In einem winterlichen Wald begegnen sich bei leichtem Schneefall eine Hirschkuh und ein Hirsch. Sie nehmen Witterung auf, beschnüffeln sich, nähern sich einander in verwunschener, rätselhaft-zärtlicher Anmut. Dann wechselt der Schauplatz. In einem Schlachthof ausserhalb von Budapest stehen apathisch wartende Rinder in einem kotbeschmutzten Gatter. Man erkennt Personal, das die Kreaturen bald roboterhaft routiniert entleiben, ausweiden, zerlegen wird.
Elegante Bildsignale
Die schockartige Kombination von naturhafter Idylle und martialischem Handwerk ist der Prolog des Spielfilms „On Body and Soul“. Eine Kombination übrigens, die sich in dokumentarischer Form ähnlich im filmhistorisch bedeutenden Kurzfilm von Georges Franju, „Le sang des bêtes” (1949), findet, der – symbolstark – im Paris nach dem 2. Weltkrieg nach der deutschen Besatzung angesiedelt ist. Bei Franju wird das Geschehen aus dem Off kommentiert und etwa mit dem Chanson „La Mer” von Charles Trenet musikalisch ironisch untermalt.
Derartige Verfremdungen finden sich in „On Body and Soul“ nicht. Die ungarische Drehbuchautorin und Regisseurin Ildikó Enyedi zieht die Konturen schärfer, und ihr exzellenter Kameramann Máté Herbai filmt ungeschönt, präferiert dabei einen nüchternen Reportage-Stil ganz ohne platten Voyeurismus. Wenn dann die zentrale Beziehungsstory ins Zentrum rückt, setzt er ästhetisch-elegante Bildsignale, die etwa an die Gemälde des amerikanischen Malers Edward Hopper erinnern.
Endre und Maria
„On Body and Soul“ beschreibt das Zusammenfinden zweier vielschichtiger Persönlichkeiten: Endre ist Finanzchef in der Fleischfabrik. Ein introvertierter, ruhiger, korrekter Mann, dem Loyalität und Respekt äusserst wichtig sind – vor allem auch der Respekt seiner Mitarbeiter gegenüber den Tieren. Diese Einstellung teilt er mit der viel jüngeren neuen Fleisch-Qualitätsprüferin. Ihr entgeht im Betrieb keine Abweichung von der Norm, was ihr professionell gesehen Achtung verschafft. Doch die feenhafte Blondine gerät auch ins Visier einiger rüder Machos. Dass sie Annäherungsversuche abblockt, alleine in der Kantine speist, bei ihren Inspektionsrundgängen im Betrieb ab und an ein Rind streichelt, wird hämisch kommentiert.
Verborgenes und Verlorenes
Endre reagiert ganz anders auf Maria, deren luzide, unschuldig-erotisch wirkende Melancholie ihn anrührt. Weniger, weil er sie als Objekt lustvoller Begierde einstuft – mit ernsthaften Liebesbeziehungen hat er eigentlich abgeschlossen –, sondern weil er in ihr eine Seelenverwandte wähnt. Die verschlossene, aber auch sensitive Maria realisiert das mehr intuitiv denn bewusst. Die Schauspielerin Alexandra Borbély füllt die komplex angelegte Rolle der Maria mit Bravour aus. Dafür hat sie in Géza Morcsányi – er ist Mitte sechzig, Verleger, Dramaturg, Übersetzer und erstmals in einem Film als Schauspieler zu sehen – einen kongenialen Partner gefunden.
Ihnen gelingt ein packender Pas-de-deux über zwei verlorene, scheue, schreckhafte Wesen, die sich in einem von starren Regeln gezeichneten Umfeld aneinander herantasten: die dornröschenhafte Frau, die Verborgenes, Unbekanntes entdecken will, und der desillusionierte Mann, der das Wagnis wagt, verloren Geglaubtes wiederzubeleben.
