Das EDA, konkret Bundesrat Ignazio Cassis, steht – wieder einmal – vor der Entscheidung, wer mit den Gesprächen mit der Europäischen Union, dem wichtigsten Partner der Schweiz, beauftragt werden soll.
Über die Frage, weshalb denn Livia Leu, Noch-Staatssekretärin, das Handtuch geworfen hat, wird gewiss noch längere Zeit spekuliert – sie selbst hält sich ebenso bedeckt wie das EDA. Aber eigentlich ist es leicht, die Ursachen aus den Untiefen der diffusen Aussenpolitik der Schweiz an die Oberfläche zu holen: Innerhalb des Bundesrats gibt es keine Mehrheit zur Frage, was die Schweiz in Bezug auf die EU will.
Vorteile: ja bitte, Verpflichtungen: nein, danke
Böse Zungen könnten allerdings behaupten, sie wolle eben das, was sie eigentlich schon immer wollte, in den Dialekt übersetzt «de Föifer und s Weggli». Das heisst, Teilnahme am gemeinsamen Markt, auch an den Forschungsprogrammen der EU (dafür sind wir ja bereit, ziemlich viel zu zahlen), aber möglichst wenig Verpflichtungen beim grenzüberschreitenden Personenverkehr, so wenig Pflichten wie möglich beim Komplex der so genannten Unionsbürgerrichtlinie, so viel Distanz wie möglich zu einem europäischen Gericht, selbst wenn es paritätisch besetzt sein sollte – und totale Distanz zu allen, auch den kompromissbereitesten, Vorschriften der EU hinsichtlich Löhne für grenzüberquerende Arbeitsleistungen.
Das Beharren auf dem Thema Lohnschutz kommt von den Gewerkschaften.
Das kategorische Nein zur Unionsbürgerrichtlinie kommt primär von der SVP, reicht aber auch in die parteiliche Mitte hinein.
Der Widerstand gegen die Forderung der EU, bei Differenzen im bilateralen Bereich (nur um den geht es, nicht um ein Jota mehr) einem europäisches Gericht (in dem die Schweiz Einsitz hätte) die letzte Entscheidung zu überlassen, löst diffusen Widerstand quer durch die politische Landschaft der Schweiz aus.
Als hätten wir nicht längst internationale Gerichte akzeptiert, sei es im Rahmen der WTO oder bei Fragen der Menschenrechte durch eine Instanz in Strassburg. Egal, jetzt geht es um «fremde Richter», und so etwas haben die Schweizer und Schweizerinnen ja seit 1291 nicht akzeptiert – wird sinngemäss und tatsachenfremd argumentiert. Das Schlagwort ist nun einfach mal populär und wird es bleiben.
Es allen recht machen wollen
Wie gehen eigentlich andere mit solchen Situationen um? Jede europäische Regierung muss sich fallweise dem Widerstand einzelner Interessengruppen stellen, wenn sie Entscheidungen fällen will. Jede ist für ihr Handeln mit etwas anderen Kompetenzen ausgestattet. So eigenständig, wie der französische Präsident im Fall des Durchboxens der Rentenreform handeln konnte (er leistete es sich, das Parlament zu übergehen), so kann im Europa der EU keine Exekutive vorgehen. Aber alle haben letzten Endes die Macht, die Partikular-Interessen von Minderheiten in die Schranken zu weisen. Können sie sich nicht durchsetzen, werden sie abgewählt. Das nehmen Politikerinnen und Politiker kreuz und quer durch Europa in Kauf – im Gegensatz zu den unsrigen zuoberst.
Salopp ausgedrückt: Unsere Bundesrätinnen und Bundesräte wollen es sich mit keiner wichtigen Lobby verderben, weil – jetzt werde ich polemisch, weil jede, jeder quer durch das politische Spektrum der Schweiz beliebt bleiben will. Sachlich betrachtet, müssten sie das eigentlich gar nicht – sie können durch kein Volks-Votum abgewählt werden, und dass sie durch das Parlament nicht bestätigt werden könnten, dieses Risiko ist minim. Christoph Blocher wurde im Parlament nicht abgewählt, weil er sich politisch exponiert hat oder hätte, sondern weil er persönlich im politischen Getriebe zu viel aneckte. Und Ruth Metzler wurde aufgrund einer internen Partei-Intrige aus dem Amt gedrängt. Mit anderen Worten: Niemand, ganz oben, muss sich fürchten, das Amt aufgrund einer öffentlichen Profilierung zu verlieren. Also könnten es sich eigentlich alle leisten, sich einmal mit dieser, ein anderes Mal mit jener Lobby, von links oder rechts, anzulegen.
Leisetreterei
Tun sie aber nicht. Kein bürgerliches Mitglied des Bundesrats will bei den linken Gewerkschaften anecken. Kein SP-Mitglied will harte Kritik von der Mitte oder von rechts riskieren. Leisetreterei ist die Devise, und die schlägt in der Europa-Nicht-Politik am drastischsten durch. Der Bundesrat wird, das ist vorauszusehen, keinem und keiner der potentiellen künftigen Diplomaten/Diplomatinnen, der oder die in Brüssel die weiteren Gespräche führen soll, klare Direktiven geben. Daher wird auch jede/jeder so scheitern, wie jetzt Livia Leu, wie vor ihr Roberto Balzaretti und vor ihm bereits zwei andere. Von jeder/jedem wird gefordert (das sagt natürlich niemand offiziell so), in Brüssel «den Föifer und das Weggli» herauszuholen. Aber die Europäische Union, die Gegenpartei, die will nun einfach mal darauf nicht eingehen. Auch das ist im voraus bekannt.
Wesentliches wird sich auch nicht ändern, wenn die Schweiz (das ist ja geplant) aus der Phase der Sondierungen zu jener von Verhandlungen aufgrund von bundesrätlichen «Eckwerten» übergehen wird. Die wollen die politischen Parteien der Schweiz ja ohnehin (aber das gibt in Bern niemand zu) so lange auf Sparflamme halten (das heisst wohl: alles Konkrete vermeiden), bis die nächsten Wahlen (Oktober) vorbei sind.
Und dann – ja dann bleibt eben ohnehin nur noch wenig Zeit, bis auf der anderen Seite die Europäische Union zur «lahmen Ente», also allmählich handlungsunfähig, wird, weil im Jahr 2024 die Kommission der EU neu bestellt werden muss. Prima, sagen sich wohl hinter vorgehaltener Hand viele schweizerische Politikerinnen/Politiker, dann haben wir Gott sei Dank noch etwas mehr Zeit.
Fragt sich nur, wofür.