Klara Obermüller: Vor Jahren sagten Sie, Sie wollten nicht nach Deutschland kommen, bevor nicht Ihr Name gedruckt auf einem Buchumschlag stehe. Jetzt erhalten Sie einen der renommiertesten Preise, die das Land zu vergeben hat. Was bedeutet es Ihnen, ausgerechnet in Deutschland so geehrt zu werden?
David Grossman: In Deutschland zu sein, ist für einen Juden wie mich immer etwas Besonderes. Als ich vor mehr als 20 Jahren zum ersten Mal herkam, empfand ich es als ausgesprochen hart, mich dem Klang der deutschen Sprache auszusetzen und mich in dem Land aufzuhalten, das Juden einst anonym in den Tod geschickt hatte. Deshalb war es für mich so wichtig, meinen Namen gedruckt auf einem Buchumschlag zu sehen. Wenn Leute meine Bücher läsen, dachte ich, würde es für mich leichter sein, mich als Individuum zu fühlen. Seither ist vieles anders geworden. Ich bin so oft in Deutschland, habe gute Freunde hier und sehe, wie die Dinge sich ändern und Menschen genesen können von dem, was geschehen ist. Das ist ein grosser Trost für mich und ein Zeichen der Hoffnung. Die Literatur hat viel dazu beigetragen. Es waren Bücher, die mir den Zugang zur deutschen Kultur eröffnet haben. Sie haben diese Kraft, Gräben zu überwinden. Der Leser kann sich einfühlen und sich im Andern wiederfinden. Literatur ist ein so wunderbares Medium der Empathie. Durch sie bin ich Deutschland näher gekommen.
Die Jury verleiht Ihnen den Preis in Anerkennung Ihrer Verdienste um Frieden und Versöhnung im Nahen Osten. Handelt es sich folglich mehr um eine politische denn eine literarische Auszeichnung? Oder ist es gar nicht möglich, diese Unterscheidung zu machen, weil das Leben in Israel so durch und durch mit Politik kontaminiert ist?
Mir gefällt der Begriff "kontaminiert". Denn es ist ein und dieselbe Person, die hinter den politischen Aktivitäten und den literarischen Bücher steht. Beides entspringt der gleichen Quelle und dem gleichen Bedürfnis, die Welt, mich selbst und den Andern in der jeweiligen Situation zu verstehen. Deshalb kann es gut sein, dass ich zur gleichen Zeit einen politischen Artikel über den Konflikt zwischen uns und den Palästinensern schreibe und an einer Geschichte über eine ganz delikate Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau arbeite.
Stört es Sie, häufiger über die politische Lage im Nahen Osten als über ihre Bücher befragt zu werden?
Ja, es stört mich. Denn ich finde, dass Leute, die nur auf unsere politische Situation fixiert sind, einen ganz wesentlichen Teil von unserem Leben und von mir selbst verpassen. Ich bin in erster Linie ein literarischer Autor, aber ich kann mich eigentlich nicht beklagen. Denn ich weiss, dass viele mich auf diese Weise lesen und bereit sind, in meine Romane einzutauchen.
Als Sie vor zwei Jahren den "Geschwister Scholl-Preis" entgegennahmen, würdigten Sie in Ihrer Dankesrede den Entschluss der beiden jungen Leute, der Realität ins Auge zu sehen und das allgemeine Stillschweigen zu durchbrechen. Können Sie sich erinnern, wann Sie selbst begonnen haben, nicht mehr wegzusehen und über das zu schreiben, was die meisten Ihrer Landsleute lieber nicht wissen wollten?
Ja, ich erinnere mich, aber ich möchte natürlich unsere Situation in Israel nicht mit derjenigen der Geschwister Scholl in Nazi-Deutschland verglichen haben. Bei mir geschah es während des Militärdienstes. Ich versah meinen Dienst, tat meine Pflicht und stellte keine Fragen. Doch dann auf einmal realisierte ich, dass ich jedes Mal, wenn ich einem Palästinenser begegnete, augenblicklich, ja, man könnte fast sagen, instinktiv wegsah. Ich ignorierte ihn und bekam diesen leeren Blick in meinen Augen. Nachdem mir das bewusst geworden war, begann ich zu fragen, wie es geschehen konnte, dass unser jüdisches Volk, das ich stets als ein moralisch besonders hochstehendes betrachtet hatte, dass wir uns darauf trainiert hatten, die Augen vor der Realität zu verschliessen und nicht zu sehen, was wir im Leben anderer Menschen anrichteten. Ich fing an, den Mechanismus dieses Verhaltens zu studieren und fragte mich, wie das Verdrängungssystem funktionierte, das unser ganzes Leben beeinflusste, mit dem einen Zweck, eine Barriere zwischen uns und der Realität zu errichten. Aus diesem Grund habe ich schliesslich den Roman "Das Lächeln des Lammes" und den Reportageband "Der gelbe Wind" geschrieben. Denn es besteht ein Unterschied zwischen Nichtwissen und Nichtwissen-Wollen. 1987, als ich die Reportagen über die besetzten Gebiete schrieb, fanden alle die Situation völlig normal. Wir hatten den Krieg gewonnen. Was "dort" geschah, interessierte uns nicht. So war die Stimmung damals – bis zur Ersten Intifada. Dieses Verdrängen entspringt einer ganz tiefen Angst, die die Leute gleichgültig macht. Sie glauben nicht an eine Lösung der Situation und sind entsetzt darüber. Diese Angst stellt eine grosse Gefahr für Israel und seine Zukunft dar.
