Alexander Lukaschenko ist zwar zwei Jahre jünger als der 67-jährige Wladimir Putin. Doch Lukaschenko war schon sechs Jahre weissrussischer Staatschef, als Putin vor 20 Jahren die Macht in Moskau übernahm. Beide sind in der Wolle gefärbte Erben des auseinandergefallenen Sowjetsystems. Lukaschenko hatte Agronomie studiert und es zum Kolchose-Direkter gebracht. Putin hat seine beruflichen Erfahrungen im sowjetischen Geheimdienst gesammelt.
Der Unionsvertrag – eine Bauruine
Schon Präsident Jelzin hatte mit Lukaschenko einen russisch-weissrussischen Unionsvertrag unterzeichnet. Weitherum wurde damit gerechnet, dass die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken sich in absehbarer Zeit zu einer Art Bundesstaat mit einer zentralen Regierung und gemeinsamem Staatspräsidium zusammenschliessen könnten.
Dazu ist es auch rund ein Vierteljahrhundert später nicht gekommen – obwohl Jelzins Nachfolger Putin es an Versuchen und Pressionen in diese Richtung nicht hat fehlen lassen. Ein Hauptgrund dafür, dass der russisch-weissrussische Zusammenschluss mehr oder weniger eine Bauruine geblieben ist, ist beim weissrussischen Langzeitmachthaber Lukaschenko zu suchen. Er zeigte wenig Lust, sich bei einer engen Union mit dem übermächtigen russischen Nachbarn mit einer Nebenrolle zu begnügen. Er wollte lieber im eigenen Machtbereich mit immerhin 10 Millionen Einwohnern weiterhin schalten und walten, anstatt an der Seite des Kremlherrn bestenfalls eine zweite Geige spielen.
Es gibt etliche Indizien, die dafür sprechen, dass Putin noch im vergangenen Winter intensiv versucht hat, Lukaschenko zu einer Vollendung des Unionsprojekts zu bewegen. Mit diesem Vehikel, so die Spekulationen, hätte er neu das Präsidium des auszurufenden bilateralen Staates übernehmen können. Was ihm wiederum die Mühe erspart hätte, die russische Verfassung mit Hilfe einer fragwürdigen Volksabstimmung im Juni derart zu manipulieren, dass er ab 2024 noch für weitere 12 Jahre an der Macht bleiben kann. Doch der nicht weniger machthungrige und misstrauische Lukaschenko liess sich auch für diesen Plan nicht erwärmen.
Lukaschenkos Distanzsignale
Putin hatte, um den Druck auf den benachbarten Bruder im Geiste zu erhöhen, schon zuvor die Vorzugspreise für russische Erdöl- und Gaslieferungen empfindlich gekürzt, was die weissrussische Wirtschaft, die in hohem Masse von der Veredelung und dem Weiterverkauf dieser Energieträger lebt, in schwere Bedrängnis brachte. Doch der hartgesottene Lukaschenko liess sich dennoch nicht dazu herbei, in allen Machtfragen nach der Pfeife des Kremls zu tanzen. Schon bei der handstreichartigen Annexion der Krim und der militärischen Einmischung Russlands in der Ostukraine hatte der Diktator in Minsk es auffällig vermieden, Putins Expansionsunternehmungen abzusegnen. Offenkundig ging es ihm bei diesen Distanzierungssignalen vor allem um die Sicherung seiner eigenen Machtinteressen.
Im Vorfeld zu den am vergangenen Wochenende stattgefundenen Pseudo-Präsidentschaftswahlen versuchte Lukaschenko ausserdem, mit Hilfe von Nadelstichen gegenüber dem grossen Nachbarn Russland, die Wähler im eigenen Lande für seine Wiederwahl zu mobilisieren. Er liess 33 russische Mitglieder der berüchtigten Söldnertruppe Wagner festnehmen, die angeblich versuchten, Massenunruhen in Weissrussland zu schüren. Laut Moskauer Darstellung hielten sich die Wagner-Leute lediglich auf der Durchreise in ein afrikanisches Einsatzgebiet in Weissrussland auf. Welches die wahren Hintergründe dieser propagandistisch aufgetischten Räubergeschichte sind, bleibt bisher völlig schleierhaft.
