Die Geschichte der modernen Autobiografie beginnt mit zwei Werken, die unterschiedlicher nicht sein könnten: mit Rousseaus «Confessions» und mit Goethes «Dichtung und Wahrheit». Rousseau schreibt einen leidenschaftlich bewegten Stil und lässt seinen Empfindungen freien Lauf. Er stellt sich als Unschuldslamm dar, dem böswillige Menschen übel mitgespielt haben; er klagt die Gesellschaft an und quält sich selbst. In seinem Lebensbericht versucht Rousseau, sich zu rechtfertigen, vor dem Leser das letzte Wort zu behalten. Auch Goethe verschweigt die Widrigkeiten und Gefährdungen seiner Jugendjahre nicht, aber er erzählt sein Leben in der abgeklärten Altersprosa eines Mannes, der mit Gelassenheit und ohne Ressentiment zurückblickt. Goethe stellt nicht die Frage nach dem Recht, sondern nach dem Sinn. Er beschreibt sein Leben als einen Entwicklungsprozess, in dem sich durch das Zusammenwirken von Schicksal, Zufall und Charakter allmählich ein in seiner Art einmaliges Individuum heranbildet. Dieses Individuum hat sich vor niemandem zu rechtfertigen; es bezieht seine Glaubwürdigkeit ganz aus der Kunst der literarischen Selbstdarstellung.
Das Schicksal der Emigration
Die Autobiografie des Schriftstellers Ludwig Marcuse lässt sich weder mit den «Confessions» noch mit «Dichtung und Wahrheit» vergleichen. Die Mischung von zorniger Anklage und Selbstmitleid, die Rousseaus Lebensbericht kennzeichnet, ist Marcuse fremd. Er will nicht recht haben, sondern sich und anderen Rechenschaft ablegen. Marcuse sieht sich als Chronist seiner Zeit und erzählt in ungezwungenem Plauderton. Eine leise Ironie schafft Distanz zu den Ereignissen, über die er berichtet. Er unterlässt es, den Stoff seines Lebens künstlerisch zu gestalten, sich, wie er es ausdrückt, «stilistisch zu vermummen». Immer wieder unterbricht er den chronologischen Ablauf und den Fluss seiner Erzählung, schweift ab, wiederholt sich, fügt allgemeine Betrachtungen und Exkurse ein. Auch fehlt seiner Autobiografie ein bilanzierender oder abrundender Schluss; sie wirkt nach gegen vierhundert Seiten noch merkwürdig unfertig. Was dem Autor bewusst gewesen sein muss, setzte er doch den Untertitel «Auf dem Weg zu einer Autobiografie».
Nein, zu einem Klassiker seiner Gattung wie die »Confessions» und «Dichtung und Wahrheit» ist Ludwig Marcuses «Mein zwanzigstes Jahrhundert» nicht geworden. Aber diese Autobiografie gehört für mich zu den wichtigsten unter den vielen Darstellungen, die wir deutsch-jüdischen Emigranten aus jener Zeit verdanken. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die emigrierten Intellektuellen, deren Geschichte durch Selbstzeugnisse und Forschungsarbeiten relativ gut erschlossen ist, nur etwa ein Zehntel der rund 350’000 Menschen ausmachten, die zwischen Frühjahr 1933 und Herbst 1941 Deutschland verlassen mussten. Vom Schicksal der anderen weniger prominenten Emigranten, von der Geschichte ihrer «privaten Verzweiflungen», wie Marcuse sich ausdrückt, wissen wir vergleichsweise wenig. Viele dieser Emigranten kehrten nie nach Deutschland zurück und lebten noch nach Kriegsende in bedrückenden materiellen Verhältnissen – zu einer Zeit, da sich mancher von jenen Landsleuten, die sie einst ins Exil trieben, im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik komfortabel eingerichtet hatten.
