio Berlusconis hatte das Land kurzfristig in Euphorie versetzt. Da wird Mario Monti in Brüssel mit allen Ehren empfangen. Da beglückwünschen ihn die politischen Alphatiere der Welt. Die internationalen Zeitungen loben seine Analysen. All das ist Balsam für die Seele der jahrelang verspotteten Italiener. Das Land, gedemütigt und verhöhnt, hat tief durchgeatmet. Es hat eine Spur seines alten Stolzes wiederentdeckt.
Doch die Euphorie – das war gestern. Jetzt beginnt die Stunde der Wahrheit. Jetzt muss Mario Monti den Italienern ein tiefgreifendes und schmerzhaftes Spardiktat verkaufen. Monti, Italiens Notstands-Premier, muss das tun, was Berlusconi längst hätte tun müssen: das Land entkrusten, die Wirtschaft auf Trab bringen, Arbeitsplätze schaffen, den Jungen wieder eine Chance geben. Es ist eine schier unlösbar scheinende Aufgabe: auf der einen Seite sollten Investitionen getätigt werden, um das Land flott zu machen. Anderseits müssen Milliarden gespart werden.
“Bittere Medizin“
Das 24 Milliarden-Sparpaket soll noch am Sonntag per Dekret verabschiedet werden. Es verlangt von den Italienern substanzielle Opfer. Werden sie bereit sein, diese Opfer zu erbringen? Oder haben viele noch immer nicht gemerkt, dass es auch im Belpaese fünf vor Zwölf ist? „Die Situation ist ernst“, sagte Monti am Sonntag. Er hofft, mit dem Sparpaket schon Ende 2012 ein ausgeglichenes Budget erreichen zu können.
„Bittere Medizin“ kommentierte am Samstag der Zentrumspolitiker Pier Ferdinando Casini das Sparprogramm. Doch diese Medizin sei nötig, „damit der Patient nicht stirbt“.
Die Gefahr besteht, dass viele nicht bereit sind, diese bittere Medizin zu schlucken und das Land ins Chaos stürzen könnten. Erste Reaktionen zeigen jedenfalls, dass viele mit der verordneten Rosskur gar nicht einverstanden sind. Hauptpunkte sind die Erhöhung der Einkommenssteuer. Sie soll für Einkommen zwischen 55‘000 und 75‘000 Euro von 43 auf 45 Prozent erhöht werden. Das würde 1,1 Milliarden Euro in die Staatskasse spülen.
Umstrittenes Pensionsalter
Einer der umstrittensten Punkte ist die Erhöhung des Pensionsalters. Neu soll die volle Pension für Männer erst nach 42 und für Frauen nach 41 Beitragsjahren ausbezahlt werden. Ferner sollen die Renten nicht mehr der Inflation angepasst werden. Das Pensionsalter für Frauen soll ab nächstem Jahr generell auf 63 Jahr angehoben werden. Ab 2018 soll es – wie für Männer – ab 65 gelten.
Vorgesehen ist auch eine Vermögenssteuer. Doch es ist nicht anzunehmen, dass Monti eine saftige Reichtumssteuer einführen wird, wie dies die Linke verlangt. Das würde jene, die die Wirtschaft wieder ankurbeln könnten, ins Exil treiben. Zeitungen spekulieren schon, dass die Vermögenssteuer zwei Promille auf ein Einkommen ab einer Million betrüge. Das wären 2‘000 Euro pro Million und würde die Kasse wohl kaum füllen. „Ein lächerlicher Betrag“ kommentieren die Gewerkschaften. Erhöht wird auch die Mehrwertsteuer.
Die von Berlusconi abgeschaffte Immobiliensteuer auf das erste Haus (ICI, prima casa) könnte wieder eingeführt werden. Diese ist zwar nicht gewaltig, aber der ärmeren Bevölkerung, die meist im eigenen Häuschen lebt, tut sie trotzdem weh. Wer ein zweites oder ein drittes Haus besitzt, soll eine Super-Immobiliensteuer bezahlen („Super Ici“).
