Die Luftangriffe der Amerikaner und Verbündeten im Irak und in Syrien, deren Zahl bisher beinahe 500 erreicht hat, üben eine Wirkung aus. Sie scheinen nun sogar in Kobane erreicht zu haben, dass IS sich aus Teilen der umkämpften Stadt wieder zurückziehen musste. Die kurdischen Kämpfer und ihre Sprecher sagen, vierzig Prozent der Stadt seien am 15. Oktober von IS beherrscht gewesen, doch im Lauf des Tages und der folgenden Nacht, seien die Angreifer auf ungefähr zwanzig Prozent der Stadt zurückgedrängt worden. Am Abend des 16. Oktober wurde gemeldet, die Kurden beherrschten beinahe die ganze Stadt bis auf zwei verbleibende Positionen von IS. Allerdings fügen die amerikanischen Sprecher in Washington hinzu, IS bringe neue Verstärkungen nach Kobane, und das Schicksal der Stadt sei noch in der Schwebe.
Fortschritte von IS in Anbar
Gleichzeitig machen die Kämpfer von IS in der irakischen Wüstenprovinz Anbar Fortschritte. Dort stehen sie der irakischen Armee gegenüber, die sich ihnen immer von neuem als unterlegen erweist. Ihre Offiziere sind nach wie vor die ersten, die fliehen und ihre Mannschaften im Stich lassen. Auch in Anbar sollen die IS-Angreifer amerikanische Waffen erbeutet haben, von den Irakern liegen gelassen. Gegen 180’000 Menschen sollen sich zur Zeit in Anbar auf der Flucht vor IS oder vor der irakischen Armee befinden.
Anbar ist wichtig, weil die weite Wüstenprovinz praktisch an Bagdad angrenzt. Vorübergehend befanden sich IS-Kämpfer nur 15 Kilometer vom Flughafen Bagdads entfernt. Dieser ist die Hauptverbindung der irakischen Hauptstadt mit der Aussenwelt. Ein amerikanischer Militärsprecher sagte: «Wir brauchen den Flughafen, und wir werden nicht zulassen, dass er IS in die Hände fällt!» In der Tat gab es Luftschläge, die offenbar genügten, um die Vorhuten von IS zurückzuschlagen. Sie stehen nun wieder 25 Kilometer vom Flugplatz entfernt.
Doch wichtiger ist: Wenn sie Anbar beherrschen, können die IS-Kämpfer Nachschublinien durch die Wüste hindurch organisieren, die ihre Macht bis westlich und südlich der Hauptstadt bringen. Dies würde ihnen ermöglichen, Bagdad in Kleinaktionen aus der Wüste heraus zu bedrängen und dort ein Klima der Belagerungsangst zu schaffen. Bereits werden Mörserangriffe auf schiitische Quartiere gemeldet. Die Selbstmordbomben mit Automobilen sind jedoch immer noch die häufigste Terrormethode.
Defensive Luftschläge
Konzentrierte Luftschläge erlauben offensichtlich, die sich abzeichnenden Offensiven der IS-Leute abzuwürgen. Dies ist am Mosul-Damm und vor Erbil geschehen, als im August die Luftangriffe begannen, und es zeichnet sich als Hoffnung nun auch in Kobane ab. Doch die IS Leute sind ihrerseits in der Lage, offensiv zu bleiben und das Geschehen in den umkämpften Regionen zu bestimmen, indem sie neue Offensiven an denjenigen Sektoren des weiten Kampffeldes auslösen, wo sie Erfolgschancen sehen. Die Luftschläge kommen dann als Notreaktion in der Art einer Feuerwehr. Dies zeigt, was jedermann weiss und die Fachleute unermüdlich wiederholen: Mit Luftangriffen alleine ist IS nicht zu besiegen.
Die notwendigen Bodentruppen jedoch sollen nicht aus Amerika kommen. Aber ohne die Amerikaner werden ihre Verbündeten auch keine Bodentruppen einsetzen. Das wird nicht einmal die Türkei tun, deren Regierung nach wie vor die Schaffung einer Sicherheitszone innerhalb Syriens fordert. Eine solche Zone setzte Truppen und Luftabwehr gegen die Streitkräfte Asads voraus – Einsätze, die die Türkei zwar gerne sähe, aber nicht alleine zu bestreiten gedenkt.