Schreiben bedeutet ja unter anderem auch, sich in seine Figuren hineinzufühlen. Sie haben stets gefordert, die Israelis sollten sich in die Lage der Palästinenser versetzen und umgekehrt. Ist das wirklich möglich? Und ist es nicht furchtbar schwer, die Spannung dieses doppelten Blicks auszuhalten?
Oh doch, es ist sehr schwer, und alle unsere Überlebensinstinkte wehren sich dagegen. Aber es ist unsere Pflicht und der einzige Weg, die Komplexität der Lage wirklich zu verstehen. Solange wir uns weigern, der Realität ins Auge zu schauen, stehen wir nicht mit der Realität in Verbindung, sondern lediglich mit unseren Projektionen, unserem Wunschdenken oder unseren Albträumen. Diese Anstrengung müssen wir erbringen, es ist die einzige Möglichkeit, etwas an der Situation zu ändern. Das gilt natürlich für beide Seiten. Auch die Palästinenser können sich dem nicht entziehen. Sie müssen lernen, die Ängste der Israeli zu verstehen, die Fragilität ihrer Situation im Nahen Osten, so wie die Israeli lernen müssen, sich als Teil der Besatzung zu verstehen. Beide müssen die Last der Identifikation auf sich nehmen. Das ist nicht leicht. Aber ich glaube, Empathie ist der einzige Ausweg und trägt mehr zu unserem Überleben bei als die Verleugnung.
In vielen Ihrer Bücher ist es ein Kind, das die Geschichte erzählt, ein Kind, das besser als die Erwachsenen sieht, was falsch läuft. Wie wichtig ist es für Sie, sich beim Schreiben diese kindliche Perspektive zu bewahren?
Auch wenn ich nicht über Kinder schreibe, versuche ich mir diese Sicht zu bewahren, weil sie etwas so Kostbares ist. Das Kind schaut auf diese Welt mit Augen, die nichts für gesichert halten. Ich denke, das ist die einzige Möglichkeit, Realität zu beschreiben. Aber natürlich kann ich nicht nur aus der Sicht des Kindes schreiben. Es muss eine Verbindung von beidem sein. Wenn Sie schreiben, müssen Sie zugleich total überrascht und ganz sachlich und nüchtern sein. Diese Mischung, denke ich, lässt etwas Neues in Ihnen entstehen. Aber im Grunde war es keine bewusste Entscheidung, Kinder als Erzähler zu wählen. Ich weiss eigentlich nicht genau, warum ich es getan habe.
In Ihrem jüngsten Buch haben Sie erstmals eine Frau als Erzählfigur gewählt. Das kann ja wohl auch kein Zufall sein.
Ja, es gibt Gründe, warum ich für diesen Roman eine weibliche Erzählerin gewählt habe. Es ist in diesem Buch so viel von Familie die Rede, und ich dachte, dass dies für eine Frau vorrangiger sei als für einen Mann, obwohl ich sagen muss, dass ich mich selbst eigentlich für einen sehr mütterlichen Vater halte. Auf der andern Seite hat es aber auch damit zu tun, dass so viel Rebellion in diesem Buch drin steckt. Sie, die Erzählerin, versucht ihren Sohn auf eine sehr aktive Weise zu beschützen. Indem sie seine Lebensgeschichte bis in alle Einzelheiten hinein erzählt, spürt sie in sich die magische Gewissheit, dass sie ihn damit vor dem Tod bewahrt. Ich denke, kein Mann wäre zu einem so rebellischen Akt des Ausbruchs aus der Militärmaschinerie fähig. Männer neigen vielmehr dazu zu kollaborieren, ohne gross darüber nachzudenken. Ora, die Mutter, hingegen ist ihrem Kind gegenüber loyaler als gegenüber dem Staat oder der Armee.
Und doch war es ein Mann, der diesen Roman geschrieben hat.
Ja, das gebe ich zu. Die Leute fragen mich oft, wie es gewesen sei, eine solche weibliche Figur zu schaffen, und ich antworte dann, ich hätte mich ihr schlicht und einfach ergeben. Wir haben ja nicht nur diese eine, wir haben ganz viele verschiedene Seinsmöglichkeit, und ich empfinde beim Schreiben ein tiefes Vergnügen, mich in ganz unterschiedliche Daseinsformen hineinzudenken.
Sie schreiben nun schon seit über 20 Jahren Romane, Kinderbücher, Reportagen und politische Kommentare. Wo nehmen Sie die Kraft her, weiterzumachen trotz all der Rückschläge und Tragödien, die Sie erlebt haben?