Geteilte Träume
Der Prozess bekommt Schub, als im Medikamenten-Lager des Betriebs Potenztabletten für Viehbullen verschwinden und als hochriskante Partydroge auftauchen. Die Polizei wird eingeschaltet, will den delikaten Fall aber diskret behandeln. Eine Psychologin – mit ihrer taffen, ostentativen Weiblichkeit ist sie der krasse Gegenentwurf zu Maria – soll die Belegschaft in Bezug auf „mentale Hygiene“ befragen und so Hinweise auf die Täterschaft finden.
Auch Endre und Maria werden unabhängig voneinander interviewt und erzählen von identischen Träumen. Die Analytikerin wird argwöhnisch: Kann so viel inhaltliche Übereinstimmung Zufall sein oder ist sie das Resultat einer veräppelnden Absprache? Nachdem sie Maria und Endre gemeinsam mit dieser Frage konfrontiert hat, finden sich die zwei über ihre Traumvisionen (sie verweisen auf die eingangs erwähnten Szenen mit dem Hirschpaar) auf einer intimeren Vertrauensebene.
Nun bekommt „On Body and Soul“ zunehmend kammerspielartige Züge. Maria und Endre begegnen sich vermehrt privat. Am Arbeitsplatz oder im Restaurant wirkt alles immer noch verklemmt, aber im virtuellen Chat oder bei Telefonaten wird der Kontakt lockerer.
Ein fulminantes Kino-Comeback
Die schmale Filmografie von Ildikó Enyedi ist geprägt von Geschichten über diffizile Beziehungen. „My 20th Century“ handelt von Zwillingsschwestern und wurde 1989 am Filmfestival von Cannes mit der „Caméra d’Or“ geehrt. Und in „Tamas and Juli“ (1997) schildert sie die Verbindung zwischen einem Bergbauarbeiter und einer Kindergärtnerin. Seit ihrem letzten Film „Simon mágus“ sind 18 Jahre vergangen, und nun feiert die 62-jährige Künstlerin ein fulminantes Kino-Comeback: „On Body and Soul“ erhielt an den Berliner Filmfestspielen 2017 den „Goldenen Bären“ als bester Film.
„On Body and Soul“ ist komplex, provokant, sperrig. Doch beim Zusehen entwickelt das Werk eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Und es wird in der Nachbetrachtung noch zugänglicher: Vorab, weil Ildikó Enyedi über die Gabe verfügt, ihre Figuren sinnhaltig auszugestalten. Der Energiefluss entspringt nicht nur den Dialogen, sondern ebenso den Gesten und der Mimik. Und anregend sind zudem die wiederkehrenden Verweise auf das tierische Verhalten mit all dem Mysteriösen, Unerklärlichen und Verführerischen, das man ihm aus Menschensicht beimisst.
Was bleibt vom Traum?
Was nimmt man aus diesem exzeptionellen Film mit? Vielleicht das, was Enyedi so formuliert: „Das Leben ist kurz, hart, die Umgebung, in der man sich bewegt, ist einem nicht nur freundlich gesinnt. Doch dieses auszuhalten und etwas zu riskieren lohnt sich. Weil das Leben auch schön ist.“ Diese Haltung wird besonders im Charakter von Maria im Sinne des Wortes inkarniert; bis dorthin, wo ihre Metamorphose tragikomische Züge annimmt: Um Hemmungen abzubauen, ihr verkrustetes Gefühlskorsett aufzubrechen „bildet“ sie sich mit Porno-Clips weiter, stellt mit Plastik-Figürchen Begegnungsszenen nach, bringt einen Therapeuten, den sie seit Kindstagen kennt, mit naiven Fragen fast zur Verzweiflung.
Auch das gehört zur unorthodoxen Gesamtkomposition von „On Body and Soul“, einem couragierten Werk, vom Odem des Filmmagischen umflort: Es lässt ahnen, was von Träumen bleibt, wenn sie sich erfüllen.
„On Body and Soul“ ist ab dem 7. Dezember in den Kinos zu sehen.