Breite, aber vage Koalition gegen IS
Die Oberkommandierenden der Streitkräfte von zwanzig Staaten haben sich zu Beginn dieser Woche in Washington getroffen, um die Massnahmen zu besprechen, die gegen IS getroffen werden können. Wenn man alle Staaten zusammenzählt, die sich bereit erklärt haben, «etwas» gegen IS zu unternehmen, soll es sogar bereits 60 «Koalitionsmitglieder» geben.
Ihre Ziele bewegen sich freilich auch im Bereich des nichtmilitärischen, wie etwa: Versuche, der Ideologie von IS entgegenzutreten, oder Schritte, um die Geschäfte von IS zu unterbinden. Die zwanzig Staaten, die ihre Oberkommandanten nach Washington sandten, sollen übereingekommen sein, dass die irakische Armee neu ausgebildet und aufgebaut werden müsse.
Dafür, so die amerikanischen Sprecher, brauche man weitere tausend Ausbilder, die zu den 1’500 Amerikanern hinzukommen sollten, welche sich jetzt schon im Irak befinden. Solche Ausbilder sollen nun auch die wichtigsten europäischen Saaten entsenden. Die Golfstaaten ihrerseits könnten sich bereit erklären, einen Teil der Kosten für sie zu übernehmen. Ein Jahr, so sagten die Militärs am Rande der Konferenz, werde es mindestens brauchen, bis die irakische Armee in der Lage sein werde, den IS-Kämpfern entgegenzutreten.
Welches sind die politischen Ziele der sich aufbauenden gemeinsamen Aktion? Wie genau hat man sich einen Sieg gegenüber IS vorzustellen? – In diesen Fragen der politischen Zielsetzung gibt es offenbar grosse Meinungsunterschiede innerhalb der Koalition. Die Golfstaaten unter der Führung Saudi-Arabiens wollen ein Ende des Asad-Regimes in Syrien herbeiführen. Die Türkei Erdogans ist der gleichen Meinung.
Doch Grossbritannien will vorläufig Bombenschläge nur im irakischen Gebiet durchführen, nicht im syrischen. Dies, weil im Falle des Iraks Bagdad offiziell Hilfe angefordert hat, während die Regierung von Damaskus die Bombenschläge auf seinem Staatsgebiet offiziell ablehnt, obwohl sie gegen einen Feind dieser Regierung erfolgen. Die Ablehnung durch Damaskus schliesst allerdings nicht aus, dass bisher Kämpfe zwischen der syrischen Luftwaffe und den Kriegsflugzeugen der Koalition vermieden wurden.
Irans Rolle ausserhalb der Koalition
Auf der irakischen Seite steht Iran als einflussreiche Macht Bagdad zur Seite, auch in Ausbildungsfragen. Doch Iran gehört nicht zur Koalition. Die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Iran, bisher höchst angespannt, haben sich zwar in den letzten Wochen, teilweise dank dem Zureden Washingtons, etwas gebessert. Doch sie sind immer neuen Zerreissproben ausgesetzt.
In Riad wurde der wichtigste Ayatollah der saudischen Schiiten, Sheikh Nimr al Nimr, der sich seit zwei Jahren im Gefängnis befindet, wegen Aufstachelung zur Unruhe zum Tode verurteilt. Falls dieses Urteil vollstreckt werden sollte, ist mit einer Unruhewelle in den schiitischen Landesteilen Saudi-Arabiens zu rechnen – und mit deren rücksichtsloser Unterdrückung. Ob Teheran dem gleichmütig zusehen kann?
Auf der saudischen Seite herrscht die Überzeugung, dass die grossen militärischen und politischen Erfolge der Huthis, Schiiten der zaiditischen Ausrichtung, auf Waffen- und Finanzhilfe aus Teheran zurückgingen. Die Huthis sind Nachbarn Saudi-Arabiens auf der jemenitischen Seite einer weitgehend offenen Wüstengrenze. Bittere Feinde der Huthis sind die Kämpfer von AQAP (al-Qaida of the Arabian Peninsula). Diese sind aber auch bittere Feinde der Saudis, aus deren Gefängnissen einige von ihnen entwichen sind.