Freiheit des Schriftstellers
Ludwig Marcuse wurde 1894 als Sohn eines wohlhabenden deutsch-jüdischen Fabrikanten in Berlin geboren. Der Vater hatte sich mit Fleiss und Zähigkeit zum Fabrikanten hochgearbeitet, führte seine Firma mit dem Pflichtgefühl des wohlwollenden Patriarchen, liebte seine Frau und seine Kinder und akzeptierte es, dass die Begabungen seines Sohnes in eine ganz andere Richtung gingen als die eigenen. Die Ausbildung, die er an Volksschule und Gymnasium in Berlin erhielt, schildert Ludwig Marcuse ähnlich kritisch wie die meisten Schriftsteller, die um die Jahrhundertwende Schulen im wilhelminischen Deutschland besuchten. «Was das eigentlich war, das Leben», fasst der Autor zusammen, «davon hatten wir nicht die geringste Ahnung.»
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, studierte Marcuse in Berlin und Freiburg im Breisgau Philosophie. Die Kriegszeit erlebte er meist in ziviler Funktion fern der Front. Im Jahre 1917 schloss er sein Studium mit einer Dissertation über Friedrich Nietzsche ab. An Nietzsche und Marx, denen er besonders nahestand, interessierte ihn vor allem die Persönlichkeit. «Nur Menschen», schreibt er etwa, «nicht Ideen haben mich beeinflusst.» Zeit seines Lebens hat sich Marcuse gegen den «Irrglauben der Intellektuellen» gewandt, die meinten, die Geschichte lasse sich in das Verlaufsmuster eines philosophischen Systems zwängen und geschichtliches Handeln müsse von der Theorie und nicht von der Realität ausgehen. Immer wieder ist in seiner Autobiografie von der «spezifischen Anfälligkeit der Intellektuellen» die Rede, die sie dazu verleite, von abstrakten Ideen statt von realen Erfahrungen auszugehen.
Nachdem er sich geweigert hatte, in die Fussstapfen seines Vaters zu treten, und nachdem sich der Plan einer akademischen Laufbahn zerschlagen hatte, fasste Marcuse den Entschluss, Schriftsteller zu werden. «Was wird man», lesen wir in seiner Autobiografie, «wenn man nicht gelernt hat, zu parieren? Freier Schriftsteller!» Ein zweifellos richtiger Entscheid. Denn nichts lag dem Wesen dieses Schriftstellers zeit seines Lebens ferner als Konformismus und Unterordnung. «Ich mogelte immer meine Freiheit», heisst es einmal, «in meine Bindungen ein; sagen wir, da das Wort Freiheit hoffnungslos pompös ist meine Wildheit: anarchische Tendenzen plus Verrücktheiten plus Ideale.»
Ahnungslos in die Katastrophe
In den zwanziger Jahren war Marcuse in Königsberg, Berlin und Frankfurt als Schriftsteller und Theaterkritiker tätig. Es war, politisch wie kulturell, eine aufregende Zeit, und Ludwig Marcuses Autobiografie gibt davon eine der besten Darstellungen, die wir besitzen. Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges stellte die bisherige bürgerliche Ordnung und ihr Wertesystem radikal in Frage. Alle Bereiche des kulturellen Lebens wurden von einer Aufbruchstimmung erfasst, die auf eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft abzielte. Dies manifestierte sich besonders deutlich im zeitgenössischen Theaterschaffen. Auf der Bühne suchte der Expressionismus mit pathetischem Überschwang die Revolution zu verwirklichen, die in den Strassen der Stadt gescheitert war. «Das Theater», fasst der Autor zusammen, «war die Kirche der Zeit und der Theaterkritiker ihr militanter Theologe.»
Die deutsche Zukunft sah freilich anders aus, als die Dichter, Regisseure und Schauspieler des Expressionismus sich vorstellten und erträumten. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler. In den meisten Autobiografien von Schriftstellern aus jener Zeit lässt sich nachlesen, wie wenig man sich davon Rechenschaft gab, welche Bedrohung der Nationalsozialismus für die schwache Republik bedeutete und welch gefährliche Faszinationskraft von seinem Führer ausging. Auch Marcuse bildet da keine Ausnahme. Er schildert die Sorglosigkeit und politische Ahnungslosigkeit der Intellektuellen, die sich an der reich gedeckten Tafel des kulturellen Angebots satt assen und nicht wussten, dass es ihre Henkersmahlzeit war. «Wir ahnten nicht einmal», schreibt er, «was kommen sollte. Dafür hatten nur diejenigen, die es herbeiführten, eine blühende Phantasie. Auch der Pessimist sieht die Zukunft nur in Vorstellungen des Bekannten.»
