Ein schöner, grosser, schwarzer Mann eilt durch die Menge. „Ich bin der Löwe des Sudan“ schreit er und schwingt eine schwarz-rot-grüne Flagge. Daneben ruft ein sympathischer Kumpel ins Megaphon: „Werft die Tories raus, stoppt alle Entlassungen“. Der Mann ist Mitglied der Socialist Workers Party.
Ein amerikanisches Model mit kurzen Hotpants und langen Beinen wird auf der Strasse geschminkt, ausgeleuchtet und fotografiert. Ein Pakistaner verkauft freundlich den Koran.
Ein alter Ägypter bietet riesige Straussenfedern an. Sie sollen Frieden und Gerechtigkeit bringen. Am Rande der Strasse ist ein Openair-Coiffeur-Salon eingerichtet. Wie Filmstars sitzen hier Männer und Frauen. Sie lieben es, fotografiert zu werden.
Die Brick Lane, die Ziegelstein-Strasse im Osten der Stadt ist seit Jahren die wohl verrückteste Strasse Londons. Bis vor wenigen Jahren breiteten sich hier stickige Slums aus. Hier könnte Jack the Ripper gewütet haben. Der Ten Bell’s Pub in der nahen Commercial Street steht noch immer. Er hiess eine Zeit lang „Jack the Ripper Pub“.
Mitte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts kamen die Einwanderer aus dem damaligen Ostpakistan, dem heutigen Bangladesh. Das Quartier geriet fest in bengalische Hand mit vielen Curry-Restaurants und Import-Export-Geschäften.
Heute werden die Bengalen mehr und mehr verdrängt. Heute ist die Brick Lane ein Hotspot. Zehntausende drängen sich durch die Strasse mit ihren Verkaufsständen. Die Reichen und die Hippies sind hier, die Schönen und weniger Schönen. Die Galeristen und Designer, die Dandys und IT-Mädels, die Müden und die Blasierten. Auch die Veganer hüpfen durch die Strasse und verteilen Flugblätter.
Mode aus den „Funky Fifties“ wird angeboten. Hier gibt es alles: „Trendsetting and timeless“. Altmodische Blusen mit verrückten Tiger-Knöpfen, nachgenähte Uniformen aus der Schlacht von Trafalgar, ein Jupe von Queen Victoria, Hemden von Al Capone. „Born-Again Vintage“ heisst das Zauberwort, auferstandene edle Oldtimer-Kleider.
Schuhe, sogar einzelne, nur linke oder nur rechte; Schmuck aus Afghanistan und dem Maghreb; ein pinkfarbener Hut von Nelson; Wassermelonen, ein Pfund pro Schnitz; Briefmarken aus der Kolonialzeit; gestohlene Velos. Ein alter Mann spielt auf dem Saxophon Miles Davis, gestohlene Uhren, Zeitungen aus dem Zweiten Weltkrieg, Sonnenbrillen, Foulards, Beigels; ein Ansturm auf Vinyl-Schallplatten; Nacktfotos von Marilyne. Jugendstil, Art Deco, Stiefel der deutschen Wehrmacht. Kitsch und Preziosen.
Prada und Gucci sind Schimpfwörter
Im Zentrum des Quartiers liegt eine stillgelegte Brauerei: Die Old Truman Brewery. Ihre Anfänge gehen bis ins Jahr 1666 zurück. Später hiess das Unternehmen Black Eagle und war Londons grösste Brauerei. In den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts gab sie den Betrieb auf. Dann wurden die Haupt- und Nebengebäude in ein smartes Geschäfts- und Vergnügungszentrum verwandelt. Auf 45‘000 Quadratmetern sind 250 Geschäfte, Dancings, Clubs, Bars, Bühnen, Cabarets und Restaurants eingerichtet.