Politische Wünsche gegenüber Bagdad
Die amerikanischen politischen Zielvorstellungen wollen im Irak eine Regierung, die für Schiiten und Sunniten spricht. Die nationale Armee soll verstärkt werden durch lokale Streitkräfte, die den Provinzgouverneuren unterstellt sind und in den sunnitischen Provinzen aus Sunniten bestehen. Diese lokalen Kräfte sollten dafür sorgen, dass IS, wenn einmal aus einer Provinz vertrieben, nicht mehr zurückkehren kann.
Doch einer politischen Neuformation des Iraks stehen grosse Hindernisse entgegen. Der neue Minsterpräsident Haidar al-Abedi verfügt noch immer über keinen Innen- und keinen Verteidigungsminister. Der bisherige Ministerpräsident al-Maliki ist nicht in der Versenkung verschwunden. Er erhielt den Ehrenposten eines Stellvertretenden Präsidenten, und er verfügt nach wie vor über Anhänger in seiner ad-Dawa Partei, wecher auch Abedi angehört, sowie in der «Rechtsstaat» genannten Koalition aus schiitischen Parteien, mit deren Hilfe al-Maliki während acht Jahren regierte.
Al-Maliki scheint al-Abedi nicht verziehen zu haben, dass er ihn ersetzte. Aus den Parteiversammlungen wird berichtet, dass al-Maliki den gegenwärtigen Minsterpräsidenten scharf angreife und kritisiere, «manchmal ohne ihn zu Wort kommen zu lassen». Seine Kritiker sagen, al-Abedi sei nicht entschieden genug, um ein Land wie den Irak zu regieren. Seine Anhänger loben seine guten Absichten.
Auch manche Schiiten morden
Die schiitischen Milizen, deren wichtigste Iran nahe stehen, lassen sich Morde an sunnitischen Zivilisten zuschulden kommen. Amnesty International hat eine Reihe von Fällen von Mord, Erpressung, Vertreibung von Sunniten dokumentiert und meint, es müsse Hunderte solcher Fälle geben. Manche sind Racheakte, andere Erpressungsversuche, noch andere Mischungen von beidem.
Die darüber klagenden Sunniten sind überzeugt, ein grosser Teil dieser Verbrechen finde mit Wissen oder Nachhilfe der überwiegend schiitischen Polizei statt. Diese Ereignisse erinnern an die schlimmen Tage der Jahre 2006 und 2007, als der Untergrundkrieg zwischen Sunniten und Schiiten tobte. Sie sind natürlich wenig geeignet, die erhoffte Zusammenarbeit im nationalen irakischen Rahmen zu fördern.
Korrekturschritte al-Abedis
Al-Abedi hat angeordnet, dass die nicht verurteilten Sunniten aus den Gefängnissen zu entlassen seien, und er hat die Bombardierungen bewohnter Städte wie Ramadi, Falludscha und Tikrit durch die irakische Armee verboten. Dies sind Städte, die von IS beherrscht werden, und in denen die verbliebenen Teile der lokalen sunnitischen Bevölkerung freiwillig oder erzwungenermassen mit IS zusammenarbeiten. Dafür erhält al-Abdedi vonseiten der wenigen Sunniten, die mit ihm zusammenarbeiten, hohes Lob, gleichzeitig jedoch Kritik von vielen seiner schiitischen Parteigenossen – einschliesslich al-Malikis.
Viele der Milizen unterhalten engere Beziehungen zu Iran und dessen dort wirkendem Geheimdienstchef Qasem Soleimani als zur eigenen Regierung. Die schiitischen Aktivsten versuchten die Ernennung des Chefs der al-Badr Milizen, Hadi al-Ameri, zum Innenminister durchzusetzen. Dies hätte den Bock zum Gärtner gemacht. Al-Ameri ist bekannt dafür, dass er in er erwähnten Jahren der Konfessionskämpfe Hunderte wenn nicht Tausende von Morden an Sunniten durchführen liess.