Geplant sind auch Luxus-Steuern, so zum Beispiel für Yachten. Sie wird wohl nicht Milliarden in die Staatskasse spülen. Man kriegt den Eindruck, dass Mario Monti den Linken ein Zückerchen geben und ihnen signalisieren will, dass er auch die Reichen nicht ausspart.
Mangelnde Solidarität
Monti versucht, die Italiener aufzurütteln. Das Land befinde sich in einer „ausserordentlich delikaten Situation“. Er appelliert an das Verantwortungsbewusstsein und verlangt „Solidarität aller“.
Doch gerade der Mangel an Solidaritätsbewusstsein hat in Italien Tradition. Oberste Priorität haben immer die Familie, der Clan, das Individuum – aber sicher nicht der Staat und das Allgemeinwohl. In nur wenigen Ländern werden Staat und Behörden derart masslos betrogen wie in Italien. Steuerhinterziehung ist ein Volkssport. Niemand gibt das volle Einkommen an, viele beziehen mehrere Pensionen.
Wird es Professor Monti gelingen, sein Spar- und Reformprogramm durchzusetzen? Das wäre fast ein Wunder. Die in Italien starken Gewerkschaften heulen schon auf. Vor allem die pensionierten Arbeitnehmer würden zur Kasse gebeten, kritisieren sie.
Kampferprobte Gewerkschaften
Vor allem das geplante Rentensystem wollen die Gewerkschaften nicht akzeptieren. Bisher wurde die volle Pension ausbezahlt, wenn jemand 40 Jahre lang Beiträge einzahlte. „40 Jahre sind die magische Grenze“, erklärte Gewerkschaftsführerin Susanna Camusso (CGIL). „Wir werden mit allen Mitteln dagegen kämpfen, dass es 41 oder 42 Jahre sein werden“.
Die drei Gewerkschaften, der CGIL, der CISL und die UIL, sind kampferprobt. Allein der CGIL (der Nationale Gewerkschaftsbund) zählt fünf Millionen teils sehr militante Mitglieder. Dem christdemokratisch orientierten CISL gehören über vier Millionen Italiener an. Die Gewerkschaften haben immer wieder gezeigt, dass sie in der Lage sind, das Land mit Generalstreiks lahmzulegen. Auch jetzt haben sie bereits mit landesweiten Streiks gedroht.
Nach der Wahl Mario Montis zum Notstandsministerpräsidenten waren in vielen Städten Tausende rabiater und gewaltbereiter Demonstranten auf die Strasse gegangen. Vielleicht war das ein Vorgeschmack dessen, was bald auf Italien zukommen könnte.
Lega: “Fare il culo a Monti“
Doch nicht nur von Gewerkschaften und wütenden Demonstranten droht Monti Gefahr. Viele Politiker aus Berlusconis Lager kritisieren das Ausmass der geplanten Steuererhöhungen. Auch die einflussreiche Dachorganisation Confcommercio, die den Einzelhandel, Tourismus und Dienstleistungssektor vertritt, wehrt sich gegen fiskalische Zusatzbelastungen. Und natürlich steigt auch die Lega Nord von Umberto Bossi, die sich immer mehr zur frustrierten Anti-Anti-Partei wandelt, auf die Barrikaden. Lega-Politiker Roberto Maroni ist am Sonntag nach Rom gereist, „um Monti den Hintern zu zeigen“ (fare il culo a Monti), wie die Lega es nennt.
Erstaunlich ist im Moment das Verhalten der Linken. Ihr Hauptziel war die Liquidierung ihres Lieblingsfeindes. Doch seit dem Sturz Silvio Berlusconis verhalten sie sich nicht, wie man sie kennt. Der linksgerichtete Partito Democratico (PD), die im Moment grösste italienische Partei, gibt sich staatstragend, ruhig, besonnen. „Wir wissen, dass wir Opfer bringen müssen“, sagt ein hoher Parteivertreter, „wir haben Vertrauen zu Mario Monti“. Da reibt man sich die Augen. Wo ist die kämpferische, laute Linke geblieben?
