An der Münchner Sicherheitskonferenz vom vergangenen Wochenende hat Präsident Macron mit einem schwungvollen Auftritt die stärkste Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er forderte die angeblich mutlos und an politischem Niedergang leidenden Europäer auf, neuen «Appetit auf die Zukunft» zu entwickeln. Mit einigem Grund mokierte er sich über das von den Veranstaltern lancierte Kunstwort «Westlessness», das den westlichen Einflussschwund zum Ausdruck bringen sollte und spontan an den «Untergang des Abendlandes» erinnert, den Oswald Spengler schon vor hundert Jahren beschworen hatte.
Merkels und Macrons Vorstellungen
Macron sprach auch über das Verhältnis der EU zu Russland, das mindestens seit der Annexion der Krim und der militärischen Einmischung in der Ukraine empfindlich gestört ist. Nicht zum ersten Mal plädierte der französische Präsident dafür, Russland eine «europäische Perspektive» anzubieten, die seiner Meinung nach zurzeit nicht existiert. Allerdings fügte er hinzu, er plädiere vorläufig nicht für die Aufhebung der Sanktionen, die der Westen 2015 als Antwort auf die russische Aggression gegen den Nachbarstaat Ukraine verhängt hatte. Macron unterstrich, dass ein Wandel in den Beziehungen zu Russland viel Zeit brauche. Aber man müsse mit Moskau über alle Differenzen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit offen und geduldig reden. Sein Bild über die Verhältnisse und Zielvorstellungen in diesem Land sei nicht naiv.
Solchen allgemeinen Bekenntnissen kann man nur zustimmen. Was den Dialog mit dem Putin-Regime betrifft, so bleibt festzuhalten, dass die deutsche Bundeskanzlerin Merkel das Gespräch mit Moskau immer regelmässiger und geduldiger gepflegt hat, als jede andere Regierung im Westen. Indessen gehört die deutsche Regierungschefin auch zu jenen Politikern, die das Sanktionsregime gegen Russland und deren Aufrechterhaltung entschieden befürwortet, solange die russische Regierung nicht zu einer akzeptablen Lösung des Krieges im Donbass und einer vertraglichen Regelung über die Zugehörigkeit der Krim bereit ist.
In dieser Hinsicht liegen die Ansichten Macrons und Merkels also ziemlich nahe beieinander. Anzunehmen ist auch, dass die deutsche Kanzlerin nichts dagegen hat, langfristig das Projekt einer «europäische Perspektive» für Russland, anzustreben. Ein partnerschaftliches Verhältnis nicht nur zwischen der EU, sondern auch zwischen der Nato einerseits und Moskau andererseits war während der Jelzin- und zu Beginn der Putin-Ära immerhin in die Wege geleitet worden.
Slawophile und Westler in Russland
Eine offene Frage bleibt aber nach wie vor, ob Russland überhaupt grundsätzlich an einer weitgehenden Integration in die Europäische Gemeinschaft oder zumindest an einer engen politischen und wirtschaftlichen Partnerschaft mit der EU interessiert ist. Das ist ein sehr vielschichtiger Komplex, denn im euro-asiatischen Moskowiter-Reich wird schon seit mindestens zweihundert Jahren darüber gestritten, ob Russland – nicht nur im geographischen Sinne – zu Europa gehöre oder nicht.
Die Bewegung der Slawophilen (zu denen im 19. Jahrhundert bedeutende Schriftsteller wie Dostojewski oder Tjutschew und die Brüder Aksakow zählten, im 20. Jahrhundert vor allem der sowjetische Regimegegner Solschenizyn), engagierten sich vehement dafür, dass Russland zusammen mit der orthodoxen Kirche seinen eigenen Weg gehen müsse, der sich vom «dekadenten, gottlosen Westen» klar unterscheiden sollte. Demgegenüber traten die sogenannten Westler wie Turgenjew, Alexander Herzen oder Tschechow und später eine Reihe von sowjetischen Dissidenten wie der Physiker und Nobelpreisträger Sacharow für eine Europäisierung des Landes und eine Annäherung an demokratisch-westliche Gesellschaftsmuster ein. Unter der Oberfläche ist der Richtungsstreit zwischen Slawophilen und Westlern auch im heutigen Russland weiterhin virulent.
