Kurz vor dem Beginn der Welt-Klima-Konferenz im ägyptischen Sharm-el-Sheikh prangerten, endlich, zumindest einige internationale Menschenrechts-Organisationen das Regime von Präsident as-Sissi an: 65’000 politische Häftlinge darbten in den total 78 Gefängnissen des Landes, 356 Todesurteile seien im Verlauf von zwölf Monaten erlassen und 83 vollstreckt worden – und was die Medienfreiheit betrifft, befinde sich Ägypten jetzt auf dem unrühmlichen Rang 168 (von 180 Ländern).
Unter den Inhaftierten sind auch 22 Journalisten. Wer auch immer an der Klima-Konferenz teilnehmen wolle, der oder die Journalistin solle sich bitte auch mit der skandalösen humanitären Lage unter Diktator as-Sissi befassen, lautete, verkürzt, der Appell. Allerdings: Er wurde nicht vom ganzen Spektrum der NGOs getragen – einige grössere hielten sich im Hintergrund.
Weshalb wird as-Sissis Regime verschont?
Greenpeace etwa wollte sich einem Aufruf zur Freilassung politischer Gefangener im Vorfeld der Klimakonferenz nicht anschliessen, weil die Arbeit in Ägypten «bedeutende Risiken für die Mitarbeiter» beinhalte, wie ein Sprecher von Greenpeace International gegenüber dem britischen «Guardian» sagte.
Und was konnte man von irgendwelchen Regierungen zu diesem Thema hören? Schlicht nichts – as-Sissis Regime wird verschont. Weshalb? Katars Herrschende müssen sich harsche Kritik von westlichen Ministerinnen und Ministern im Vorfeld der Fussball-WM anhören, und jeder Politiker, der nach Saudiarabien oder nach China reist, hat im Gepäck Forderungen von Menschenrechts-Organisationen des Inhalts, dass sie vor Ort lautstark erklären müssen, dass man im «freien Westen» gar nicht einverstanden sei mit der Unterdrückung von Opposition, von freier Meinung, von Medien und dass man unverzüglich oder sehr bald die Freilassung politischer Gefangener erwarte.
Sonst – nun ja, wahrscheinlich gibt es bei solchen Begegnungen auf hoher Ebene eben kein «Sonst», denn im Kern geht es bei Staats- und Arbeitsbesuchen ums Geschäft. Die Reklamationen rund um das Thema Menschenrechte sind, nüchtern betrachtet, eine vielleicht nicht immer ganz nutzlose, aber doch wenig wirksame Garnitur. Das wissen sicherlich auch die Mächtigen in den betreffenden Ländern und nehmen, das kann man zumindest mit gutem Grund vermuten, die Ermahnungen der Besucherinnen, der Besucher mit stoischer Gelassenheit zur Kenntnis.
Kairos gigantische Bau- und Entwicklungsprojete
Beim Thema Geschäft sind wir beim ersten springenden Punkt im Problemfeld Ägyptens und des Regimes von as-Sissi: Im Land am Nil werden gigantische Projekte nicht nur geplant, sondern auch realisiert, und da ist (wenn alles gut geht …) Geld zu verdienen. Östlich von Kairo (da leben bereits mehr als 20 Millionen) wird eine neue Hauptstadt für 6,5 Millionen Menschen hochgezogen. Total will as-Sissi 22 neue Industriestädte, acht Flughäfen, drei Häfen, 25 Touristencluster und 20’000 Schulen bauen lassen.
Seit seiner Machtübernahme (2013 stürzten er und seine Militärs, in einem Putsch, die Regierung der Muslimbrüder) sind 7000 Kilometer Strassen gebaut worden – derzeit pflügen sich die Baumaschinen, u. a., durch jenes historische Viertel Kairos, in dem sich die so genannte Totenstadt, ein riesiger Friedhof, befindet. Und vor kurzem erhielt der Konzern Siemens einen Rekord-Auftrag für den Bau einer Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnstrecke von Kairo bis nach Assuan oder sogar nach Abu Simbel. 8,1 Milliarden umfasst der Auftrag, er soll die bisherige Reisezeit von weit über 24 Stunden auf wenige Stunden reduzieren.
Chinesische Firmen anderseits investieren in die Entwicklung einer neuen Wirtschaftszone am Suezkanal, und der chinesische Staat steigerte seine Investitionen in Ägypten auf rund fünf Milliarden im Zeitraum von fünf Jahren. Unter Fachleuten ist umstritten, ob das Land am Nil sich nicht auf unverantwortliche Weise verschulde. Einige Grossprojekte (der Bau gewisser Städte zum Beispiel) könnten unmöglich wirtschaftlich sinnvoll sein, wird argumentiert, andere aber vielleicht schon – die Bahnlinie etwa.
