Nach dem Tod Meles Zenawis steht Äthiopien und mit ihm die gesamte ostafrikanische Region vor einem entscheidenden Wandel. Der Premierminister hatte das Land 21 Jahre lang regiert. Bedeutende Reformen wurden unter seiner Herrschaft umgesetzt und die Wirtschaft erblühte zu einer der florierendsten in ganz Afrika. Nach Somalia schickte Zenawi Friedenstruppen, dem Südsudan versprach er eine Ölpipeline zum Golf von Aden und auch in anderen Nachbarstaaten, etwa dem Sudan oder Kenia, mischte er kräftig mit.
Sein Einfluss war enorm, wodurch dieses Machtbündel nun in der Schwebe hängt – und die Zukunft Ostafrikas unkalkulierbar macht. Sein Nachfolger, Vize-Premier Hailemariam Desalegne, hat bis jetzt nicht viel Gewissheit geschaffen. Er soll bis zu den Wahlen 2015 im Amt bleiben. Während der ausgerufenen Staatstrauer arbeitet die Regierung hauptsächlich hinter geschlossenen Türen. Ausländische Investoren warten ungeduldig auf eine Richtungsweisung des neuen Premiers. Während viele um einen Zerfall Ostafrikas fürchten, sehen andere Chancen, die unter Zenawis Regierung nicht möglich gewesen wären: etwa Demokratie.
Trauriger Menschenrechtsrekord
Zenawi war 1991 durch den Sturz des kommunistischen Derg-Regimes an die Macht gekommen. Obwohl er viel zur Stabilität seines Landes beitrug, regierte er stets mit eiserner Faust. Seiner Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker werden systematische Menschrechtsvergehen nachgesagt. Human Rights Watch (HRW) erhob schwere Vorwürfe gegen die Polizei, die vor allem in der Region Ogaden für Hinrichtungen und Folter verantwortlich gewesen sein soll. In den letzten zwei Jahren wurden etwa 70'000 Menschen im Westen zwangsumgesiedelt, um Platz für Infrastruktur zu schaffen. Die Gefängnisse in der Hauptstadt Addis Abeba platzen vor politischen Gefangenen, und sowohl für westliche als auch äthiopische Journalisten entwickelte sich der Staat zu einem heissen Pflaster.
USA: Desalegne als Hoffnungsträger
Vergangenen Freitag redete US-Präsident Barack Obama Premier Desalegne ins Gewissen, in einem Versuch, ihm die Demokratieförderung zu versüssen. Das Weisse Haus bestätigte das Telefongespräch. Obama habe sein Beleid über den Tod des 57-jährigen Zenawi ausgedrückt, der letzte Woche in Brüssel gestorben war. Obwohl Obama seine Verdienste für das Land anerkenne, habe er Desalegne aufgefordert, „Entwicklung, Demokratie, Menschenrechte und die regionale Sicherheit zu fördern“. Äthiopien ist der wichtigste Verbündete der USA am Horn von Afrika. Das Land dient den USA als Basis im afrikanischen „Kampf gegen den Terror“: Radikale Islamisten wie die al-Shabaab oder die al-Qaida im Maghreb bilden Mitglieder weltweiter Terrornetzwerke aus, wenn es nach den Vereinigten Staaten geht.
Im Schatten seines Mentors
Ob die Hoffnung der USA zu voreilig ist, wird sich erst zeigen – noch herrscht eher Rätselraten darüber, wohin der neue Premier innenpolitisch und international steuert. Bisher hatte er ausschliesslich im Schatten des „big man“ Zenawi agiert. Desalegnes Posten als Vizepremier betrachten viele Äthiopier als persönliches Geschenk seines Mentors, anstatt seinen persönlichen Verdienst. Den Grossteil seines Berufslebens arbeitete er auf akademischen Posten als Ingenieur für Wasserbau.
Erst 2010 mit seiner Ernennung zum Aussenminister trat Desalegne seine erste politisch bedeutendere Stelle an. Hinzu kommt der ethnische Aspekt: Jahrzehntelang dominierten Politiker aus der Volksgruppe der Tigray die äthiopische Politik. An der Spitze dieser drittgrössten Ethnie stand Zenawi. Desalegne stammt von der Minderheitsgruppe der Wolaytas ab, wodurch ihm auch die Unterstützung des Volkes ungewiss ist. Probleme gibt es jedenfalls genügend, die einen starken Führer fordern: Zur chronischen Lebensmittelknappheit und der Dürre im eigenen Land, kommen Terroristen, unstabile Regierungen und ethnische Konflikte in der Region.