Das extrem umstrittene Rentenreformgesetz des Präsidenten ist verabschiedet. Ein Misstrauensantrag gegen die Regierung ist gestern Abend im Parlament gescheitert, so knapp wie kaum je zuvor – ganze neun Stimmen fehlten, um die Regierung zu stürzen.
Was für ein Desaster am Ende eines monatelangen Gerangels um diese Rentenreform. Weder Präsident, noch Regierung oder die Regierungspartei und ihre Partner können sich über dieses extrem knappe Abstimmungsergebnis wirklich freuen, keine Spur von Triumph. Denn was bleibt: Diese Reform hat in der Nationalversammlung de facto keine Mehrheit erhalten.
Artikel 49.3.
Nur der längst überkommene Verfassungsartikel 49.3., der es ermöglicht, ein Gesetz auch ohne Abstimmung im Parlament durchzubringen – sofern die Regierung die damit verbundenen Misstrauensanträge übersteht – hat die Annahme der Reform möglich gemacht und selbst da nur hauchdünn.
Man muss sich vor Augen führen: Dieser für eine normal funktionierende Demokratie undenkbare Artikel 49.3. steht seit Herbst 1958 in der französischen Verfassung. In einem Grundgesetz, das mitten im Algerienkrieg verabschiedet worden und auf General Charles de Gaulle zugeschnitten war, welcher bekanntlich die Parteien und den Parlamentarismus, gelinde gesagt, äusserst gering schätzte.
Diesen Artikel im Jahr 2023 und nach Monate andauernden Protesten gegen diese Reform, die das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre erhöht, aus der Tasche zu ziehen, ist gewiss gesetzeskonform, angesichts der angespannten Stimmung im Land und der Proteste gegen diese Reform aber politisch alles andere als opportun; ja es gleicht fast einer Provokation.
Auf den Artikel 49.3. zurückgreifen zu müssen, sei für Macron und die Regierung, so Laurent Berger, Chef der grösssten französischen Gewerkschaft, CFDT, nicht nur eine Niederlage, sondern ein Schiffbruch.
Vergeudung
Dabei sollte diese Rentenreform die emblematische Reform während Macrons zweiter Amtszeit werden. Doch sie geriet am Ende zur Katastrophe. Zu viele Ungereimtheiten, zu viele Erklärungsnöte, zu viele Schwankungen bei der Erklärung dieser Reform und zu viel nicht Gesagtes beziehungsweise zu viele Lügen, um die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen oder zumindest im Parlament eine punktuelle Koalition und somit eine klare Mehrheit zustande zu bringen.
Doch auch mindestens zehn Millionen Demonstranten an acht verschiedenen Aktionstagen in 250 bis 350 Städten des Landes, und das über ganze zwei Monate hinweg, haben Frankreichs Präsidenten nicht davon abgehalten, nach dem Motto vorzugehen: Ich allein entscheide, die Gegner dieser Reform sind ohnehin von vorgestern, also: Augen zu und durch.
Da die Nationalversammlung nach der ersten Lesung des Rentenreformgesetzes nicht einmal abgestimmt hatte, weil die Debatten zu lange gedauert hatten, und jetzt, in der endgültigen zweiten Lesung vergangenen Donnerstag Anstalten machte, dieser Reform die parlamentarische Mehrheit zu verweigern, zog der Präsident trotz all der gegen ihn angestauten Spannung im Land in letzter Minute doch tatsächlich die Notbremse und holte den Verfassungsparagraphen 49.3. hervor, durch den die derzeit 593 Abgeordneten zu einfachen Statisten erklärt wurden.
Er tat dies gegen den Willen der Premierministerin und der grossen Mehrheit der Abgeordneten seiner eigenen Partei «Renaissance». Letztere waren nach der Anwendung des Paragraphen 49.3. letzten Donnerstag anschliessend wie geschlagene Hunde wieder aus ihren Wahlkreisen zurückgekommen, wo sie die Ablehnung ihrer Wähler am Wochenende hautnah zu spüren bekommen hatten. Wähler, die ihnen sagten: Wozu seid ihr eigentlich da, wir brauchen euch nicht mehr und das nächster Mal gehen wir erst gar nicht mehr wählen.
Dabei hatten die Regierungschefin und mehrere Minister sowie zahlreiche Abgeordnete der Präsidentenpartei noch bis zum Vortag der Parlamentssitzung letzten Donnerstag öffentlich getönt, sie wollten diesen Paragraphen nicht anwenden, sondern eine echte Abstimmung im Parlament, selbst wenn man dabei unterliegen würde. Doch was zählt in diesem französischen System und bei einem Präsidenten Macron schon die Meinung von Ministern oder Abgeordneten?
Mit der Brechstange
Nun ist das Gesetz formal angenommen und trotzdem ist König Macron nackt und die Regierung gründlich ramponiert. Der Präsident hat das Gesetz wie ein Besessener mit der Brechstange oder wie ein mit den Füssen stampfendes Kind durchgeboxt – und, wenn man so will, gewonnen, doch im Grunde hat er mittelfristig auf der ganzen Linie verloren.
Nicht nur dass seine Umfragewerte auf 28 Prozent abgestürzt sind, sondern vor allem, dass sich kaum jemand ausdenken kann, wie der einst mit grossen Vorschusslorbeeren bedachte Präsident Macron die verbleibenden vier Jahre seiner Amtszeit überhaupt über die Runden bringen will. Was tun? Welche Projekte in Angriff nehmen, wie das aufgewühlte Land wieder befrieden?