Al-Abedi hat diese fatale Ernennung vermieden, jedoch bis heute keinen allen Seiten seiner grossen Koalition genehmen Innenminister gefunden. Der Ministerpräsident hat auch vier unfähige Generäle der Armee al-Malikis entlassen. Doch das Terrain, auf dem der geplante Um- und Wiederaufbau der irakischen Streitkräfte erfolgen soll, ist ein politisches Minenfeld.
Kurden fordern schwerere Waffen
Die einzigen Infanteriekräfte, die gegenwärtig energisch und einigermassen erfolgreich gegen IS kämpfen, sind die der Kurden. Doch auch die Kurdenpolitik ist überaus komplex und kontradiktorisch. Die Kurden fordern bessere, vor allem panzerbrechende Waffen. Sie haben gute Gründe für ihre Forderung.
Ein Fall, den sie bekannt machten, betraf eine Abwehrposition, bestehend aus einem tiefen Graben und Erdwall, den sie ausgehoben hatten, um den Angriffen von IS im Raume von Rabia (Grenzübergang am oberen Tigris zwischen Irak und Syrien) standzuhalten. IS griff, wie dies sehr oft geschieht, zuerst vermittels Selbstmordbomben an. Diese werden auf Automobilen und Lastwagen gepackt und in die Positionen der Verteidiger losgelassen. Oftmals mehrere gleichzeitig oder kurz hintereinander, so dass die zweiten und dritten, von unterschiedlichen Seiten kommend, tiefer in die bereits durch vorherige Explosionen erschütterte Position eindringen können.
Die Kurden versuchen natürlich, diese schnell fahrenden Bomben durch Beschuss zum Stillstand zu bringen, bevor sie ihre Positionen erreichen. Deshalb werden die Fahrzeuge von den IS Leuten gepanzert. Nach den Berichten der Kurden soll neben zwei anderen solcher fahrender Bomben auch ein Tankwagen, vollgestopft mit Explosivstoffen, auf ihre Stellung losgelassen worden sein. Der Tankwagen war so gut gepanzert, dass ihre Gewehre und Maschinengewehre ihn nicht zum Anhalten zwingen konnten. Er habe die Stellung erreicht, und die Explosion habe zehn Peschmerga das Leben gekostet, unter ihnen ein altgedienter General und Anführer, Omar Babkai, der schon die Kämpfe gegen Saddam Hussein angeführt hatte. «Mit panzerbrechenden Waffen hätten wir dies vermeiden können,» schiesst der Bericht der Kurden.
Doch schwere Waffen für die Kurden passen nicht in das politische Konzept der Iraker und auch nicht in jenes der Türken. Beide fürchten, nach dem erhofften Ende von IS würden diese Waffen in Händen der Kurden bleiben und ihre Position gegenüber der Türkei und dem Irak weiter stärken. Im Irak muss nicht nur darüber entschieden werden, wieviel Autonomie oder gar Unabhängigkeit die Kurden erhalten sollen, sondern auch darüber, ob die umstrittene Stadt Kirkuk mit ihren Erdölvorkommen und weitere von Kurden bewohnte Gebiete ausserhalb der offiziellen kurdischen Provinzen mit zu Kurdistan geschlagen werden oder nicht.
Erweiterung Kurdistans?
Die Kurden haben die Niederlage der irakischen Arme gegenüber IS im Juni dieses Jahres dazu benützt, die umstrittenen Gebiete, aus denen die Armee geflohen war, selbst zu besetzen, einschliesslich Kirkuks. Sie sehen sich allerdings nun auch gezwungen, diese Gebiete gegen die andringenden Wellen von IS zu verteidigen. Der Blutzoll, den sie dabei entrichten, wird natürlich in ihren Augen ihren Anspruch auf endgültigen Besitz dieser umstrittenen Zonen verstärken.
