Eine junge Frau mit einem Jagdgewehr rennt einer Hochautobahn entlang durch eine schüttere Wiesenlandschaft. Plötzlich schleudert sie mit einem Wutschrei die Waffe weg. So beginnt das kernige Politdrama „Und morgen die ganze Welt“ der deutschen Regisseurin Julia von Heinz (*1975). Auf der Leinwand erscheint dann der Wortlaut von Artikel 20, Absatz 4 des deutschen Grundgesetzes: „DieBundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (…). Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Die hinreissende Protagonistin von „Und morgen die ganze Welt“ heisst Luisa, 20-jährig, Jura-Studentin im ersten Semester an der Universität Mannheim. Gutbürgerliche Herkunft, der Vater hat adelige Wurzeln. An der Hochschule trifft Luisa Gleichaltrige aus allen sozialen Schichten, einige interessieren sich für die drängenden Probleme in der globalisierten Welt: Klimakrise, Migration und ganz besonders den Rechtsextremismus.
Blick von links nach rechts aussen
Die Sätze aus dem Grundgesetz sind wie Leitplanken für „Und morgen die ganze Welt“ (der Filmtitel ist dem nationalsozialistischen Propagandalied „Es zittern die morschen Knochen“ entnommen). In der Story geht es um die Auslegung des erwähnten Rechts zum Widerstand. Die erfolgreiche TV- und Film-Regisseurin Julia von Heinz („Ich bin dann mal weg“, „Katharina Luther“) und ihr Co-Autor und Ehemann John Quester nähern sich dem Thema parteilich an – linkspolitisch, antifaschistisch positioniert, mit einem scharfen Blick nach rechts aussen.
„Und morgen die ganz Welt“ stand seit der Jahrtausendwende auf der Agenda von Julia von Heinz, fand aber bei den staatlichen Fördergremien lange wenig Unterstützung. 2018 endlich war das ambitionierte Projekt dann als breit abgestützte deutsch-französische Gemeinschaftsproduktion in trockenen Tüchern, 2019 wurde gedreht. Am renommierten Filmfestival Venedig feierte das Werk 2020 als deutscher Wettbewerbsbeitrag Premiere. Nun ist es Deutschlands offizieller Beitrag für die Oscar-Nominierung als bester internationaler Film.
Regisseurin Julia von Heinz schickt in ihrem pulsierenden und polarisierenden Politdrama eine zupackende Frau in den Ring: Luisa, wie inkarniert von der deutschen Schauspielerin Mala Emde (24), die momentan Ensemblemitglied des Theaters Basel ist. Für ihre Parforceleistung erhielt sie in Venedig den Darstellerpreis.
Luisa wird flügge, nabelt sich ab, will raus aus dem familiären Land-Reduit. Die Eltern geben sich zwar tolerant, aber die Mama wundert sich, dass die Tochter in eine besetzte Liegenschaft ziehen will, wo sie zuhause doch tun und lassen kann, was sie will. Der Papa, ein passionierter Jäger, bedauert etwa, dass Luisa als beste Schützin im Verein nicht mehr mit auf die Pirsch will. Dass sie als Vegetarierin wenigstens noch ab und an beim Ausweiden der Beutetiere mithilft, efreut ihn nur halb.
Traumatisches Erlebnis
An der Uni in der City mag Luisa nicht bloss büffeln, um für eine Anwalts-Karriere gerüstet zu sein. Was sie antreibt ist der intensive Kontakt mit den neuen Bekanntschaften, die dem Widerstand gegen das politische Rechtsdenken zünftig Schub verleihen wollen. Doch in ihrer Antifa-Clique wird Luisa anfangs misstrauisch beäugt, da sie bessergestellt ist als andere. Was sie besonders nervt, weil sie selbst das Gefühl hat, sich für ihre Herkunft entschuldigen zu müssen.
