Die überwiegende Reaktion auf das Ergebnis der weissrussischen Parlamentswahl vom vergangenen Sonntag ist ein resigniertes Schulterzucken. Gegen den „letzten Diktator in Europa“, der seit 1994 mit einer Mischung aus Skrupellosigkeit und Bauernschlauheit die ehemalige Sowjetrepublik beherrscht, scheint kein Kraut gewachsen. Der ehemalige Kolchos-Vorsitzende kann es sich leisten, am Wahltag die – leider schwer zerstrittene – Opposition als „feige“ zu verhöhnen und sich über die Kritik im Westen an den Wahlbedingungen lustig zu machen.
EU verhängt Reiseverbote und Kontosperrungen
Doch in Wirklichkeit kann Lukaschenko heute seine Macht keineswegs mehr so selbstherrlich und sprunghaft wie in früheren Jahren ausspielen. Seit der gewalttätigen Unterdrückung grösserer Protestdemonstrationen im Zusammenhang mit den krud manipulierten Präsidentenwahlen vor zwei Jahren und der zeitweisen Verhaftung aller bekannten Oppositionsführer sind die Beziehungen zur EU eingefroren. Hohe EU-Vertreter hatten der Minsker Regierung zuvor grössere Kredite und andere wirtschaftlichen Anreize in Aussicht gestellt, sofern Lukaschenko überzeugende Schritte zur Respektierung demokratischer Grundregeln in die Tat umsetze.
Nach der schwer diskreditierten Präsidentenwahl und der rücksichtslosen Repression von Bürgerprotesten blies die EU ihre Verständigungsversuche mit Minsk wieder ab. Brüssel verhängte stattdessen Reiseverbote und Kontosperrungen gegen Lukaschenko und 190 höhere Funktionäre seines Regime.
Minsk muss Gaspipeline-Netz an Gasprom verkaufen
Damit hatte der Despot in Minsk seinen in früheren Jahren gelegentlich gern genutzten Manövrierraum für allerhand taktische Winkelzüge zwischen Brüssel und Moskau selber versperrt. Im vergangenen Jahr geriet seine Regierung im Gefolge der weltweiten Wirtschaftskrise in spürbare Bedrängnis. Der weissrussische Rubel verlor dramatisch an Aussenwert, die Preise etwa für Benzin und andere Importgüter kletterten steil in die Höhe. Dies wiederum schürte die Unzufriedenheit in der Bevölkerung.
Lukaschenko sah, um die Krise zu entschärfen, keinen andern Ausweg, als sich wieder einmal mit dem finanziell potenten Nachbarn Russland zu verständigen. Er war genötigt, ein altes Anliegen Moskaus zu akzeptieren, nämlich den Verkauf der restlichen 50 Prozent der Anteile am weissrussischen Gaspipeline-Netz an den russischen Staatskonzern Gasprom. Ausserdem gewährte er im Abkommen vom November 2011 Russland ein Vorkaufsrecht bei der geplanten Privatisierung von 240 weissrussischen Staatsfirmen.
Moskaus Gegenleistung: Billigere Energiepreise
Als Gegenleistung gewährte Moskau markant billigere Lieferpreise für russisches Erdgas und Erdöl. Hinzu kam ein Kredit in der Höhe von 10 Milliarden Dollar für den Bau eines Atomkraftwerkes in Weissrussland. Schon einige Monate zuvor hatte Lukaschenko sich an der Schaffung einer Zollunion mit Russland und Kasachstan beteiligt – ein Projekt, das Putin langfristig zu einer Art Gegenpol zur EU ausbauen möchte. Seit einiger Zeit versucht der Kreml, auch die Ukraine für dieses Unternehmen zu gewinnen, bisher ohne Erfolg.
Lukaschenko hat mit diesen Grossgeschäften mit dem russischen Nachbarn einerseits die akute wirtschaftliche Krise in seinem Land vorerst beruhigen können. Andererseits ist er damit in wesentlich verstärkte Abhängigkeit von Moskau geraten. Durch den Verkauf des weissrussischen Gaspipeline-Netzes an Gasprom verliert Minsk ein Gegendruckmittel für den Fall, dass man im Kreml die Gas- und Ölpreise auch gegenüber dem kleineren Nachbarn eines Tages wieder empfindlich verteuern sollte. Auf jeden Fall sitzt Putin dank dieser massiv verstärkten wirtschaftlichen Abhängigkeit gegenüber Lukaschenko mehr als je zuvor am längeren Hebelarm.
Russisch-weissrussische Union – toter Buchstabe
Das ist indessen nicht unbedingt eine Garantie, dass der unberechenbare und reizbare Minsker Despot in nächster Zeit unfehlbar nur nach der Pfeife des Kremls tanzen wird.
Gelegentliche Aufwallungen und Fingerhakeleien zwischen Moskau und Minsk sind weiterhin möglich. Doch Lukaschenko wird angesichts seines sehr viel enger gewordenen wirtschaftlichen und politischen Spielraums gezwungen sein, schneller als in früheren Zeiten russischem Druck nachzugeben, wenn er nicht sein Machtfundament ins Rutschen bringen will.
Das noch unter Putins Vorgänger Jelzin vor mehr als einem Jahrzehnt vereinbarte Projekt einer umfassenden russisch-weissrussischen Union ist zwar noch nicht offiziell begraben, in der Praxis aber schon lange toter Buchstabe. Lukaschenko ist daran nicht mehr interessiert, seit er einsehen musste, dass seine wilden ursprünglichen Träume, eines schönen Tages das Zepter dieser Union übernehmen zu können, mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Und in Moskau besteht offenkundig kein Interesse mehr, sich mit dem sprunghaften Lukaschenko auf ein derartiges Wiedervereinigungs-Abenteuer einzulassen. Die in den letzten zwei Jahren signifikant verstärkte Abhängigkeit des Minsker Diktators von russischen Industrie-Unternehmen und Geldgebern ist für Putin die vorteilhaftere Variante.