Am 27. Februar 1933 brannte das Reichstagsgebäude. Hitler nutzte den Vorfall geschickt, um die Grundrechte der Weimarer Verfassung ausser Kraft zu setzen. Die Jagd auf die Linksintellektuellen begann. Carl von Ossietzky, der Herausgeber der sozialistisch-pazifistischen «Weltbühne», der Anarchist Erich Mühsam und der Kommunist Egon Erwin Kisch wurden als erste verhaftet. Die Universitäten wurden gesäubert, Konzentrationslager wurden errichtet, jüdische Geschäfte boykottiert, Bücher verbrannt. Ludwig Marcuse, ein enger Freund Ossietzkys und als Jude und scharfzüngiger Kritiker ohnehin verdächtig, entzog sich der Verhaftung durch die Flucht ins Exil nach Südfrankreich. Seine Frau folgte ihm, und man liess sich in Sanary-sur-Mer unweit von Toulon nieder, ohne grosse Hoffnung, bald zurückkehren zu können. In diesem Küstenstädtchen bildete sich in den dreissiger Jahren eine deutsche Emigrantenkolonie. Die Familie von Thomas Mann und Schriftsteller wie Brecht, Feuchtwanger, Werfel, Joseph Roth und René Schickele liessen sich hier für kürzere oder längere Zeit nieder, und Marcuse schildert einige von ihnen in eindrücklichen Porträts. Im Jahre 1935 nahm er in Paris an einem antifaschistischen Kongress zur «Verteidigung der Kultur» teil, zu dem Schriftsteller aus aller Welt eingeladen waren. Von deutschen Emigranten waren Heinrich Mann, Robert Musil und Ernst Toller eingeladen. Die Demonstration war eindrücklich, aber wirkungslos: «Es wurde protestiert», schreibt Marcuse mit der für ihn typischen feinen Ironie, «es wurde eine Resolution ausgehandelt, als handle es sich um einen komplizierten Kaufvertrag und es müsse auf viele Beteiligte Rücksicht genommen werden.»
Amerikas Unwirtlichkeit
Im nächsten Jahr reiste Marcuse mit seiner Frau nach der Sowjetunion. Viele westliche Intellektuelle, vor allem Franzosen, die hofften, ihre Grosse Revolution würde in der Sowjetunion durch Stalin erfolgreich zu Ende geführt, unternahmen damals solche Pilgerreisen. Marcuse, erklärter Gegner jedes ideologischen Dogmatismus, liess sich nicht täuschen. Zwar wurde er von der sowjetischen Elite, ja von Stalin selbst, empfangen, und es wurden ihm die technischen und industriellen Errungenschaften des Kommunismus vorgeführt. Aber allein schon die skeptischen Fragen, die Marcuse stellte, liessen seine Gesprächspartner erkennen, dass er nicht ihr Mann war.
Inzwischen verfolgte Hitler ungehindert seine aussenpolitischen Pläne: Im März 1938 marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein, und das Münchener Abkommen, obwohl in Frankreich mit Erleichterung aufgenommen, versprach einen trügerischen Frieden. Sanary-sur-Mer wurde zu einem unsicheren Zufluchtsort: «Und ich beschloss», schreibt Marcuse, «weiter zu fliehen.» Dank einer Einladung des Instituts für Sozialwissenschaften der Columbia University gelangte er in den Besitz des begehrten «Affidavits», einer Einreise- und Aufenthaltserlaubnis. An Ostern 1939 trafen Marcuse und seine Frau an Bord der «President Harding» in New York ein.
Nach ihrer Ankunft in der USA haben sich die deutschen Emigranten sehr unterschiedlich verhalten. Vom prominentesten, materiell unabhängigsten unter ihnen, von Thomas Mann, kennt man das stolze Wort: «Wo ich bin, da ist Deutschland.» Erich Maria Remarque, der Autor des Weltbestellers «Im Westen nichts Neues», rühmte sich, ganz zum Amerikaner geworden zu sein und selbst auf Amerikanisch zu träumen. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger bezeichnete die USA als einen «Wartesaal», aus dem man so bald wie möglich in die Heimat zurückkehren wollte.