Doch bald ist Luisa bei einer Aktion gegen eine Wahlkundgebung einer rechtspopulistischen Partei vorne mit dabei. Und mittendrin, als es zu Friktionen mit Skinhead-Ordnern kommt und sie brutal übergriffig attackiert wird. Erst als Alfa – eine Leaderfigur ihrer Gruppe – ihr zu Hilfe eilt, gelingt die Flucht.
Das traumatische Erlebnis ist eine Initialzündung: Luisa kapiert sofort, dass man zwar spielerisch wie mit dem Florett – also Parolen skandierend, Transparente schwenkend, Sahnetörtchen als Wurfgeschosse einsetzend – Gegner foppen kann, aber nur solange, bis diese zum Zweihänder greifen. Was dann abgeht, hat sie erfahren und beschliesst: Fertig mit Kuschelkurs! Luisa gesellt sich zur radikaleren Fraktion ihrer Gemeinschaft. Mit ihrem Beschützer Alfa (Noah Saavedra) sowie seinem Freund Lenor (Tonio Schneider) bildet Luisa nun eine Allianz, die ihre engste Jugendfreundin Batte (Luisa-Céline Gaffron) brüskiert.
Eskalationen
Das Trio Luisa, Alfa und Lenor zieht seine Linie voll durch. Bei einer Störaktion gegen die Rechten werden Autos demoliert, womit die Eskalationsstufe „Gewalt gegen Sachen“ erreicht ist. Als dann ein gehacktes Handy ins Alt-Nazi-Umfeld weist, wo Sprengstoff gebunkert wird, ist klar: Die Schwelle zum Hochrisiko-Bereich ist erreicht, nun sind auch Menschenleben akut gefährdet.
Filmemacherin Julia von Heinz über Luisas diesbezügliche Befindlichkeit: „Sie spürt zunehmend, dass es ein Machtvakuum gibt, das der Staat füllen sollte. Wir haben in unserem Grundgesetz ein Gewaltmonopol festgeschrieben, das hoffentlich und bitte sehr – da stehe ich zu hundert Prozent dahinter – bei der Polizei, Bundeswehr und so weiter liegt. Plötzlich spürt sie, es gibt Verbindungen von Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz in rechtsradikale Netzwerke.“
Autobiografisch inspiriert
Julia von Heinz weiss, worum es geht: Als 15-Jährige schloss sie sich 1991 sogenannten antifaschistischen Initiativen an. Davon ist einiges ins Skript eingeflossen. Etwa dort, wo die interessanteste Nebenfigur Dietmar auftaucht, die vom österreichischen Bühnen- und Filmschauspieler Andreas Lust superb interpretiert wird. Er gibt einen Linksrevoluzzer-Veteranen, der in den 1990er-Jahren am Bombenattentat auf einen hochrangigen Industrie-Manager beteiligt war, eine Gefängnisstrafe verbüsste und deswegen das Medizinstudium nicht abschliessen konnte.
Nun arbeitet er als Krankenpfleger, wohnt unauffällig im Haus der verstorbenen Eltern, ist mit der linken Agitationsszene aber noch verbandelt. „Er steht“, so die Regisseurin, „für das, was ich bis in die 90er erlebt habe: Das grosse Ganze zu sehen, den Kapitalismus als Ursprung des Übels (...) Dietmar sagt: ‘Wenn ihr Nazis verprügelt, ist es, wie wenn ihr von einem maroden Haus die Fassade immer wieder weiss streicht’ (…).“
Linke Liebe
Im Klartext könnte das heisst: Zuweilen darf auch härter zur Sache gegangen werden. Doch wie und wann, zu welchem Preis? Darum geht es im handfesten, fadengerade inszenierten Drama, das mit Versatzstücken aus dem Bereich „Beziehungskiste“ aufwartet. Für Julia von Heinz gehören diese Ingredienzien sowieso dazu: „Liebe, Beziehungen und Erotik sind – auch für mich – ein starker Aspekt in der linken Szene.“
Wie sie das meint, macht die Episode mit Dietmar und Luisa deutlich, die wie ein Brückenschlag zwischen bewegten Generationen anmutet: Als sich die junge Heldin bei einem Scharmützel eine üble Beinverletzung zuzieht, will sie aus Furcht vor unbequemen Fragen kein Spital aufsuchen. Darum verarztet Dietmar die Genossin. Der ist subito von ihren Nehmerqualitäten so angetan wie von ihrer Kompromisslosigkeit; Eigenschaften, die der Haudegen bei den Jungspunden von heute vermisst. Kein Wunder, dass Luisa in ihm mehr Emotionen weckt als kumpelhafte Beschützerinstinkte.
