Frankreichs Präsident ist in den letzten Monaten innen- wie aussenpolitisch heftig ins Schwimmen geraten. Um die rüde Gegenwart zu übertünchen, bemüht er ausgiebig die Vergangenheit. Doch die Inflation seiner Erinnerungszeremonien bekommt langsam einen schalen Beigeschmack.
Wenn das Ausüben der Macht und der politische Alltag mit der Zeit immer komplizierter werden, wenn man im Parlament keine Mehrheit hat und auch keine zustande bringt und wenn man ganz offensichtlich nicht mehr weiss, wohin der Zug nun fahren soll, wie man etwas bewegen soll, wohin man das Land eigentlich führen möchte, dann erinnern wir uns doch am besten an frühere, grosse Stunden in der Geschichte der Nation oder an herausragende Persönlichkeiten der jüngeren französischen Geschichte und versuchen wir auf diese Art das Land zusammenzuhalten und, politisch gesehen, sich in dieser Vergangenheit zu sonnen.
Geübter Zeremonienmeister
So ungefähr könnte die Devise lauten, nach der Präsident Macron seit seiner Wiederwahl vor zwei Jahren funktioniert.
Denn der Präsident kommt seitdem aus den Erinnerungszeremonien und den Hommagen schlicht nicht mehr heraus. Bei diesen Gelegenheiten kann er den Zeremonienmeister geben, eine gewisse Grösse vorgaukeln. Dabei müsste es ihm ja eigentlich vor allem um die Gegenwart und auch um die Zukunft gehen, Themen und Probleme gäbe es genug.
Doch Macron beschwört lieber die Vergangenheit, das hat schon fast etwas Frenetisches. Und je öfter er das tut, desto mehr kommt der Eindruck auf, er tue das, um die eher unangenehme Gegenwart vergessen zu machen.
Wobei man sagen muss: Der ehemalige Hobbyschauspieler gibt bei den verschiedenen Zeremonien gar kein so schlechtes Bild ab. Aber er macht das nun schon seit sieben Jahren und zuletzt eben besonders intensiv und da gibt es nun mal gewisse Abnutzungserscheinungen. So mancher im Land sagt sich inzwischen: Zu viel ist zu viel, weniger wäre mehr.
Weniger wäre mehr
Am 8. Mai des vergangenen Jahres, dem Jahrestag des Kriegsendes 1945, hat sich Emmanuel Macron nach Lyon eingeladen, um der Hauptperson der französischen Résistance, Jean Moulin, zu gedenken – ein Auftritt, der damals noch von heftigen Protesten gegen die Rentenreform begleitet war und den Präsidenten prompt aus der Geschichte in den schnöden Alltag zurückholte.
Dann folgten die Überführungen sterblicher Überreste von grossen Persönlichkeiten ins Pantheon, in diesen Tempel auf dem Pariser Hügel der Heiligen Geneviève, in dem Frankreich seine grossen Männer und seit einiger Zeit auch Frauen beerdigt und ehrt.
Die einzigartige Simone Veil und ihr Mann waren von Macron bereits 2018 überführt worden. Nun beförderte er Josephine Baker an den illustren Ort – die farbige Diva der Zwischenkriegszeit, die Widerstandskämpferin und Spionin, die später zwölf Kinder aus allen Erdteilen der Welt adoptiert hatte und sie in ihrem Schloss in der Dordogne grossziehen sollte.
«Sie waren Ausländer – und doch unsere Brüder»
Kaum war dies geschafft, folgte die nächste Erinnerungszeremonie im Panthéon: Missak Manouchian, Armenier und Kommunist, der während der deutschen Besatzung eine Widerstandsgruppe von Nichtfranzosen angeführt hatte (FTP-MOI) und exakt 80 Jahre vor dieser Zeremonie mit 23 seiner Gefâhrten von den Nazis am Mont Valérien, vor den Toren von Paris, füsiliert worden war – auch er hielt Einzug unter der grossen Kuppel .
Peinlich war jedoch, dass Manouchians sterbliche Überreste ins Panthéon geleitet wurden, nur wenige Tage nachdem Präsident Macron und seine Regierung ein höchst umstrittenes, restriktives und letztlich verfassungswidriges Einwanderungsgesetz durchs Parlament geboxt hatten.