Ludwig Marcuse liess sich nach kurzem Aufenthalt in New York mit seiner Frau Sascha in Beverly Hills bei Los Angeles nieder. Wieder bildete sich hier, wie zuvor in Sanary-sur-Mer, eine Kolonie deutsch-jüdischer Emigranten, ein «Deutsch-Hollywood», und wieder stehen die Porträts von Schriftstellerkollegen im Mittelpunkt von «Mein zwanzigstes Jahrhundert». Im Unterschied zu den meisten Emigranten verdiente Marcuse sein Geld nicht im Filmgeschäft, sondern mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten und deutschsprachigen Zeitkommentaren, die das «War Office of Information» nach Deutschland ausstrahlte. Im Jahre 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger, und wenig später erfolgte seine Berufung als Professor für deutsche Literatur und Philosophie an die «University of Southern California».
Der Aussenseiter
Zu einem Amerikaner ist Ludwig Marcuse in den über zwanzig Jahren seines Aufenthalts in den USA nicht geworden. Er fühlte sich «ausgesetzt und fremd», verkehrte fast ausschliesslich im Kreis deutscher Emigranten und interessierte sich nach eigenem Eingeständnis weder für die Geschichte noch die Politik seines Gastlandes. «Mein Amerika ist alles», schreibt Marcuse gegen Ende seines Lebensberichts, «was mich, dem Europa angeboren ist, befremdet: Chausseen, die nie ihr Gesicht ändern und nie mehr aufhören, Dörfer, die immer aus der Main Street bestehen und etwas mehr oder weniger Drumherum ...» Selbst nach seiner Berufung zum Professor fühlte er sich als Aussenseiter: Er entzog sich administrativen Pflichten, mied den geselligen Umgang mit Kollegen, und seine vage Hoffnung, er würde sich im Kontakt mit den Studenten «amerikanisieren», erfüllte sich nicht.
Ludwig Marcuses Lebensbericht hat, wie bereits erwähnt, keinen überzeugenden Abschluss. Gegen Ende findet sich, ohne Zusammenhang mit dem Übrigen, die Schilderung eines Ferienaufenthalts auf Hawaii. Es folgen Auszüge aus den durch Zufall erhalten gebliebenen Aufzeichnungen seiner Schwester Edith, die in Deutschland zurückgeblieben war, 1943 deportiert wurde und das Kriegsende nicht überlebte. Dann wird aus einem Tagebuch von den Reisen berichtet, die den Autor zuerst 1949 und in den folgenden Jahren immer wieder zurück nach Deutschland führten. Auf den letzten Seiten blickt der Autor selbstkritisch auf seine Autobiografie zurück und wirft sich vor, er habe zu sehr Rücksicht auf sich selbst genommen und habe es unterlassen, von ihm selbst, von der Geschichte seines Körpers, von seinen Untugenden und Tugenden, von seinen Fehlern und Unterlassungen zu sprechen.
Heimkehr in die Fremde
Im Jahre 1961 kehrte Ludwig Marcuse mit seiner Frau endgültig nach Deutschland zurück und liess sich in einer bescheidenen Wohnung in Bad Wiessee am Tegernsee nieder. Seine Autobiografie, ein Jahr zuvor erschienen, machte den Verfasser berühmt. Er hielt Vorträge in vollbesetzten Sälen, seine Texte wurden von den grossen Zeitungen abgedruckt, die DDR suchte ihn als kulturpolitisches Aushängeschild zu gewinnen. Aber seltsam: Der Erfolg und die Wiederbegegnung mit seiner Heimat lösten im Heimkehrer keinerlei Genugtuung, sondern Gefühle der Verunsicherung und der Irritation aus. Da, wo einst seine Heimat gewesen war, fühlte er sich fremd. «Ich fand mich nicht zurecht», schreibt er in seiner Autobiografie, «nicht im Stadtplan, nicht in den Menschen ... Es umschwirrten mich Namen, Ereignisse, Rollen. War ich in Zentralafrika?» Es wäre für Marcuse ein Leichtes gewesen, als «Remigrant», der Hitler und das Exil überlebt hatte, im geistigen Leben der jungen Bundesrepublik eine beachtete und geachtete Rolle zu spielen. Aber er war kein Repräsentant. Er war ein zu unsteter Geist, ein Nonkonformist, der sich gern, nur wenig übertreibend, als «konservativer Anarchist» bezeichnete und nicht in die Parteienlandschaft der Adenauer-Ära einzuordnen war.
