Bereits als Finanzminister war Mukherjee der bei weitem aktivste Kabinettspolitiker gewesen. Er stand mehr als zwei Dutzend Ministerkommitees vor, die meisten ohne Bezug zu seinem Ressort, und er war der wichtigste ‚Troubleshooter‘, wenn es um das Zusammenhalten einer wackligen Koalition ging.
Erstaunliche Weg von Pförtnergeschichten
Das Wort ‚Aphrodisiakum‘ bezieht sich nicht nur auf die Arbeitskraft des tüchtigen Politikers aus Westbengalen. Auch Frauengeschichten sind in den letzten Wochen kolportiert worden. Es mögen Kutscher- und Pförtnergeschichten sein – ein indischer Minister hat viele Bedienstete – dennoch werden sie von Freunden in Delhi (und Bengalen) als glaubwürdig eingeschätzt. Von einer getreuen Assistentin etwa ist die Rede, die seit zwanzig Jahren jeden Amtswechsel des Grosswezirs mitgemacht ha. Oder von Frauen, die im letzten Wahlkampf abends die müden Füsse des Kandidaten massierten, und die manchmal bis zum frühen Morgen am Bettrand ausharrten.
Das Erstaunliche an diesen Geschichten ist nicht so sehr ihr Inhalt, sondern dass sie den Weg in die Medien finden. Denn wie in Frankreich wird bei indischen Politikern eine enge Verbindung zwischen Macht und Libido als normal angenommen. Bisher wurden Bettgeschichten auch von den sonst skrupellosen Nachrichtenkanälen nicht hochgespielt, selbst wenn sie sich ausserhalb der Schranken ehelicher Treue abspielten.
Nur hinter der Hand hört man, dass dieser Minister aus Kaschmir ein notorischer Schürzenjäger ist, oder dass sein südindischer Kabinettskollege weibliche Angestellte erbleichen lässt, wenn er sie ‚zum Diktat‘ in sein Büro bestellt. Von einem Dritten weiss man, dass er nicht nur Verse, sondern auch Pläne schmiedet, wie er sie seiner eigenen Schwiegertochter vortragen kann. Wir haben Freunde in Delhi, die eine Journalistin als Stockwerknachbarin hatten; Gang und Treppenhaus seien jeweils von Geheimdienstleuten bevölkert worden, wenn der damalige Premierminister zu Besuch kam. Alle vier sind, mit Verlaub, ehrenwerte Grossväter.
Eine Tischkonversation in Frankreich
Ich war in Frankreich, als diese Geschichten um Indiens Präsidentschaftskandidaten vor einigen Wochen zu kursieren begannen. An einem Sonntag fanden sich meine Frau und ich – dank einer Kette von Zufällen – am Mittagstisch in einem veritablen Château in der Nähe von Fontainebleau. Neben Pierre de G. und seiner Partnerin waren ein befreundetes Paar des Gastgebers zugegen, das sich in seinem Landgut der Aufzucht von Kindern und Pferden widmet. Dazu kam ein weiteres Ehepaar aus Dijon, Spezialisten von Stilmöbeln.
Den Mittelpunkt bildete Franck F., ein Historiker und bekannter Fernseh- und Radio-Moderator. Er bildete, ein typischer Pariser ‚Salonnier‘, den Mittelpunkt des Gesprächs. F. hatte einige Tage zuvor den Orden eines ‚Chevalier des Arts et des Lettres‘ erhalten. Er erzählte von den bei der Verleihung anwesenden Politikern – des Alten und Neuen Regimes –, und wie eine Ex-Ministerin nordafrikanischer Abstimmung plötzlich auf einen ehemaligen Busenfreund gestossen sei, der nun der neuen Minister-Riege angehört.
Die Anekdote bewirkte, dass sich in den folgenden zwei Stunden die Konversation fast ausschliesslich um die Frage nach den illegitimen Kinder französischer Politiker drehte. Mit geradezu kulinarischer Lust etablierte die Tischrunde ein ‚Who’s with Whom‘ bekannter Namen. Bereits am französischen Hof, meinte Monsieur Franck rechtfertigend, sei die beliebteste Tischkonversation die Frage gewesen, wieviele Bastarde der König gezeugt habe.
Ich kann es nicht beweisen, aber...
