Ein Art Déco-Theater, eine zum Ausstellungsraum umgebaute Werkhalle, ein Bahnhofdepot inmitten von kreischenden Zugsgeräuschen, ein multikulturelles Atelier, aber auch ein Irisches Pub und eine Druckerei sind die urbanen Schauplätze von ChiassoLetteraria, ein Festival der leisen Töne, aber von einer sehr lebendigen Faszination.
Ein pulsierendes Festival, das sich im kulturellen Leben und bei einem zunehmend grösseren Publikum Glaubwürdigkeit verschaffte, dank überraschendem Programm, hoher Qualität und unvergesslicher Begegnungen mit Autorinnen und Autoren wie Abraham Yehoshua, Peter Bichsel, Josephine Hart, Arto Paasilinna, Patrick McGrath. Die achte Auflage – vom 1. bis 5. Mai 2013 – steht unter dem Thema Exil, ohne Rhetorik, aber mit dem Wunsch, dem Begriff Würde und Gewicht zu verleihen.
Fabio Pusterla, Literaturpreisträger in Solothurn
Anwesend sind um die zwanzig international bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, unter ihnen auch der russisch-französische Romanautor Andreï Makine, Zeruya Shalev, Melinda Nadj Abonji (in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus), Carmine Abate, Elsa Osorio, Kader Abdolah, Yusuf Yesilöz.
Auch der diesjährige Preisgewinner Fabio Pusterla, der an den Solothurner Literaturtagen als einer der ersten den Schweizer Literaturpreis erhalten wird, ist am Sonntag, 5. Mai in seiner Veranstaltung „Carta bianca“ dabei.
Die Begegnungen finden in Originalsprache statt, mit italienischer Übersetzung. Zum Rahmenprogramm gehören Lesungen, Ausstellungen, Essen mit Autoren und ein einmaliges Konzert mit der Sängerin und Dichterin Fatoumata Diawara aus Mali.
Ein Festival in einer zwangslosen, familiären Atmosphäre, das die Verpflichtung zur Begegnung unter Menschen mit viel Hingabe pflegt, eine Veranstaltung ohne Gewinnstreben (der Eintritt ist frei). Die Organisation von ChiassoLetteraria steht unter der Leitung von Marco Galli, in Zusammenarbeit mit zahlreichen Partnern, unter anderem mit dem Literaturhaus Zürich.
Gespräch mit Fabio Pusterla
Fabio Pusterla, Sie haben unter anderem auch schon den Gottfried-Keller-Preis gewonnen. Sie haben auch Gedichte auf Deutsch und Italienisch veröffentlicht, unter dem Titel «Solange Zeit bleibt». Welche Beziehung haben Sie zur deutschsprachigen Schweiz?
Fabio Pusterla: Es ist nicht einfach, kurz darauf zu antworten. Vor allem ist die Beziehung von grosser Neugierde geprägt; ich komme oft und immer sehr gern nach Zürich, Basel oder Bern, oder an die wundervollen Solothurner Literaturtage. Ich verbringe auch immer einige Wochen im Jahr in Bergün im Graubünden. Ausserdem kenne ich einige Schriftsteller und Intellektuelle in der Deutschschweiz ziemlich gut und schätze sie sehr; ich treffe sie auch regelmässig an Sitzungen in Zürich als Mitglied der Fürsorge Stiftung Pro Litteris. Auch als Redakteur der Zeitschrift Idra habe ich an der Erstübersetzung zahlreicher Autoren aus dem Deutschen ins Italienische mitgewirkt.
Es bleibt aber ein Problem: Ich verstehe Deutsch ganz gut, ich spreche es viel weniger gut und ich bekomme grosse Schwierigkeiten bei Schwyzerdütsch.
Nach einer Umfrage des Museums Hesse in Montagnola bei Lugano kommt die Hälfte der Museumsbesucher wegen Hesse überhaupt ins Tessin. Wie erklären Sie sich, dass Hesse immer noch eine «Attraktion» für Touristen ist?
Ich denke, der Grund lässt sich leicht erklären. Hesse ist nicht nur zweifelsohne ein wichtiger Schriftsteller, sondern er ist auch sehr bald zu einer Art Ikone geworden, wegen seines Werks, aber auch wegen seines Lebensstils und der Aura des Aussergewöhnlichen um seinen Namen. Klaus Merz hat das an den Hesse-Tagen im Museum in Montagnola treffend gesagt: Hesse sei eine Institution.
Was bedeutet Ihnen Hesse? Haben die Werke von Hesse für Sie persönlich und für Ihre Arbeit als Dichter eine Bedeutung?
Ich denke, Hermann Hesse bleibt ein bedeutender Autor, vielleicht sogar für viele äusserst wichtig in der Lebensphase als Jugendliche. In seiner besonderen Art inszeniert Hesse die innersten Aspekte des Heranwachsens, die Suche nach dem Ich und unserer Existenz; das kann in der Jugendphase sehr wertvoll und von grosser Faszination sein – bei mir war es damals effektiv so.
Meine intensive Beziehung zu Hesse ist aber zeitlich auf die Jugendjahre begrenzt. Sicherlich hat mich die Lektüre einiger seiner Werke geprägt, vor allem wurde meine Leidenschaft geweckt und das, was ich Vertrauen in die Literatur nennen würde. Das ist sehr wichtig für mich, denn es bildet die Grundlage meiner Identität. Als ich jedoch wirklich mit dem Schreiben und der Suche nach meiner Ausdrucksweise begann, habe ich vermutlich nicht mehr bewusst an Hermann Hesse als Bezugspunkt gedacht.
Eine persönliche Bemerkung als Übersetzer: Fest überzeugt bin ich seit langer Zeit von Folgendem: Wenn es für unser kompliziertes Land eine Zukunft gibt, dann muss diese Zukunft notwendigerweise durch die gegenseitige Kenntnis gestaltet werden und eine solche gegenseitige Kenntnis ist eng mit der Übersetzung verbunden: Die eigentliche Übersetzung, aber auch das Sich-Hineinversetzen, das jeder von uns individuell machen kann, wenn er eine andere Sprache liest oder spricht. Wenn man übersetzt, sage ich mir, geht man wenigstens zum Teil aus sich heraus, man schaut aus einer neuen, weiteren Sichtweise auf die Welt. Denn die meisten Dinge, die mir an der Schweiz (und an anderen Ländern) nicht gefallen, haben mit der Enge zu tun, mit der Verteidigung von irgendwelchen mutmasslichen, oft engstirnigen Privilegien. Diejenigen Dinge, die mir hingegen gefallen, sind normalerweise mit Öffnung, mit Übersetzung, mit Akzeptanz des Andersartigen verbunden, und können gerade deshalb einen faszinierenden Horizont bilden.
FABIO PUSTERLA • Geboren 1957 in Mendrisio (TI).
• Schweizer Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker.
• Übersetzer von Philippe Jaccottet, einem der grössten europäischen Dichter unserer Zeit. Werke:
• «Cocci e frammenti» (Gedichte 2011)
• «Le terre emerse» (Gedichte 1985-2008)
• «Zur Verteidigung der Schule» (Originaltitel: Una goccia di splendore. Riflessioni sulla scuola). Bellinzona, Casagrande 2008.
• «Solange Zeit bleibt», (Gedichte Italienisch-Deutsch 2002).
• Diverse Preise, unter anderem Schillerpreis 2000, Gottfried-Keller-Preis 2007.
Weitere Details zum Programm sind auf der Webseite zu finden: www.chiassoletteraria.ch