Nach dem Tod seiner geliebten Frau zog sich Ludwig Marcuse mehr und mehr in eine selbstgewählte und selbstverschuldete Einsamkeit zurück. Den grossen kulturkritischen Debatten der deutschen Nachkriegszeit folgte er aufmerksam, ohne sich einer ideologischen Denkschule anzuschliessen. In polemisch formulierten Kommentaren, mit denen er sich mehr Feinde als Freunde schuf, bezog er gegen die «Neue Linke» Stellung. Mit merkwürdigem Ingrimm wandte er sich im Besonderen gegen die Gesellschaftskritik der «Frankfurter Schule» und deren Vertreter Ernst Bloch, Theodor W. Adorno sowie den ungeliebten Namensvetter Herbert Marcuse. Allein schon das Deutsch, das diese Professoren sprachen und schrieben, erregte Ludwig Marcuses heftigen Unwillen. «Ich sass in einem Elfenbeinturm am Tegernsee», schreibt er, «ich studierte zuerst mit Abscheu, allmählich gelangweilt, die Gockel, die sich mit Hilfe von unverständlichen Sätzen und kessen Sprüchen aufplusterten. Der Dünkel einiger Greise infizierte die Jungen; sie tun mir leid ...»
Ein Jahr vor seinem Tod, 1969, erschien Ludwig Marcuses letztes Werk unter dem Titel «Nachruf auf Ludwig Marcuse». Der «Nachruf» setzt die Lektüre von «Mein zwanzigstes Jahrhundert» voraus, ist aber keine blosse Fortsetzung. Auf den letzten Seiten seiner Autobiografie hatte Marcuse sich vorgeworfen, zu sehr auf sich selbst Rücksicht genommen, sein Privatleben zu sehr ausgeklammert zu haben; nun, zehn Jahre später, holte er im «Nachruf», das Versäumte nach. Mit seinem letzten Buch wurde Marcuse vom Chronisten seiner Zeit zum Chronisten seines Innenlebens. Und in der Tat: Kaum je in der neueren autobiografischen Literatur ist die alte Frage «Wer bin ich?» so direkt gestellt, so freimütig und mit so viel selbstquälerischer Ehrlichkeit beantwortet worden. Marcuse klagt niemanden an und sucht nach keinem Sinn. Erzählt wird, diesmal ohne Ironie, aber zuweilen mit bitterem Humor, die traurige Geschichte vom Scheitern eines Mannes, der früh seine Heimat verlor und sie nie wiederfand. Auch der «Nachruf» ist ein umfangreiches Buch mit vielen Wiederholungen. Eine weit kürzere Bilanz seines Lebens hat der Autor in einem selbst verfassten Steckbrief gegeben: «Ludwig Marcuse. Ein äusserer Emigrant a. D., z. Zt. in der inneren Emigration, jenseits von Heimat und Heimatlosigkeit.»
Ludwig Marcuse war ein Vielschreiber; sein Werk umfasst gegen 20 Bücher sowie ungezählte Essays und Artikel zu den verschiedensten Themen. In seinen Biografien befasste er sich mit hervorragenden Figuren der Weltgeschichte wie Plato, Ignatius von Loyola und Richard Wagner. In umfangreichen Essays äusserte er sich zu einer Philosophie des Glücks, zum Pessimismus und zur Pornographie. In Streitschriften kommentierte er alles, was seinen Widerspruchsgeist reizte. Dabei neigte er zu unzureichend begründetem Urteil und zu verfälschender Vereinfachung. Dieser Mängel war er ich sich im Übrigen bewusst, heisst es doch in seinem »Nachruf»: «Er schrieb zu viele Bücher: sie konnten nicht verglichen werden mit Früchten, die reiften ... Er hatte nie die Geduld, in Bibliotheken zu arbeiten ...»
Die meisten Schriften von Ludwig Marcuse sind heute, nicht zu Unrecht, vergessen. «Mein zwanzigstes Jahrhundert» und der «Nachruf» aber werden bleiben: jenes Buch als wichtige kulturhistorische Quelle; dieses als bewegendes Zeugnis einer «privaten Verzweiflung».