Man kann sich nach dieser Schlacht um die Rentenreform schlicht und einfach nicht mehr vorstellen, dass Macron vielleicht schon heute oder morgen Abend, wie üblich nach besonderen Ereignissen, in einer Fernsehansprache salbungsvoll zu seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sprechen wird und sie, wie so häufig, auffordert zusammenzustehen
Reichlich unbequem
Emmanuel Macron hat keine Mehrheit im Parlament, das Vertrauen in der Bevölkerung weitgehend verspielt, ist nun noch mehr belastet mit dem Image des abgehobenen, arroganten, stets besserwissenden Präsidenten der Reichen, der sich mit seiner Starrköpfigkeit in Sachen Rentenreform in diesen letzten Monaten auch noch zum Brandstifter gemacht hat oder zumindest nicht aufhört, mit dem Feuer zu spielen. Wie er den Graben, den er in diesen letzten Monaten zwischen sich und der Bevölkerung noch weiter ausgehoben hat, wieder zuschütten will, steht in den Sternen. Mit der Brechstange und gegen zahlreiche Stimmen aus seinem eigenen Lager hat er fürs Erste eine Reform durchgesetzt, die von 90 Prozent der aktiven Bevölkerung und von 70 Prozent der gesamten Bevölkerung abgelehnt wird und dies konstant seit Monaten .
Mit anderen Worten: Ihm und seiner Regierung ist es in dieser Zeit einfach nicht gelungen, die Bevölkerung von dieser Reform zu überzeugen. Schon mehren sich die Stimmen, die das Staatsoberhaupt auffordern, das verabschiedete Gesetz nicht zu erklären und nicht anzuwenden. Einer von Macrons Vorgängern, Jacques Chirac, hatte das 2006 schon einmal praktiziert.
Virulente Kritiken aus dem eigenen Lager
Charles de Courson, ein zentrumsliberaler Abgeordneter, Urgestein der Nationalversammlung und Spezialist in Haushalts- und Finanzfragen, hat heute im Parlament und in zahlreichen Interviews Präsident Macron zwar höflich, aber sehr bestimmt, die Leviten gelesen.
Er schrieb ihm ins Stammbuch: Junger Mann, sie können nicht auf Dauer gegen das Volk regieren, und in dieser Situation den Artikel 49.3. anzuwenden, ist nichts weniger als eine Demokratieverweigerung. Das Gesetz zurückzuziehen beziehungsweise den Misstrauensantrag durchzubringen, sei die einzige Möglichkeit, aus der schweren politischen Krise, in die Macron das Land geführt habe, wieder herauszukommen. Dass ein altgedienter, wertkonservativer Abgeordneter aus dem Mitte-Rechts-Lager sich zu einer derart harschen Kritik eines Präsidenten, der mehr oder weniger zu seinem eigenen Lager gehört, aufschwingt, hat es wohl noch nie gegeben.
Und auch einer der 19 von 61 konservativen Abgeordneten der Partei «Les Republicains», die gestern dem Misstrauensantrag zugestimmt haben, findet keine milderen Worte. «Der Präsident kann diesen beträchtlichen Elektroschock nicht einfach ignorieren. Wer glaubt denn, dass man den Dreck noch lange unter den Teppich kehren kann? Dieses Reformgesetz ist schlicht vergiftet und im Land gibt es Gräben, die morgen vielleicht nicht mehr zugeschüttet werden können. Auf welche Art von Demokratie bewegen wir uns eigentlich zu? Unsere Institutionen sind in Gefahr und Emmanuel Macron darf nicht länger mit dem Feuer spielen.»
Radikalisierung
Seit der Anwendung des Artikels 49.3 der französischen Verfassung letzten Donnerstag scheint die Zeit der friedlichen Protestdemonstrationen der vergangenen Monate vorbei. In Paris und zahlreichen Grosstädten in der Provinz, wie in Lyon, Brest, Marseille, Caen, Lorient oder Rennes, kommt es seit Donnerstag fast täglich zu Ausschreitungen und Wutausbrüchen, genau zu dem, was die Gewerkschaftsführer in den letzten Wochen befürchtet und wovor sie den Präsidenten ausdrücklich und wiederholt gewarnt hatten.
Den ganzen gestrigen Vormittag waren über ganz Frankreich verstreut die Ring- und Zufahrtsstrassen dutzender Städte blockiert und an vielen Orten tauchten an den Kreisverkehren die ersten Gelbwesten wieder auf. Und auch in der vergangenen Nacht tobten in Paris und zahlreichen anderen Städten spontane Demonstrationen. Unter die Demonstranten mischen sich inzwischen auch einige Vertreter des Black Blocs, die Stimmung wird explosiver. Und Minister und Abgeordnete bekommen es mit der Angst zu tun, sagen ihre Auftritte in der Provinz ab, verzichten auf das Wochenende in ihren Wahlkreisen.
Eine Entwicklung, die nicht wirklich überraschen kann. «Ein Teil der Bevölkerung ist in Rage», so einer der erfahrensten Meinungsforscher Frankreichs, Jérome Jaffré. «Es ist sogar nicht mehr nur eine soziale oder politische Wut, die da zum Ausdruck kommt, sondern ein purer Anti-Macronismus, wie 2018 mit den Gelbwesten. Die Frage ist heute: Wird sich das Land entzünden oder nicht.»