An die Brick Lane kommt man nicht, um etwas Bestimmtes zu kaufen. Aber die meisten kaufen dann doch etwas. Vor allem Junge sind hier. Sie suchen verrückte Kleider. Prada und Gucci sind für sie Schimpfwörter. Sie wollen etwas, das niemand hat, Second Hand-Kleider auch, Röcke mit Löchern, BHs, die Nonnen trugen, Hüte aus Autoreifen, Slips mit aufgenähten Bonbons, Bischofskutten mit Penissen verziert, Hüte aus Joghurt-Becher, Terroristen-Bärte zum Ankleben. Ein T-Shirt für einen Vierjährigen mit der Aufschrift "Ich bin pädophil, ich liebe kleine Mädchen". Mondän, fashionable, stylisch, chic, à la mode, übergeschnappt. Viele junge Frauen kaufen hier. Ihre Minijupes wären selbst einer Fünfjährigen zu kurz.
Auch Edel-Boutiquen spriessen. Ein Schneider mit viktorianischer Lizenz bietet Massanzüge an. Abendkleider gibt es für 60‘000 Franken und mehr. Spleenig oder teuer, edel oder ausgeflippt. „Dazwischen gibt es wenig“, sagt eine Verkäuferin, „diesen Yves Saint-Laurent- und Dolce & Gabbana-Kram wollen wir nicht“.
Weit über hundert Nationen treffen sich hier: Cross Culture. Shoreditch mit seiner Brick Lane ist ein chaotischer Mikrokosmos. „La Bordello Boheme“ lädt ein zu einer Nacht mit Zirkus, Cabaret und Varieté. Auf einem roten Ledersofa schreibt ein junger Mann verträumt in sein Tagebuch. Ein alter Schwarzer spielt auf der Gitarre einen schmachtenden Blues.
Cafe Bangla „the best in town“. The Shampan, "best Bangla Desh restaurant of the year". Überall Strassenküchen, Merguez, chinesische Nudeln, libanesische Süssigkeiten. Das syrische Strassenbistrot namens Damaskus quillt über. Der Besitzer hat keine Lust, über Politik zu sprechen.
Ein Schwarzer mit offenem weissen Hemd und einer schweren Goldkette. Eine weiss gekleidete Lady mit Bodyguard. Ein Dudelsack-Spieler, zwei Samba-Tänzerinnen. Ein Pate, dessen Begleiter ihm den Sonnenschirm hält. Der Markt findet jeden Sonntag von 09.00 bis 17.00 Uhr statt. Die Shops und die Restaurants sind während der ganzen Woche offen.
Hier werden Filme und Musik-Videos gedreht. Hochzeiten ziehen durch die Strassen. Immer wieder finden Cross Culture-Festivals statt, bei denen sich die verschiedenen Nationen in den Armen liegen. Besonders intensiv wird das bengalische Neue Jahr gefeiert. Und alles verläuft friedlich. „Zu Raufereien kommt es eigentlich nie“, sagt der Sicherheitsbeamte. "Drogen?" - "Nein", sagt er. "Alkohol?" - "Kaum".
Eine friedliche Insel inmitten der Acht-Millionen-Stadt. "Wir wollen müde Augen zum Erleuchten bringen", sagt eine Verkäuderin. Vieles ist frech, anstössig, manchmal auch geschmacklos. Man provoziert, man reizt. Mit punkigen Kleidern und Accessoirs lehnt man sich auf gegen die spröde, kommerzialisierte Welt. Doch das war's dann. Hier will niemand die Welt verbessern oder revolutionieren. Ausser dem netten Kumpel von den Socialist Workers geht es hier unpolitisch zu. Zwar stehen noch einige Lenin-Büsten herum. Auch Mao und Che Guevara fehlen nicht. Doch diese Götzen von einst sind längst unpolitische Folklore.
Jetzt kommt er zurück, der Löwe des Sudan. Er trinkt einen Schluck aus einer Coca Cola-Büchse, schwingt die sudanesische Fahne und singt die Nationalhymne, die englische. "Long live our noble Queen". Cross Culture.