Hätte es ein derartiges Gesetz in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben, wäre Missak Manouchian, der in der Türkei dem Völkermord an den Armeniern entkommen war, damals ausgewiesen worden, beziehungsweise nie in das Land gelassen worden, das ihm jetzt so pompös die Ehre erwiesen hat und das sich sogar damit brüstet, dass Ausländer wie er französische Patrioten werden konnten.
Der grosse Schriftsteller, Louis Aragon, hatte Manouchian und seinen Gefährten unmittelbar nach dem Krieg ein Gedicht gewidmet – Jahrzehnte später von Léo Ferré genial vertont –, in dem es heisst:
«Sie waren 23, Ausländer und doch unsere Brüder / 23 , die das Leben zum Sterben liebten / 23, die Frankreich riefen, als sie niedersanken.»
Marine Le Pen im Visier?
Ein wenig darf man bei all dem auch den Eindruck haben , dass Emmanuel Macron mit seiner inflationären Erinnerungspolitik glaubt, auf diese Art gegen Marine Le Pen und das « Rassemblement National» ankämpfen zu können. Schliesslich sind die gewählten Themen und Persönlichkeiten nichts, was der extremen Rechten lieb sein könnte, ja etwas, das sie eher in Verlegenheit bringt. Ob dies aber in nächster Zeit dafür sorgen könnte, dass weniger Franzosen für das «Rassemblement National» und Marine Le Pen stimmen, darf stark bezweifelt werden.
Um es krass zu formulieren: Manuel Macron holt mit seiner Erinnerungspolitik letztlich keinen Hund hinter dem Ofen hervor, auf jeden Fall niemanden aus der Wählerschaft der Rechtsextremen. Ihr sind all diese Zeremonien schlicht egal, allzu weit weg von ihren Alltagssorgen. Sie sehen den Präsidenten bei diesen Gelegenheiten und sagen sich: Er plustert sich wieder mal auf, und damit hat es sich.
Und so weiter und so fort …
Derweil bekommt sogar der Sohn von General de Gaulle, Philippe de Gaulle, nach seinem jüngsten Tod eine Zeremonie im Innenhof des Invalidendoms mit militärischen und allen möglichen anderen Ehren, auch wenn die Franzosen ihn kaum kennen und er eigentlich kaum andere Verdienste aufweisen kann, als der Sohn seines Vaters gewesen zu sein – der Präsident hängt sich an den grossen Namen und lässt zelebrieren und meint, es könnte fürs Image nicht schlecht sein.
Und dann stirbt Präsident Mitterrands legendärer Justizminister, Robert Badinter, der die Abschaffung der Todesstrafe zum Kampf seines Lebens gemacht hatte und bis zu seinem Tod eine moralische Autorität im Land geblieben war – prompt bekommt er eine nationale Ehrung auf der Place Vendôme, vor dem Justizministerium.
2024 – ein runder Jahrestag
Und dann ist 2024 auch noch ein 4er-Jahr, das besonders viele Möglichkeiten für Erinnerungszeremonien bietet : 1944–2024, 80 Jahre, ein runder Jahrestag. Emmanuel Macron hat sich das nicht zwei Mal sagen lassen und bereits im April innerhalb weniger Tage drei Mal zugeschlagen, um den französischen Widerstand zu ehren und gleichzeitig an die Kollaboration, sowie an die Judenverfolgungen in Frankreich während der deutschen Besatzung zu erinnern.
Jedes Mal bot sich dasselbe Spektakel: die Empfangskomitees für den Präsidenten überwiegend in dunklem Blau, alle möglichen Honoratioren, die angetreten sind, Händeschütteln ohne Ende vor den Augen des jeweiligen Präfekten, der in seiner Galauniform angetreten ist und weisse Handschuhe trägt. Die Marschmusik darf nicht fehlen und auch nicht die Veteranen mit ihren Fahnen und Wimpeln. Sie sind schwach auf den Beinen, halten aber durch bis zum Ende der Ansprache des Präsidenten – und das war es dann. Die Kameras haben ihre Bilder im Kasten, der gepanzerte Autokonvoi Macrons rauscht wieder davon oder ein Hubschrauber hebt ab.