Das Putin-Regime steuert seit einigen Jahren zunehmend in die Richtung der slawophil-autoritären und antiwestlichen Denktradition, die auch die Sowjetherrschaft in mancher Hinsicht stark geprägt hat. Der Einsatz national-chauvinistischer Propaganda im Innern und die Wiederbelebung neoimperialer Expansionsbestrebungen in der Aussenpolitik wird von manchen Putin-Apologeten als verständliche Reaktion auf die Nato-Erweiterung nach der Auflösung des Sowjetimperiums erklärt. Mit der Aufnahme von Mitgliedern in das westliche Verteidigungsbündnis, die während des Kalten Krieges dem Warschauer Pakt angehörten, werde Russland vom Westen militärisch provoziert und «eingekreist».
Der Mythos von Russlands «Einkreisung»
Diese Feindbild-Erzählung wird von den staatlich gegängelten russischen Medien mit Inbrunst gepflegt und im Westen von Kritikern und Gutgläubigen gerne weitergestrickt. Dass diese Perspektive die Interessen etwa der Polen, der Balten oder Tschechen, die 40 Jahre lang unter der Fuchtel des Sowjetimperiums lebten und sich zur Sicherung ihrer neuen Unabhängigkeit aus naheliegenden Gründen unter den Nato-Schirm drängten, völlig ignoriert, wird dabei grosszügig verdrängt. Als ob diese Länder nicht das Recht hätten, sich für ihre Bündnispartner selber zu entscheiden.
Und was die angebliche militärische Bedrohung Russlands durch die Nato-Mächte betrifft, so braucht es wohl eine gehörige Portion Phantasie für die Überzeugung, die Öffentlichkeit in den westlichen Ländern und deren gewählte Parlamente würden einem willkürlich vom Zaun gerissenen Überfall gegen den Koloss Russland zustimmen. Was unter den Diktatoren Napoleon und Hitler möglich war, würde im Kreis der demokratisch organisierten Nato-Mitglieder schwerlich funktionieren.
Ost-West-Dialog mit langem Atem
Was das alles mit Macrons Russland-Vision zu tun hat? Die Einsicht, dass geraume Zeit nötig sein wird, bis ein vertieftes partnerschaftliches Verhältnis zwischen Moskau und dem übrigen Europa solide Praxis werden dürfte. Erstens ist ein Ende der militärischen Einmischung des östlichen Nachbarlandes in der Ukraine trotz Fortschritten beim Gefangenenaustausch noch nicht in Sicht. Von einer völkerrechtlich vertretbaren Regelung über den Status der annektierten Krim-Halbinsel will man im Kreml vorläufig gar nichts wissen. Dennoch sollten die Europäer den Versuch auf keinen Fall aufgeben, mit Moskau zu diesen Fragen geduldig das Gespräch zu suchen.
Zweitens spricht wenig dafür, dass Putin seine grossrussisch-expansive Generallinie der vergangenen Jahre in absehbarer Frist spürbar korrigieren könnte. Und wie lange noch der schon seit 20 Jahren regierende Kremlchef die politische Richtung Russlands bestimmen wird, steht ohnehin in den Sternen. Zwar endet seine Präsidentschaft im Jahr 2024. Aber nicht wenige Beobachter rechnen damit, dass Putin im Zuge der eingeleiteten Verfassungsreform einen Weg findet, der ihm weit über seinen formellen Abgang hinaus die Möglichkeit sichert, in Russland die entscheidenden Fäden zu ziehen.