Können die Palästinenser nach so vielen Jahren den Israelis die Vertreibung, die Unterdrückung, die Demütigungen und die Schikanen verzeihen?
Diese Frage scheint nur in die Zukunft gerichtet zu sein. Denn noch herrscht das Gegenteil vor: Die Trennung beider Völker wird durch die Politik der israelischen Regierung noch vertieft. Die Zerstörung und Vertreibung der Palästinenser aus ihren Häusern und von ihren Feldern, die Checkpoints, die Trennungsmauern und die tägliche Kontrollen schüren Misstrauen, Hass und Verzweiflung.
Doch nun stellt sich die Frage: Wo ist denn der nahöstliche Mandela, der es schafft, die Aussöhnung zwischen beiden Völkern herbeizuführen? Wann tritt er auf?
Ich behaupte, dass es unter den Israelis viele Mandelas gibt. Es sind Friedensgruppen und Menschenrechtsorganisationen
– wie die Organisation „B’Tselem“ („Im Angesicht“, heißt es im Ersten Buch Mose). Sie prangert die Missstände der Besatzung an und setzt sich für die Rechte der Palästinenser ein;
– es sind die Frauen von „Machsom Watch“, die an die Checkpoints gehen, um das Vorgehen der Soldaten gegenüber den Palästinensern zu beobachten und zu dokumentieren;
– es sind die „Frauen in Schwarz“, die jeden Freitag in den großen israelischen Städten Mahnwachen halten;
– es sind die ehemals aktiven Soldaten von „Breaking the Silence“ („Das Schweigen brechen“), die über die Delikte und Verbrechen des Militärs berichten;
– es ist die Organisation „Yesh Din“ („Es gibt Gerechtigkeit“), die die Prozesse der Palästinenser begleitet und gerechte Urteile fordert;
– es ist „Gush Shalom“, der „Friedensblock“ von Uri Avnery, der sich für die Zwei-Staaten-Lösung einsetzt;
– es ist die Organisation „Yesh Gvul“ („Es gibt eine Grenze“), die israelische Soldaten unterstützt, die den Kriegsdienst in den besetzten Gebieten verweigern;
– es ist die jüdisch-palästinensische Friedensgruppe „Ta’ayush“ („Zusammenleben“). Sie versucht, die palästinensischen Bauern vor der Vertreibung durch die Siedler und die israelische Armee zu schützen;
– es sind die jungen Menschen der Organisationen wie „Combattants for Peace“ („Kämpfer für den Frieden“) und die „Anarchisten gegen die Mauer“;
– es ist das „Israelische Komitee gegen Häuserzerstörung“. Es versucht, palästinensische Häuser vor der Zerstörung zu schützen und ihnen beim Wiederaufbau behilflich zu sein;
– es sind die „Ärzte für Menschenrechte“, die regelmäßig in die Westbank fahren und dort kostenlos palästinensische Patienten behandeln;
– es sind die „Rabbis for Human Rights“, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren sowie im In- und Ausland mit Vorträgen tätig sind:
– es ist das „Forum verwaister Eltern“, die ihre Kinder durch Terrorakte verloren haben und sich mit palästinensischen Eltern treffen, die ebenfalls um ihre toten Kinder trauern;
– es sind Israelis, die gemeinsam mit Palästinensern wöchentlich gegen das Vorgehen der Siedler unter den Augen des Militärs und der Polizei demonstrieren wie in Sheikh Jarrach und Silwan in Ost Jerusalem;
– es ist die größte Friedensbewegung in Israel „Shalom Achshav“ („Frieden Jetzt“), der Befürworter einer politischen Lösung des Konflikts angehören;
– und es ist der Verein „Zochrot“ („Erinnern“), der sich zum Ziel gesetzt hat, die Narrative der „Nakba“ der Flucht und Vertreibung von 750.000 Palästinensern sowie die Zerstörung von mehr als 500 Dörfern in Israel der jüdischen Bevölkerung zu vermitteln.
Sie alle setzen sich für die Rechte der Palästinenser ein. Für die Palästinenser präsentieren sie „das andere Israel“ – ein Israel, mit dem sie bereit sind, sich auszusöhnen, auch in dem Wissen, dass es ein Volk ist, das für ihr Schicksal verantwortlich ist.
Nelson Mandela hat viele Jahrzehnte für ein gerechtes Südafrika gekämpft. Auch er hat zuerst auf die Instrumente der Gewalt und des Terrors im Kampf gegen die Apartheid gesetzt und dafür 26 Jahre in Haft gesessen, davon 18 Jahre auf Robben Island vor Kapstadt gesessen. Dort hat er Strategien für den Dialog entwickelt, die den Weg zum Frieden bahnen können. Er hat daran geglaubt, dass die Feinde von einst den gemeinsamen Frieden von heute und morgen schaffen können, wenn sie sich mit Respekt begegnen. Wenn – wie er sagte – „wir in einer freien und demokratischen Gesellschaft in Harmonie und mit Chancengleichheit leben“.
Das gelang ihm erst, als er in Frederic de Klerk, der lange die Apartheid verteidigt hat, einen Partner für den gerechten Kampf der Unterdrückten fand. Trotz der Vergangenheit war Mandela bereit, ihm die Hand zur Versöhnung zu reichen.
Deshalb wird sich der Frieden zwischen Palästinensern und Israelis erst dann abzeichnen, wenn sich nicht nur viele Mandelas, sondern auch ein mutiger Frederic de Klerk findet. „Insh‘allah“, „hallewai amen.“
[1] Gesprochen auf der Veranstaltung „Friedensgebet der Religionen“ am 02. Februar 2014 anlässlich der 50. Sicherheitskonferenz in München.