Zunächst einige Definitionen, damit klar ist, worüber wir hier sprechen und wo was herkommt. Eine Burka ist ein Ganzkörperschleier, essenziell ein über den ganzen Körper – den Kopf eingeschlossen – gestülpter Sack mit kleiner, einseitiger Öffnung für die Augen. Er wird in konservativ-islamischen, ländlichen Gebieten getragen, speziell in Afghanistan und Pakistan. Ein Niqab ist ein Brust- und Kopfschleier, der ebenfalls völlig verhüllt mit ähnlicher Öffnung wie der Burka; er wurde bis vor kurzem, wenn überhaupt, nur auf der konservativ-islamischen arabischen Halbinsel getragen.
Kommt im Koran nicht vor
Beide wurden unter einem extrem reaktionären Grosssultan des osmanischen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt. Beide kommen im Koran ebensowenig vor wie ein Keuschheitsgürtel in der Bibel. Ebenso wie dieser ist die weibliche Vollverschleierung ein von männlichem Machismo diktierter Brauch, dem im Nachhinein ein Religionsmäntelchen umgehängt worden ist.
Beim Hijab, im Iran auch Tschador genannt, sieht das etwas anders aus. Ebenfalls ein Brust- und Kopftuch, lässt dieses, unter Verhüllung der Haare, ein Oval frei, wo das gesamte Antliz sichtbar bleibt. Ob Hijab, ursprünglich die Trennung zwischen Frauen- und Männerteil in arabischen Bedouinenzelten, ein vom Propheten gewolltes Religionsgesetz zum Tragen dieser Teilvermummung der Frau darstellt – etwa dem christlichen Verbot, am Freitag Fleisch zu essen vergleichbar -, ist unter islamischen Religionsgelehrten umstritten.
Niqabs neuerdings auch in Europa häufiger
Tatsache ist, dass auch das Tragen des Hijab in der Geschichte des Islam sehr unterschiedlich gehandhabt worden ist. Bis in die 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts trugen sehr zahlreiche Frauen des arabischen Stadtislam – im Gegensatz zum ländlichen Wüstenislam der Halbinsel – ihre Haare offen. Kurze Röcke waren in Ägypten, Syrien und dem Irak keine Seltenheit. Ganz zu schweigen von Kleidern, die von Frauen in nicht-arabischen islamischen Ländern getragen wurden, von Indonesien und Malaysia über den Iran bis in die Türkei. Atatürk hatte in der modernen türkischen Republik das Tragen des Kopftuches sogar formell verboten, was erst unter dem konservativen Sunni Erdogan praktisch ins Gegenteil verkehrt worden ist. Ebenso im Iran beim Übergang vom Schah zum Mullah-Regime.
Burkas sieht man in Europa, und damit auch in der Schweiz, tatsächlich selten. Ein „Burkaverbot“ im strengen Wortsinn erscheint damit sinnlos. Etwas anders sieht es aus, und dies in zunehmendem Masse, mit Bezug auf den Niqab. Seit wenigen Jahren, ja Monaten, hat sich hier das Bild stark verändert. Sowohl muslimische Flüchtlingsfrauen aus konservativ-ländlichem Milieu, als auch Touristinnen von der arabischen Halbinsel tragen diesen nun auch bei uns. Wohl aufs Ganze gesehen noch relativ selten, treten so vollverschleierte Frauen mitunter konzentriert auf. Im Zentrum des Touristenortes Interlaken beispielsweise trifft man heute im Sommer nicht mehr auf vereinzelte, sondern Dutzende von Niqab-Trägerinnen.
Eine Person ohne Gesicht existiert nicht
Dies kann auf die Dauer nicht gut gehen. Einmal weil Vollverschleierung die im Europa des 21. Jahrhunderts, und damit auch in der Schweiz, sehr grosszügig gezogene Toleranzgrenze individuellen Verhaltens nach unten durchstösst. Eine Person ohne Gesicht existiert nicht, weder im persönlichen noch im behördlichen Verkehr. Vollverschleierung ist sowohl eine gravierende Verletzung der individuellen Rechte der Trägerin, als auch eine freche Herausforderung an alle jene, welche sich mit einer solcherart künstlich geschaffenen Anonymität auseinander setzen müssen.
Vollverschleierung ist damit in der Öffentlichkeit nicht zuzulassen, was auch für Touristinnen gilt, so sehr dies hiesigen, kurzfristig kalkulierenden Kurdirektoren missfallen mag. Genauso wenig wie Vollkörperkleidung beim Bad in öffentlichen Badeanstalten, Dispensation vom Turn- und Schwimmunterricht von Mädchen oder der verweigerte Handschlag von Knaben gegenüber der Lehrerin. Das sind Verstösse gegen Grundregeln unseres Contrat social, welche zudem das Fehlen von Integrationsbereitschaft, oder auch nur gemeiner Höflichkeit signalisieren.
Wasser auf die Mühlen der Nationalkonservativen
Weiter kann dies nicht gut gehen, weil hier ein Fehlen staatlicher Regelungen die nationalistisch-konservative Rechte in unseren Ländern geradezu herausfordert, in allgemein xenophobem Sinn tätig zu werden. Dass dies der SP-Politiker Mario Fehr sieht und sich damit bewusst gegen ideologisch betriebsblinde Parteifreundinnen und -freunde stellt, ist ihm hoch anzurechnen.
Vollverschleierung zu tolerieren ist schliesslich, wie eingangs erwähnt, auch mit Blick auf die Freiheit zur Ausübung der eigenen Religion keineswegs angezeigt. Im Gegenteil, je schneller alle schweizerischen Muslime sich von der gegenwärtigen globalen Zwangsjacke eines erzkonservativen Islams – von saudischem und türkischem Wahabismus finanzierte Moscheen und Schulen, deren Irrlehren via social media weltweit verbreitet werden – befreien, desto besser.
Der Islam ist in der Schweiz wie fast überall in Westeuropa angekommen und wird hier auch bleiben. Diesen modern und integrativ zu gestalten bleibt eine grosse Herausforderung. Frauenfeindliche Bedouinenbräuche bei uns zu verbieten ist ein – bescheidener – Anfang.