Dazu kommen noch die Gegensätze zwischen den irakischen und den syrischen Kurden. Diese sind dadurch gegeben, dass die syrischen, die zur Zeit in Kobane kämpfen, primär mit der PKK zusammenhängen, der türkischen Kurdenpartei (als Terroristen eingestuft von Amerikanern, Türken und Europäern). Die irakischen Kurden gewähren den PKK-Kämpfern zwar Asyl in den hohen Grenzgebirgen zur Türkei. Doch sie distanzieren sich von deren «türkischen» Anliegen, weil ihnen die guten Beziehungen zu Ankara aus wirtschaftlichen und politischen Gründen wichtig sind. Umgekehrt sucht Ankara sich mit den irakischen Kurden gut zu stellen, weil dies der Türkei gestattet, Einfluss auf die Politik der kurdischen Nachbarn zu nehmen.
Es gab die letzten zwei Jahre einen «Friedensprozess» zwischen der PKK und Ankara. Doch dieser ist nun gefährdet, zuerst durch die Grossdemonstrationen der türkischen Kurden, die darüber empört waren, dass Ankara ihnen nicht erlauben wollte, ihren belagerten Landsleuten in Kobane über die Grenze hinweg zu Hilfe zu kommen. Bei den Demonstrationen wurden landesweit über dreissig Kurden von der türkischen Polizei erschossen. Endgültig abgewürgt wurde der Friedensprozess dann möglicherweise durch einen Luftangriff türkischer Kampfflugzeuge auf PKK-Stellungen am äussersten Ende der Türkei, nahe an der irakischen Grenze.
Die Bedenken gegen schwere Waffen für die Kurden teilt Ankara mit Bagdad und wahrscheinlich auch mit Teheran, das seinerseits in früheren Jahren ebenfalls Kurdenkämpfe kannte.
Komplexer Konflikt in Syrien
Noch komplizierter als die irakische Lage ist jene in Syrien. Die USA halten – faute de mieux – an ihrer alten Politik fest, die drauf hinsteuern wollte, Asad soweit zu schwächen, dass er Verhandlungen mit der syrischen Opposition aufnehmen müsste und schlussendlich zum Rücktritt bewegt werden könnte. Diese Zielsetzung geht darauf zurück, dass Obama und seine Regierung vermeiden wollten, noch einmal für die Besetzung eines arabischen Landes verantwotlich zu werden, wie im Fall des Iraks 2003 bis 2011 mit den heute sichtbar gewordenen Folgen, zu denen IS gehört.
Eine vorsichtige Politik in Syrien drängte sich auch auf angesichts der Stellungnahme der Russen, der Chinesen und der Iraner zu Gunsten von Asad. Doch die Hoffnungen auf eine Schwächung und gar einen Rücktritt Asads sehen heute unrealistisch aus. Seine Armee ist im Begriff, kleine aber beständige Fortschritte gegenüber den Aufständischen zu machen. Sie nähert sich der umkämpften Stadt Aleppo. Falls es ihr gelingt, die Aufständischen aus ihrer Hälfte der heute geteilten Stadt zu vertreiben, kann Asad hoffen, das «nützliche Syrien» zu beherrschen. Das sind die dichtest bewohnten und früher auch reichsten Teile Syriens auf der westlichen Seite der Syrischen Wüste. IS und die versprengten Kämpfer, die sich IS anschlossen, wären auf die östlichen Landesteile beschränkt und würden dort bedrängt durch die amerikanische Koalition.
Die Türkei und Saudi-Arabien dürften die Länder sein, die sich am energischsten dagegen sträuben, dass eine solche Teilung Syriens zustande kommt. Die Türkei müsste einen feindlichen südlichen Nachbarn fürchten und einen Prestigeverlust für Erdogan persönlich, der nach wie vor nachdrücklich für eine Beseitigung Asads eintritt. Die Heimkehr der grossen Masse syrischer Flüchtlinge, die die Türkei aufnahm, wäre wohl teilweise in Frage gestellt.
Saudi-Arabien sähe das Überleben des Asad-Regimes als einen Erfolg für Iran in einem zentralen Land der überwiegend sunnitischen arabischen Staatenwelt. Vorläufig ist Riad nicht gesonnen, dies hinzunehmen.