Erstaunlich, wie fein Julia von Heinz die heikle Altherren-Schwärmerei ohne Nostalgie-Gesülze plausibel, kurz und bündig darstellt. Genauso, wie sie es bei der Schilderung der intimen Annäherung der lebenshungrigen Luisa an den bisexuellen – nur vordergründig nonchalanten und politisch unverrückbar linientreuen – Alfa und seinem Lover Lenor tut.
Wie „Les Misérables“ und „Berlin Alexanderplatz“
„Und morgen die ganze Welt“ erinnert an zwei Spielfilme, in denen unlängst ebenfalls der gesellschaftspolitische Wandel im globalisiert-digitalen, multikulturell-urbanen Umfeld verhandelt wurde: „Les Misérables“ von Ladj Ly (2019), ein furioses Pariser Banlieue-Drama, und die extravagante Adaption von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani.
„Und morgen die ganze Welt“ erreicht allerdings die cineastische Exzellenz dieser Werke nur partiell, weil es Julia von Heinz offenbar weniger auf eine Gesamtschau des Milieus ankommt, sondern dezidiert auf die Darstellung der linken Szene; die Antifa-Kontrahenten wirken karikiert-klischiert, es mangelt an differenzierender Tiefenschärfe. Nichtsdestotrotz gelingen Julia von Heinz einige Röntgenblicke in die Innereien der politisch-diffusen „Fascho“-Gesinnungsstruktur.
„Und morgen die ganze Welt“ vermittelt trotzdem mehr als nur die Ahnung, dass sich das Reizthema Extremismus nicht mehr in schematischem Links-und-Rechts-, Gut-und-Böse-Denken auseinanderdividieren lässt; die Fronten sind fliessender geworden im unberechenbaren Digital-Alltag mit ungefilterten News-Springfluten und Social-Media-Aufgeregtheiten. Das ist im Pandemiejahr 2020 extrem augenfällig geworden: Bizarre Auftritte von Corona-Skeptikern und Verschwörungstheoretikern erregen Aufmerksamkeit, ebenso die Enttarnung rechtsextremer Chatgruppen im Polizei-Umfeld eines deutschen Bundeslandes. Dann die zunehmend verbissen geführten Diskussionen um die ethisch-demokratische Legitimierung der Parlamentspartei AfD oder die Rassismus-Debatte im Nachhall der „Black Lives Matter“-Kampagne nach Polizeiübergriffen in den USA.
Rau, fiebrig, sinnlich, kämpferisch
„Und morgen die ganze Welt“ ist als Kino-Spielfilm ein kultureller Beitrag zur kritischen Betrachtung aktueller gesellschaftspolitischer Fragen, wie man ihn so konsequent im deutschsprachigen Produktionsumfeld selten findet – die Schweiz ist dabei ausdrücklich mitgemeint. „Wenn ich die Möglichkeit des Kinos habe“, sagt Julia von Heinz, „wo die Menschen sich zurücklehnen und nicht nebenher bügeln, erlaube ich mir, in allen Zwischentönen zu erzählen (…).“
Zwischentöne gibt es viele in „Und morgen die ganze Welt“. Sie erzeugen dank einer rapiden, dynamisch-dramaturgischen Choreographie und Bildgestaltung eine verstörend-faszinierende Spannkraft. Und die letzten Blicke in Luisas Gesicht verraten raue, fiebrig-sinnliche, kämpferische Zuversicht: Das war‘s noch nicht, da kommt noch was!