Acht Jahre sind genug. Sagt Lula, und niemand - vielleicht nicht einmal er selber - weiss, ob er es ernst meint. An diesem Abend in Recife betont er einmal mehr, dass er bei der nächsten Präsidentenwahl im Jahr 2014 seine Wunschnachfolgerin Dilma Rousseff, die am Samstag offiziell in seine (grossen) Fussstapfen tritt, unterstützen werde. Vor ein paar Tagen hatte der 65-jährige hingegen in einem Fernsehinterview durchblicken lassen, dass er eine weitere Kandidatur in vier Jahren nicht von vorneherein ausschliesse.
Scheiden tut weh
Doch jetzt gilt es so oder so Abschied zu nehmen. Und man spürt, dass es dem ehemaligen Metallarbeiter, der auf dem steinigen Weg nach oben gelernt hat, wann er hemdsärmelig vor sein Publikum treten muss und wann Armani-Anzug und Krawatte gefragt sind, nicht leicht fällt, auf dem Höhepunkt seiner Popularität abzutreten. Zwar hat er in den letzten Wochen immer wieder hervorgehoben, wie sehr er sich darauf freue, endlich wieder ein normales Leben führen zu können, mit alten Freunden bei gegrillten Steaks und Bier zusammenzusitzen und sich intensiver um das Familienleben zu kümmern.
Doch von den Zehntausenden Pernambucanos, die trotz hochsommerlicher Hitze stundenlang auf ihn warten, weil sie bei seinem letzten grossen öffentlichen Auftritt im Zentrum der 1,5-Millionenstadt Recife unbedingt dabei sein wollen, kann sich wohl keiner so richtig vorstellen, dass die politische Saftwurzel Lula von heute auf morgen ein gewöhnliches Rentnerdasein fristen wird. Wahrscheinlicher ist, dass er auch künftig Einfluss auf die Regierungspolitik nehmen wird - mehr oder weniger diskret aus dem Hintergrund. Und das, obschon ihm seine politische Ziehtochter Rousseff hoch und heilig versprochen hat, seinem Erbe Sorge zu tragen, und darüber hinaus etliche seiner engsten Vertrauten in ihr Kabinett aufgenommen hat.
Mit Gottes Hilfe und Hartnäckigkeit
In seiner von Genugtuung und Wehmut geprägten Abschiedsrede, die immer wieder von Beifall unterbrochen wird, zeichnet Lula noch einmal den Weg nach, den er gehen musste, um vom armen Bauernknaben aus einem kleinen Ort im Bundesstaat Pernambuco zum Staatsoberhaupt aufzusteigen. Vier Anläufe waren nötig, bis er endlich am Ziel war. Und dazu, so glaubt er, ein Fingerzeig Gottes. "Nur mit seiner Hilfe konnte einer, der aus seinem Dorf fliehen musste, um nicht zu verhungern, Präsident der Republik werden", sagt der begnadete Rhetoriker und kann die Tränen endgültig nicht mehr zurückhalten.
Stolz weist er auf all die Projekte hin, die in den vergangenen acht Jahren in Pernambuco mit Unterstützung der nationalen Regierung in Angriff genommen wurden: die Umleitung des Flusses São Francisco, mit der der Wassermangel in der Region bekämpft werden soll, der Bau einer Eisenbahnlinie und einer Raffinerie sowie verschiedene Strassensanierungen. Die Bundesstrasse BR 101, die ganz Brasilien durchquert, sei heute in einem besseren Zustand als jede europäische Autobahn, stapelt der abtretende Staatschef ein bisschen hoch. "Nicht einmal die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel kann auf einer so gepflegten Strasse fahren."
Auch wenn Lula in diesem Fall etwas dick aufgetragen hat: Die Bilanz seiner achtjährigen Regierungstätigkeit kann sich sehen lassen. Zwar ist er nicht die Lichtgestalt, als die ihn seine engsten Anhänger feiern, und er hat wie jeder Politiker bei weitem nicht alle seine Versprechen gehalten. Aber der charismatische Volkstribun hat wesentlich mehr erreicht, als ihm seine politischen Gegner und wohl auch mancher seiner Wähler zutrauten. Das frühere Krisenland erfreut sich heute politischer und wirtschaftlicher Stabilität. Während Lulas Regierungszeit ist die brasilianische Volkswirtschaft weltweit unter die ersten zehn vorgerückt - in erster Linie dank der ständig wachsenden globalen Nachfrage nach Rohstoffen und Agrarerzeugnissen.
Lateinamerikas grösstes Land hat auch die internationale Finanzkrise verhältnismässig gut überstanden. Der wirtschaftliche Aufschwung hat das soziale Gefüge deutlich verändert. Die Hälfte der 195 Millionen Brasilianer gehört heute dem Mittelstand an. Der Anteil der Armen ist in den vergangenen acht Jahren von 35 auf 18 Prozent gesunken. Die sogenannten Familien-Stipendien, von denen 13 Millionen Haushalte profitieren, haben dazu beigetragen.
Die tiefen Wurzeln der frühen Kindheit
Es ist kein Zufall, dass Lula in der Stunde des Abschieds nach Recife wollte. Der scheidende Präsident fühlt sich dem Nordosten Brasiliens, auf den viele Bewohner des wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Südens mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung herunterschauen, eng verbunden. Lula kam dort im Oktober 1945 zur Welt, in der kleinen Bauerngemeinde Caetés im Bundesstaat Pernambuco. Als er sieben war, reiste seine Mutter mit ihren acht Kindern dem Vater nach, den die bittere Not in einer der ärmsten Regionen des Landes zur Abwanderung in den Süden Brasiliens gezwungen hatte.
Der Vater hatte jedoch mittlerweile erneut geheiratet, und Mutter Eurídice, die alle Dona Lindú nannten, blieb mit ihrer Kinderschar auf sich selbst gestellt. Auch an ihrem neuen Wohnort, der Wirtschaftsmetropole São Paulo, lebte die Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen. Lula musste mit zwölf Jahren von der Schule abgehen und als Laufjunge in einer Fabrik einen Teil zum Lebensunterhalt beisteuern. Später wurde er beim Schraubenhersteller Parafusos Marte als Metallarbeiter angelernt.
"Gott wohnt in Brasilien"
Die Jahre in Caetés scheinen ihn stark geprägt zu haben. Er selbst weist immer wieder auf seine bäuerliche Herkunft hin und spricht bei jeder Gelegenheit mit viel Wärme und einem Hauch von Nostalgie von seiner alten Heimat. "Das ist nicht selbstverständlich", sagt ein Sprecher der Gemeindeverwaltung in Caetés. "Viele, die weggingen, schämen sich ihrer Herkunft, weil diese Gegend wirtschaftlich weniger stark entwickelt ist und als rückständig gilt." Lula hingegen hat den Kontakt zur Region nie abgebrochen, auch deshalb nicht, weil hier noch zahlreiche seiner Verwandten leben.
Jetzt, nach der Pensionierung, wird er sich vielleicht öfters dort aufhalten. Oder sonst irgendwo in Brasilien. Dem Paradies auf Erden , das - wie Lula zu wissen glaubt - selbst in der Gunst des Allmächtigen an erster Stelle steht. "Gott schützt alle Länder", sagte er einmal, "aber wohnen will er bestimmt in Brasilien."