Das Interesse der Anwesenden richtete sich gar nicht so sehr auf den neuen Bewohner des Elysees und die insgesamt sechs Kinder des unverheirateten Paares, die nun theoretisch dort einziehen könnten. (Noch weniger sprach man von Strauss-Kahn; seine Frau habe ihn verlassen, sagte F. kalt und abschliessend, und damit sei er „sozial gestorben“). Von weit grösserem Interesse waren frühere Amtsinhaber, und jede Geschichte überbot die andere im Aufzählen unehelicher Sprösslinge.
So erfuhren wir, dass Francois Mitterand nicht nur die schöne Mazarine gezeugt hatte, sondern vielleicht auch ... Segolène Royale. „Ich kann es nicht beweisen“, so Ordensritter Franck, „aber haben Sie schon einmal das Profil der Beiden nebeneinander gehalten? Die Ähnlichkeit ist eklatant! Und Tatsache ist, dass Madame Royales Mutter im Wahlkreis-Büro des Abgeordneten Mitterand gearbeitet hatte“. Selbst der sakrosankte General de Gaulle kam nicht ungeschoren davon. Politik und Virilität vertragen sich offensichtlich gut, was laut unserem Gastgeber auch daraus ersichtlich werde, dass die Politiker ihre Eskapaden wie ein Ehrenzeichen tragen und selten gegen Gerüchte vorgehen – „es sei denn, sie wollen sie weiter schüren“.
Gandhis lebenslanger Kampf mit der Lust
Dasselbe gilt erstaunlicherweise auch für Indien, das im Gegensatz zu Frankreich noch ein puritanischer Staat ist, der Homosexualität bis heute nicht entkriminalisiert hat. Aber der Staat ist nicht gleichzustellen mit der Gesellschaft. Als eine kürzlich Biografie über Mahatma Gandhi dessen enge Freundschaft mit seinem südafrikanischen Mitstreiter Werner Kallenbach erwähnte und in ihr sublimierte erotische Tendenzen fand, brach unter den Politikern ein Entrüstungssturm aus. Doch er verebbte rasch, als die Medien darauf hinwiesen, dass gerade Gandhi einer der (weltweit) wenigen Politiker gewesen sei, der sich offen mit seiner Sexualität auseinandersetzte. Er mochte in Vielem ein Puritaner gewesen sein, der sich bereits im Alter von 35 Jahren das Gelübde lebenslanger Enthaltsamkeit abrang.
Aber dies war nur ein Meilenstein in seinem lebenslangen Kampf mit der Lust, den er zudem offen vor seinen Getreuen ausfocht. In einem gewissen Sinn war diese Auseinandersetzung eine indische Theorie der Beziehung zwischen Sex und Macht, die in ihrer Offenheit an die Orgon-Experimente eines Wilhelm Reich erinnert. Für Gandhi ist die Libido eine Urkraft, die sich in der Sexualität ebenso Bann bricht wie in politischer Machtlust und Gewalt. Sie muss nicht einfach unterdrückt, sondern gebändigt und damit zur ‚Shakti‘, göttlicher Energie, gereinigt werden.
Die Kraft der Gewaltlosigkeit
Die Kraft der Gewaltlosigkeit entzündet sich für Gandhi in sexueller Enthaltsamkeit. Und wenn der gewaltlose Widerstand in offene Gewalt umschlug, sah er den Grund in seiner fehlenden asketischen Disziplin. Als 1946/47 die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen in Pogrome ausarteten, legte sich Gandhi nachts nackt zwischen zwei junge Frauen, um die ‚Reinheit‘ seiner Gedanken zu überprüfen und mit der Überwindung jeder Spur von Begehrlichkeit die Kraft zu finden, den Gewalttrieb seines Volks zu bändigen.
Allerdings – in Einem gleichen sich Theorie und Praxis, Indien und der Westen, Gandhi und Strauss-Kahn: das Subjekt von Macht und Lust ist fast immer der Mann, und die Frau ist patriarchalisches Objekt. Zwar behauptet das Sprichwort, hinter jedem erfolgreichen Mann stehe eine Frau. Aber das ‚Droit du Seigneur‘ bleibt unangetastet, so wie es Groucho Marx andeutete, als er besagtem Sprichwort den Satz anhängte: „...und hinter ihr steht seine Gattin“.