Er gehört zweifellos zu den hervorragenden Sprachkünstlern der deutschen Gegenwartsliteratur, wurde früher in den Theatern viel gespielt, geriet, wegen seiner – um es nett zu sagen – konservativen politischen Ansichten ins Abseits, aus dem er sich regelmässig und unbeirrt mit bemerkenswerten Schriften an seine treue Leserschaft wendet.
Seine zwei jüngsten Streiche versprechen hohen Lesegenuss und faszinieren, auch wenn jeder Leser, jede Leserin wird zugeben müssen, dass sich einiges von dem, was der Autor schreibt, dem Verständnis entzieht. Für dieses unlösbare Problem findet Strauss, wie für fast alles, ein sowohl „sprechendes“ wie rätselhaftes Bild: „Es steckt in der Sprache etwas, das drückt und drängt. Etwas, das sie buchtet und beult, weil es hinauswill wie ein gefangenes Tier. Für immer entkommen. Ist es etwa das Zusammengepferchte von Unding, Abgrund, Numen und Werg, das in Gestalt eines Wühlers durch unsere Sprache buckelt und findet den Ausgang nicht mehr?“
„Der Fortführer“
Das eine der beiden Bücher nennt sich „Der Fortführer“. Gemeint ist der Status des Schriftstellers, der, ob er es zugibt oder nicht, immer auf schon Geschriebenes, schon Gedachtes zurückgreift. „Man ist Fort-Führer – oder es gibt einen gar nicht. Der Dichter führt vorangegangene Dichter fort. Der Dichter führt aber auch Leser fort, entfernt sie aus ihren Umständen, Belangen und Geschäften.“ Im ersten, experimentelleren und offeneren Teil seines Buchs konfrontiert uns Strauss mit Gedankensplittern, Reflexionen, Minierzählungen, genauen Naturbeobachtungen, Träumen, scharfsinnigen Folgerungen. Poetisches Material, naheliegend oder weit hergeholt, explodiert förmlich auf den Seiten des Buchs vor einem Bildungshorizont, in dem sich, wie Sterne in klarer Nacht, die Namen von Vorgängern unseres Autors finden, die ihn inspiriert haben.
Man braucht Zeit, um mit Strauss’ Inhalten zurechtzukommen, muss vieles zwei- und dreimal lesen, um das zu erleben, was der Autor meint, wenn er vom Leser spricht, der sich bei der Lektüre aus „Belangen und Geschäften“ entfernt.
Der zweite, explizitere Teil des Buchs, gibt Logik und Ratio mehr Raum, auf Kosten der Fantasie. Jetzt zeigt der „Fortführer“ mitunter auch seine empfindliche und seine polemische Seite, kritisiert die aktuelle Kulturindustrie, verhöhnt die armselige Sprache der „Gegenwartsnarren“, womit er wohl die blind dem Zeitgeist huldigenden Kollegen meint, macht kein Hehl aus seiner Verachtung für die entsprechende Literatur und versteigt sich einmal sogar so weit, dass er sich das „rohe Verfluchen“ an Stelle des Kritisierens herbeiwünscht. Das sind bewusste Ausrutscher oder Zuspitzungen, wie man sie von Strauss kennt und in Kauf nehmen muss, ohne zuzustimmen, wenn man sich auf die luziden Fragmente einlassen will.
Berührt von Henri Matisse
Das andere, grossformatige Buch, eine Exklusivität, trägt gar keinen richtigen Titel. Es enthält 76 grafische Arbeiten des französischen Malers Henri Matisse (1869–1954). Botho Strauss begleitet die Lithografien, Holzschnitte, Radierungen, Linolschnitte und Aquatinten mit Reflexionen. Das können nachdenklich-eigenwillige Gedankenfolgen sein, die sich an einem der Blätter entzünden, oder weit führende Interpretationen, die ihren Ursprung in ganz genauen Bildbeschreibungen haben. Und es gibt die autonom wirkenden Kurztexte, die in keinem direkt ersichtlichen Zusammenhang zum Thema stehen, aber in assoziativer Manier, eine Art Subtext zu den Matisse-Reflexionen liefern.
Die Matisse-Arbeiten, Frauenakte zur Hauptsache, befinden sich im Pablo-Picasso-Museum in Münster. Der Museumsdirektor Markus Müller steuert dem Buch einen handfesten kunstgeschichtlichen Essay bei, der die grafischen Blätter charakterisiert und ins Werk des Franzosen integriert. Das Buch beginnt mit den Strauss-Reflexionen, die sich mitunter an Äusserungen des Malers, der selber über seine Arbeiten reflektiert hat, anlehnen; es folgen die Abbildungen, zwischen die (eine preziös anmutende, unnötige Massnahme) einzelne Strauss-Texte noch einmal geschoben werden. Müllers Essay beschliesst das Buch.
Der Ästhet und der Sprachkünstler
In gewissem Sinn ist das Matisse-Buch eine Weiterentwicklung des „Fortführers“ und dass sich der Autor von diesem Maler inspirieren lässt, kann man gut nachvollziehen. Matisse, der Ästhet, der an klassischer, antiker und mythologischer Schönheit Orientierte, eher ein Traditionalist denn ein Avantgardist – das muss Strauss anziehen.
Grossartig, wie seine tief schürfende Sprachkunst sich unter dem Eindruck der eleganten, erotischen Zeichnungs-Kunst des Franzosen verflüssigt. In übertragenem Sinn fühlt sich Strauss „berührt“ von den grafischen Blättern des Malers und diese Berührungen führen zu funkelnden poetischen Eruptionen und Reflexionen. Aus der Begegnung und Berührung zweier Sprachen auf hohem Niveau, einer aus Worten, einer aus Linien gemachten, aus geschriebenen und gezeichneten Gedanken und Gefühlen wird ein komplexes Ganzes von hohem Reiz.
Botho Strauss: Der Fortführer, Rowohlt Verlag.
Botho Strauss: Reflexionen, Henri Matisse: Estampes, Markus Müller, Essay, Kleinheinrich Verlag.