Besser noch: Ein hoher PD-Vertreter sagt am Freitag: „Auch wenn wir bei vielem völlig anderer Meinung sind, stimmen wir in dieser Notsituation für die Regierung Monti“. Wie lange dauert dieser seltsame Honeymoon? Bis die Details des Sparprogramms bekannt sind? Oder will sich die Linke als staatstragende Kraft für die nächsten Parlamentswahlen in Stellung bringen? Oder vielleicht brechen die Querelen innerhalb der linken Familie schon bald wieder auf. Dafür gibt es Anzeichen. „Wenn sich die Musik nicht ändert, gibt es Ärger“, sagt Nichi Vendola, ein Spitzenpolitiker der PD aus Apulien. Und natürlich poltert auch schon Antonio Di Pietro, der Chef der Partei „Italien der Werte“ (Idv). Er scheint sich schon auf kommende Neuwahlen vorzubereiten.
Ruhe vor dem Sturm
Mario Monti hat am Samstag seine Pläne den Parteien offen gelegt. Am Sonntag waren die Gewerkschaften dran. Das Notstandskabinett hat die Reformen am Sonntagabend per Dekret verabschieden. In der Fernsehsendung „Porta a porta“ von Bruno Vespa will der Interimspremier am Dienstag sein Paket der Bevölkerung schmackhaft machen. Die Zeit drängt: Der Wirtschaftsprofessor will sein Reform- und Sparpaket vor dem 8. Dezember durchpauken. Dann findet der EU-Gipfel statt.
Noch herrscht Ruhe vor dem Sturm. Aber wenn die Details des Programms bekannt sind, könnte der Sturm losbrechen. Wird Italien schon bald mit Streiks und Demonstrationen überzogen? Wird es Monti nicht gelingen, im Parlament eine Mehrheit für sein rigoroses Sparprogramm zu finden?
Das Sparprogramm, das jetzt per Dekret aufgegleist wird, muss noch im Dezember von beiden Kammern des Parlaments gutgeheissen werden. Die Gefahr besteht, dass es dann zerzaust wird. Alle sind grundsätzlich mit Sparen einverstanden – aber bitte sehr: bei den andern. Schon bevor das Programm konkret bekannt ist, haben viele Parlamentarier Abänderungsanträge in Aussicht gestellt.
Und wenn Monti scheitert?
Es wird sehr viel Verhandlungsgeschick von Monti brauchen, die wichtigen Kräfte im Land ins Boot zu ziehen. Ob das gelingt, weiss heute niemand. Scheitert er aber, verliert nicht nur Italien, sondern auch Europa.
Mario Monti wird vorgeworfen, sein Sparprogramm erhalte vor allem Steuererhöhungen, strukturelle Änderungen seien jedoch kaum vorhanden. Der bürgerliche "Corriere della sera" kommentiert: "Lieber Präsident, so geht es nicht".
Und wenn Monti scheitert? Kommt dann Berlusconi zurück? Wohl kaum, obwohl er vielleicht damit rechnet. Vielleicht hofft er, sich im Chaos zum Retter aufschwingen zu können. Doch er ist 75 und im eigenen Lager eigentlich abgeschrieben. Im Moment ist er auffallend ruhig. Hat er gemerkt, dass seine Zeit vorbei ist?
Während Italien auf Mario Monti starrt, wird in Mailand der Ruby-Prozess weitergeführt: das Verfahren, um die damals 17jährige Marokkanerin, die Berlusconi mit der Mubarak-Lüge aus dem Polizeiposten holen liess. Jetzt legen die Ermittlungsbehörden Beweise auf den Tisch, die besagen, dass das nette Mädchen schon lange eine knallharte Prostituierte war. Vor ein paar Monaten hätten solche Meldungen die Medien in helle Ekstase versetzt. Und jetzt? Eine Randnotiz in den Zeitungen. Das Interesse für Ruby ist abgeflaut. Auch jenes für Silvio Berlusconi.