Tatsache ist hingegen, dass es nach dem Urnengang vom Wochenende in ganz Weissrussland zu grösseren Protesten gegen das weitherum als vom Regime krud zugunsten Lukaschenkos gefälschte Ergebnis gekommen ist. Ebenso eindeutig ist die brutale Repression, mit der der Machthaber in Minsk den zivilen Widerstand zu ersticken versuchte.
Putin gratuliert zum unglaubwürdigen Wahlsieg
Lukaschenkos Geistesbruder in Moskau liess sich indessen von diesem antidemokratischen Skandal nicht beirren. Per Telegramm gratulierte er dem Minsker Kollegen höflich zu dessen unglaubwürdigem Wahlsieg. Er gab gleichzeitig der doppelbödigen Hoffnung Ausdruck, dass dieses Ergebnis zur Vertiefung der in Aussicht genommenen russisch-weissrussischen Union beitragen werde.
Putin, der in Sachen Demokratie-Hintertreibung und Wahlmanipulation auch kein Anfänger ist, wird zwar an dem politische Aufruhr im Nachbarland und dessen empörtem Echo in weiten Teilen der Welt kaum Gefallen finden. Aber als abgebrühter Taktiker mag er sich auch ein wenig die Hände reiben, dass sein oft widerspenstiger Partner Lukaschenko nun derart tief in die Bredouille geraten ist. Damit dürfte sich auch der Spielraum des Minsker Bruders im Geiste gegenüber den Moskauer Annäherungsavancen und Gleichschaltungswünschen erheblich verengt haben.
Allerdings spricht wenig für die Spekulation, dass Putin ernsthaft an einem Sturz Lukaschenkos interessiert sein könnte. Schon in der Ukraine hat der Kremlchef ungute Erfahrungen mit der unfreiwilligen Entmachtung von Potentaten gemacht, die ihm und seinem postsowjetischen Ideologiemuster einigermassen nahestanden. Tiefer beunruhigen aber dürften Putin und sein Machtklüngel die möglichen Ausstrahlungen der weissrussischen Strassen- und Arbeiter-Proteste auf die russische Bevölkerung. Was in dem historisch, kulturell und mentalitätsmässig eng verwandten Nachbarland in diesen Tagen vorgeht, wird offenbar in der russischen Öffentlichkeit ziemlich aufmerksam verfolgt.
«Sie kämpfen auch für unsere Freiheit»
Zwar wird in den russischen Medien und vor allem im vom Kreml beherrschten Fernsehen, ähnlich wie bei der Maidan-Rebellion vor sechs Jahren in der Ukraine, auch über westliche Intrigen und Unruhestiftungen in Weissrussland berichtet. Doch in den putin-kritischen Nischenmedien liest man auch Kommentare, die die aktuellen Vorgänge im Nachbarland in einen direkten Zusammenhang mit der politischen Situation in Russland stellen.
Wenn Lukaschenko nach den brutalen Repressionen der letzten Tage weiter auf seinem Thron sitzen bleiben könne, so sei dies ein «Beispiel für andere autoritäre Regime im postsowjetischen Raum», schreibt der Kolumnist Kirill Martynov in der russischen Zeitung «Nowaja Gaseta». Und er fährt fort: «In diesem Sinne und nicht nur aus Gründen der abstrakten Menschenwürde kämpfen die Weissrussen jetzt nicht nur für sich selbst, sondern auch für unsere Freiheit.»
Die Mehrheit der russischen Bevölkerung wird den Aufruhr in Weissrussland gegen den Langzeitherrscher Lukaschenko kaum als Initialzündung zum Sturm gegen das eigene Putinsche Dauerregime auffassen. Doch Putin selber wird das weitere Schicksal seines Gesinnungsbruders in Minsk bestimmt nicht mit gelassener Distanz beobachten. Der Gedanke daran, dass im eigenen Land schon verschiedene Protestwellen ähnlicher Art (etwa im vergangenen Sommer 2019 und im Winter 2012 in Moskau und gegenwärtig im fernöstlichen Chabarowsk) ausgebrochen sind, wird seinem Schlaf nicht förderlich sein.