Steiler Anstieg der Auslandlandverschuldung
Die «Stiftung Wissenschaft und Politik» in Berlin publizierte zu diesem Thema eine gründliche Studie, u. a. mit dem Befund, dass sich die Auslandsverschuldung innerhalb von acht Jahren mehr als verdreifacht habe und jetzt, gemessen am BIP, auf mehr als 150 Prozent angestiegen sei. Ein Ende der Schuldenaufnahme sei nicht abzusehen, schreiben die Autoren der Studie, und erinnern daran, dass Ägypten aufgrund von Zahlungsproblemen zuletzt im März 2022 den Internationalen Währungsfonds um Hilfe ersuchen musste.
Allerdings: Wer die Statistiken anschaut, stellt fest, dass die Auslandsverschuldung des Landes jetzt, 2022, mit 38,5 Prozent des BIP noch immer tragbar scheint. Das alles, zusammen betrachtet, beinhaltet eines der vielen Rätsel Ägyptens.
Damit, nach dem Blick auf die Wirtschaft, zum zweiten Punkt: Ägypten ist für die Mächtigen der Region (Saudiarabien, Vereinigte Arabische Emirate), auch für Westeuropa und die USA, «too big to fail». Was heisst das? An den Schaltzentralen der Mächte herrscht Angst, dass Ägypten mit seinen mehr als 100 Millionen Menschen, geografisch am Kreuzungspunkt mächtiger Warenströme gelegen, ein islamistischer Staat und damit ein regionaler Unsicherheitsfaktor mit Ausstrahlungsrisiko auf noch umfassendere Regionen (in Nahost und in Afrika) werden könnte.
Angst vor dem Islamisten-Risiko
Der Rückblick auf die Jahre 2012/2013 wurde zu einem Lehrstück: Damals regierten die Moslembrüder (aufgrund freier Wahlen) das Land am Nil, und wären sie, mit Mohammed Mursi, an den Schalthebeln der Macht geblieben, hätte das zu einem Domino-Effekt führen können. Die Ängste hinsichtlich eines solchen Islamisten-Risikos bei den erwähnten Mächten führte dazu, dass die Regierungen, vor allem der USA, Saudiarabiens und der Emirate (halblaut unterstützt von westeuropäischen Regierungen), die Machtübernahme durch as-Sissi guthiessen und nach bestem (oder schlechtestem) Gewissen vermieden, von einem Putsch zu sprechen.
Sie begannen, das Sissi-Regime mit Geld und Waffen zu unterstützen. Die USA überweisen jährlich rund 1,3 Milliarden nach Kairo (um die NGOs zu besänftigen, blockierten die USA, unter Joe Biden, davon einmal 130 Millionen, also zehn Prozent), die Europäer helfen ebenfalls – auch, weil sie der Meinung sind, as-Sissi könne die illegale Migration über das Mittelmeer zumindest etwas bremsen.
Aber auch in die politischen Überlegungen mischt sich bisweilen das Geschäft: Deutsche Rüstungskonzerne lieferten in der letzten Zeit Waffen im Wert von bis zu 4,34 Milliarden Euro pro Jahr. Im letzten Amtsjahr genehmigte die Grosse Koalition mit Angela Merkel als Kanzlerin noch die Exporte von drei Fregatten und 16 Luftverteidigungssystemen. Die meisten Waffen aber kommen aus den USA – was im Klartext bedeutet, dass die amerikanischen Rüstungs-Konzerne (aber, wie erwähnt, auch die deutschen) von der Ägypten-Angst der Regierenden profitieren.
Im Dilemma zwischen Moral und Destabilisierung
Und was ist die Lehre aus all dem? Leider keine konkrete. Die NGOs werden weiterhin darauf drängen, das ägyptische Regime wegen dessen Verstössen gegen die Menschenrechte anzuprangern – die tonangebenden Regierungen der mittelöstlichen Region und die Mächtigen im Westen werden weiterhin, koste es, was es wolle, das as-Sissi-Regime stützen. Und wir werden uns darüber Klarheit verschaffen müssen, dass viele unserer Aussensichten in einem Konflikt stecken. Wir möchten ja so gerne unsere (berechtigten) ethischen und moralischen Vorstellungen global durchsetzen – aber möchten wir auch eine tatsächlich denkbare (zusätzliche) Destabilisierung einer ganzen Region in Kauf nehmen? Wahrscheinlich nicht.