Man muss es Putin lassen: er versteht sein Geschäft. Ganz im Stil eines allmächtigen Potentaten gab er am Donnerstag nach einer vierstündigen Pressekonferenz scheinbar beiläufig bekannt, dass Michail Chodorkowski – Russlands prominentester Gefangener - ein Gnadengesuch gestellt habe und dass dieser nach zehnjähriger Haft wohl in kurzer Zeit entlassen werde. Gesagt getan, schon am nächsten Tag ging die Nachricht um den Globus, Chodorkowski habe das Lager im Norden Kareliens, unweit der finnischen Grenze, bereits als freier Mann verlassen.
Byzantinische Szenen
Vieles an diesem schlagzeilenträchtigen Vorgang mutet byzantinisch an – und passt gerade deshalb gut zur absolutistischen russisch-zaristisch-sowjetischen Machttradition. Schon die Art der Ankündigung von Chodorkowskis bevorstehender Freilassung hat obskure Züge: Da spricht Staatspräsident Putin geschlagene vier Stunden lang vor der Presse und beantwortet deren vorwiegend devote Fragen in epischer Länge. Ein Fragesteller will wissen, ob es eventuell zu einem dritten Gerichtsprozess gegen den früheren Ölmagnaten kommen werde. Putin entgegnet, das denke er eher nicht – sagt aber kein einziges Wort zur bevorstehenden Begnadigung.
Erst nachdem die Pressekonferenz schon beendet ist, wird Putin beim Verlassen der Veranstaltung von einem russischen Journalisten gefragt, ob Chodorkowski eventuell vorzeitig entlassen werden könnte. Erst jetzt lässt der Kremlherr die Nachrichtenbombe platzen. War das ein zufälliger Auslöser und war dieses Szenario schon im Voraus so geplant? Die Vermutung ist nicht ganz abwegig, dass der erfahrene Manipulator Putin solche Dinge nicht dem Zufall überlässt.
Chodorkowski: Kein Schuldeingeständnis
Wie auch immer - wenn Putin die Öffentlichkeit im eigenen Lande und rund um die Welt mit dieser Nachricht überraschen wollte, so ist ihm das vollkommen gelungen. Auch die Anwälte oder die Angehörigen Chodorkowskis wussten nichts von einem Gnadengesuch des Häftlings an den Präsidenten. Inzwischen ist Chodorkowski überraschend in Berlin eingetroffen. In einer Erklärung hat er bestätigt, dass er aus familiären Gründen ein Gnadengesuch gestellt habe. Bisher hatte wer ein solches Gesuch hartnäckig abgelehnt, weil dies als ein Schuldeingeständnis interpretiert werden könnte. Dazu war er nicht bereit. Laut Chodorkowskis Aussage enthält sein Gnadengesuch kein Schuldeingeständnis
Putins Sprecher hat demgegenüber in einer Erklärung in Moskau mit Nachdruck betont, Chodorkowski habe mit dem Gnadengesuch seine Verfehlungen eingestanden. Es steht also Aussage gegen Aussage – und darüber dürfte noch viel geredet werden.
Putins Kalkül
Bis auf weiteres herrscht der Eindruck vor, dass Putin mit der überraschenden vorzeitigen Entlassung seines bekanntesten Häftlings mit wenig Aufwand ein schlaues Manöver vollzogen hat. Der Preis ist für Putin tatsächlich gering, denn im August des kommenden Jahres wäre Chodorkowskis Haftfrist ohnehin abgelaufen – es sei denn, die vom Kreml bei diesem Verfahren offenkundig gegängelte Justiz hätte gegen den früheren Öl-Tycoon ein drittes Strafverfahren eröffnet. Über diese Möglichkeit ist in Russland in den letzten Monaten viel spekuliert worden, doch nun scheint man diese Variante in Putins Machtkreis begraben zu haben. Sie hätte den angeschlagenen Ruf der russischen Justiz noch verheerender ramponiert, was dem Kreml vor allem im Hinblick auf das wenig attraktive Investitionsklima durchaus nicht gleichgültig sein kann.
Vorteilhaft ist die vorzeitige Haftentlassung Chodorkowskis für Putin auch deshalb, weil dieser Schritt geeignet scheint, die Märtyrer-Aura, die sich der illustre Gefangene während seiner zehnjährigen Lagerhaft wenigstens in Teilen der russischen und internationalen Öffentlichkeit erworben hat, zu neutralisieren. Ein Gefangener, der den Präsidenten in aller Form um Begnadigung bittet und damit laut offizieller Lesart seine Schuld eingesteht, dürfte jedenfalls mehr Mühe haben, in der Öffentlichkeit als Opfer von politischer Willkürjustiz anerkannt zu werden.
Strenger Zar mit Edelmut
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Chodorkowski in weiten Teilen des russischen Publikums keine populäre Figur war. Viele Russen halten die sogenannten Oligarchen für rücksichtslose Profiteure, die nach dem Kollaps des Sowjetregimes mit dubiosen bis kriminellen Methoden die lukrativsten Branchen des Volkseigentums unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Doch Chodorkowski ist es während seiner zehnjährigen Haftzeit gelungen, durch seine erstaunlich vielseitigen und nachdenklichen publizistischen Einlassungen aus der Gefängniszelle heraus breiteren Respekt für seine Person und seine Ideen zu gewinnen. Wie scharf und emotional die Meinungen über Chodorkowski zusammenprallen können, zeigt ein Blick in Leserdiskussionen in russische Gazetten nach Putins Entlassungs-Ankündigung.
Putin und sein Apparat wiederum können nun die vorzeitige Freilassung seines prominentesten Gefangenen als grosszügige humanitäre Geste stilisieren, die den sonst raubeinigen Kremlchef für einmal in milderem Licht erscheinen lässt. Gewiss nicht zufällig hat Putin bei der Bekanntgabe seiner Begnadigungsabsicht nach der Pressekonferenz vom Donnerstag darauf verwiesen, dass Chodorkowski eine kranke Mutter habe. Solche Demonstrationen von zaristischer Allmacht und gelegentlichen Gesten humanen Edelmuts dürften nicht wenige Russen in ihrer Überzeugung bestärken, dass genau der richtige Mann im Kreml die Zügel der Macht in der Hand hält. Innenpolitische Konsolidierungen dieser Art werden für Putin mehr zählen, als aussenpolitische Entspannungspunkte im Vorfeld der Sotschi-Olympiade.
Eine Momentaufnahme
Das ist allerdings nur eine Momentaufnahme. Im heutigen Russland sind die Stimmungen und Popularitätsschwankungen von Politikern nicht weniger labil als in demokratisch gefestigteren Weltregionen. Noch ist es erst zwei Jahre her, dass nach der manipulierten Duma-Wahl Zehntausende von Demonstranten in Moskau und St. Petersburg gegen die Putin-Partei protestierten und die Popularität des neu-alten Kremlchefs ernsthaft abzubröckeln schien. Und noch weiss niemand, ob Chodorkowski künftig im öffentlichen Leben Russlands wieder eine Rolle spielen wird – und falls ja, in welchem Sinne.
Vorerst ist er in Berlin gelandet, offiziell um seine Mutter zu treffen, die dort wegen einer Krebserkrankung behandelt wird, aber für kurze Zeit nach Russland zurückgekehrt ist. Es gibt manche offenen Fragen.