Drei Mal in zwei Wochen
So war es erst auf dem Hochplateau von Glières, einem wichtigen Ort der Résistance in den Alpen, wo sich einst ein Präsident Sarkozy bei seinem ersten Besuch völlig daneben benommen hatte, während der Zeremonie herumalberte.
Einige Tage später begab sich Macron an einen der offiziellen nationalen Gedenkorte, den man «Das Haus von Izieu» nennt, wo noch im April 1944 auf Befehl von Klaus Barbie 44 jüdische Kinder und ihre 7 Erzieher verhaftet und deportiert worden waren, nur ein Kind sollte überleben.
Und schliesslich durfte eine Zeremonie am symbolischsten aller Widerstandsorte Frankreichs nicht fehlen: auf dem Hochplateau des Vercors, südlich von Grenoble, wo sich im Frühjahr 1944 bis zu 4000 Widerstandskämpfer zusammengefunden und sogar die Freie Republik des Vercors ausgerufen hatten.
Hitlers Armee, schon auf dem Rückzug nach Norden, verübte dort noch am 21. Juli 1944 ein Massaker, das die Franzosen von jedem weiteren Widerstand abschrecken sollte:
10 000 deutsche Soldaten nahmen an der Aktion teil, bei der mindestens 800 Widerstandskämpfer und Zivilisten auf dem Hochtplateau getötet und fast sämtliche Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden.
Landung der Alliierten
Bereits im kommenden Juni gibt es dann erneut reichlich Gelegenheit, um sich in Errinerungszeremonien – zumal mit internatonaler Beteiligung – zu baden, vor allem an den Stränden der Normandie.
Dort werden nicht nur am 6. Juni, dem Tag der Landung der Alliierten vor 80 Jahren, sondern gleich drei Tage lang zwischen Caen und Cherbourg die Erinnerungsglocken läuten, wird eine Zeremonie die andere jagen. Es herrscht nun mal Erringerungsinflation.
Drei Tage später sind dann Europawahlen und unmittelbar am Tag danach, am 10. Juni, steht die nächste nationale Gedenkzeremonie auf dem Programm. In Oradour-sur-Glane, in Zentralfrankreich, im Ort, wo es zum schlimmsten Massaker gekommen war, das die deutschen Besatzer in Frankreich an der Zivilbevölkerung verübt hatten. Auf dem Rückzug Richtung Norden, wenige Tage nach der Landung der Alliierten in der Normandie, hatte eine SS-Division an diesem Tag die gesamte Bevölkerung des Dorfes – 643 Personen – in einer Kirche zusammengetrieben, einige schon davor erschossen, die restlichen dann einfach verbrannt, indem sie die Kirche in Brand steckten. Das zerstörte Dorf, die Ruinen wurden bewahrt, sind heute Gedenkstädte.
«Goldmedaille im Erinnern»
Dann wäre Ende August noch der Befreiung von Paris zu gedenken, und auslaufen wird die Gedenkorgie des Jahres 2024 dann im November, wenn man an die Befreiung Strassburgs vor 80 Jahren erinnern wird.
Die Wochenzeitung «Le Point» titelte jüngst: «Macron holt die Goldmedaille im Erinnern».
Diese Frenesie der offiziellen staatlichen Errinerungszeremonien hinterlässt den Eindruck, Präsident Macron versuche mit diesen überstrapazierten, symbolischen Gesten am Laufband von der harten Realität der Gegenwart abzulenken. Nicht wenige Kommentatoren im Land sehen in dieser Art des Prozederes sogar eine Geste der Hilflosigkeit des Präsidenten.
Mit Sicherheit ist es ein vergeblicher Versuch, durch das Erinnern an glorreiche Epochen die heutige französische Gesellschaft, zersplittert, voller Brüche und Spannungen, wieder zusammenzuführen und ein wenig zu befrieden.
Mit purer Kommunikation, grosser Rhetorik und Inszenierungen zur glorreichen Vergangenheit allein wird dies jedenfalls kaum funktionieren.