Die auszubildende Armee der «Gemässigten»
Um ihrem politischen Fernziel der erhofften Abdankung des Regimes Asads etwas mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen, sprechen die Amerikaner auch von der Aufstellung einer «gemässigten» syrischen Armee, auszubilden vielleicht in der Türkei, vielleicht in Saudi-Arabien. «Gemässigt» würde in Wirklichkeit bedeuten: zuverlässig in Bezug auf ihre Haltung gegenüber IS und dessen islamistischen Verbündeten.
Bisher kam es immer wieder vor, dass Teile der Kämpfer, die amerikanische Ausrüstungen und Gelder erhalten hatten, mit ihren Waffen auf die Seite der Islamisten übergingen oder mindestens mit ihnen gemeinsam Kämpfe durchführten, wobei die Kampfgemeinschaft oft auch zu Waffengemeinschaften führte. Die Amerikaner reagierten darauf, indem sie noch weniger Waffen und Gelder gaben als zuvor. Dies trieb die bisherigen Klienten natürlich weiter an, mit den islamistischen Gruppen zusamenzuarbeiten, die Gelder und Waffen besassen. Wenn es ums Überleben geht, treten ideologische Fragen zurück.
Unter den heute im Kampf stehenden Gruppen aller Ausrichtungen und Ideologien stösst der Entschuss der Amerikaner, gegen IS vorzugehen und Asad zu ignorieren, auf starke und emotionale Kritik. Zwar haben sie selbst in vielen Fällen gegen IS gekämpft, wenn ihnen die territorialen Ziele dieser Gruppe missfielen. Die IS-Führung war offensichtlich bestrebt, sich ihr eigenes Herrschaftsgebiet zu sichern, durchaus auch auf Kosten von Mitkämpfern. Doch in deren Augen tun die Amerikaner und deren Bundesgenossen nun genau das gleiche, was IS tat. Sie kämpfen gegen den sekundären Feind, nämlich IS, und sie stärken dadurch den primären: Asad und seine Armee. Auch IS kämpfte gegen die anderen Aufständischen und stärkte dadurch das Asad-Regime.
Ein Bündnis mit Asad?
Natürlich gibt es auch in Amerika kalt rechnende Strategen die sagen: Das Logische wäre, mit Asad Frieden zu schiessen und gemeinsam mit ihm IS zu bekämpfen. Doch die amerikanische Politik ist wahrscheinlich nicht in der Lage, eine solche Kehrtwendung zu vollziehen. Die drei blutigen Jahre der Kämpfe Asads gegen Teile seines eigenen Volkes, begleitet von kräftiger Meinungsmache gegen den «Diktator von Damaskus» wiegen zu schwer.
Zur Zeit findet im Holocaust-Museum in Washington eine Ausstellung von Tausenden von Photographien Verhungerter und zu Tode gefolterter Leichen aus den Gefängnissen Asads statt. Ein Berufsphotograph, der gezwungen war, die Toten zu dokumentieren, ist im vergangenen Jahr geflohen und hat sein Bildarchiv von über 55’000 Getöteten mitgebracht. Er sagte, er habe den Beschluss gefasst, überzulaufen, als er unter den Leichen Leute erkannte, die aus seinem Dorf stammten und seine Bekannten gewesen waren.
Noch keine glaubwürdige politische Strategie
Die grosse Tagung der Oberkommandanten der zwanzig Staaten in Washington hat eines deutlich gemacht: Der «lange Krieg» gegen IS braucht nicht nur ein militärisches Konzept, sondern auch eine politische Strategie. Die Schwierigkeit einer solchen liegt darin, dass sie realistisch sein sollte. Eine blosse Aufzählung erwünschter Ziele reicht nicht. Vielmehr braucht es die Einigung auf solche, die aller Wahrscheinlichkeit nach gemeinsam erreichbar sind – begleitet von glaubwürdigen Vorschlägen, wie dies geschehen soll.
Möglicherweise wurde in Washington der Grundstein zu einer solchen Strategie gelegt. Doch dass sich bereits gegenwärtig realistische Zielsetzungen und glaubwürdige politische Wege, die zu ihnen führen, abzeichneten, kann man schwerlich behaupten.