Ich bin von Natur aus ein Optimist. Ich glaube an Eigeninitiative und an die Möglichkeit, Dinge zu ändern. Ich weigere mich, aufzugeben und zu verzweifeln. Ja, ich empfinde es als persönliche Beleidigung, mit der Verzweiflung zu kollaborieren und damit zum Opfer zu werden. Aber ich gebe auch nicht auf, weil ich überzeugt bin, dass Israel ein so bedeutsamer Ort zum Leben sein könnte. Es könnte blühen und zu einem wunderbar anregenden und inspirierenden Platz auf dieser Welt werden. Mir bricht es manchmal fast das Herz, wenn ich sehe, wie wir uns verraten und all unsere Möglichkeiten vertun. Das scheint mir ein guter Grund zu sein, den Kampf fortzuführen.
Hilft das Schreiben auch?
Ja, ich denke schon, aber es hilft auf eine ganz besondere Weise: nicht indem es der Angst ausweicht, sondern indem es sich ihr stellt. Ich bin, nachdem mein Sohn im letzten Libanonkrieg gefallen war, nach der Trauerwoche gleich wieder an den Schreibtisch zurückgekehrt. Das ist immer meine Art gewesen, am Leben zu sein und das Leben zu begreifen. Nach dem Tod meines Sohnes hatte ich jedoch das Gefühl, ausgestossen zu sein und abgeschnitten von allem, was ich kannte. Alles war mit einemmal in Frage gestellt. Für mich war die Rückkehr an den Schreibtisch der einzige Weg, mein Leben zurückzufordern und mir wieder einen Platz auf dieser Welt zu schaffen.
In Ihrem letzten Roman, "Eine Frau flieht vor einer Nachricht", haben Sie über Liebe geschrieben und über das Leben einer ganz gewöhnlichen Familie in einem traumatisierten Land. Sie schreiben darin aber auch über die Brutalisierung der Gesellschaft und den Verlust moralischer Standards als Folge von Krieg und Besatzung. Was macht Ihnen mehr Sorgen, die Bedrohung von aussen oder die zerstörerischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft?
Ich denke, das hängt zusammen. Die beiden Prozesse bedingen sich gegenseitig. Sie können eine so bedrohliche Situation, wie es diejenige Israels ist, nicht losgelöst sehen vom inneren Zustand der Gesellschaft: von der Angst, der Gewalt, der Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben. Das ist nicht etwas, was Sie auseinanderdividieren können. Es gibt keine doppelte Buchführung der Realität. Sie dringt überall ein. Der eigentliche Grund meines jahrelangen Kampfes für den Frieden ist nicht nur, dass ich nach einer politischen Lösung für die Sicherheit unseres Landes suchte. Diese ist selbstverständlich wichtig: Ende der Besatzung, Würde und Souveränität für die Palästinenser usw. Aber noch viel wichtiger ist mir, dass Israel zu seinen Wurzeln zurückfindet, sein Potential neu entfaltet und wieder zu einem Ort wird, an dem zu leben sich lohnt. Leider bewegen wir uns zur Zeit nicht in diese Richtung. Das ist natürlich nicht nur unsere Schuld. Auch die Palästinenser, die andern arabischen Länder und der Iran hätten ihren Teil zu einer Lösung beizutragen. Frieden zu schaffen ist nicht allein die Aufgabe Israels. Und doch erwarte ich als Israeli von meiner Regierung, dass sie die Initiative ergreift und den Mut hat, flexibel und kreativ zu sein. Verglichen mit den Palästinensern sind wir die Stärkeren und haben viel mehr Möglichkeiten. Die Palästinenser sind zerstritten. Jeder kämpft gegen jeden, nicht weniger als gegen uns. Es ist wirklich nicht leicht, die dialogfähigen Leute auf beiden Seiten zu finden, ihnen den Rücken zu stärken und Alternativen aufzuzeigen. Die Leute hier glauben nicht mehr daran, dass es Alternativen gibt, aus Angst und Verzweiflung. Dialogfähige Leute zu finden und sie zusammenzubringen, könnte der Beginn der Genesung sein.
Schon in Ihren ersten Reportagen aus den besetzten Gebieten und seither immer wieder betonen sie, dass der Preis tödlich sein könnte, wenn Israel nicht bald eine Lösung findet. Was meinen Sie damit?
Wenn sich nichts ändert, wird Israel mehr und mehr isoliert sein und die Lage immer verzweifelter werden. Es wird neue Wellen der Gewalt geben und neue Tragödien, schlimmer als die vorangegangenen, und ich fürchte, Israel wird sich in eine Phobie hineinsteigern, die alle Vernunft lahm legt. Das ist ein grässliches Szenario. Eine weitere Chance werden wir nur haben, wenn die Leute einsehen, dass es nur einen Weg gibt, unser Leben hier zu sichern, und das ist der Kompromiss: will heissen der Verzicht auf die umfassende Lösung, die vollkommene Gerechtigkeit. Die Leute müssen verstehen, dass die Gerechtigkeit, die wir hier erringen können, nur eine schmerzliche und angeschlagene sein kann. Aber es ist die einzige, die es den beiden Völkern erlaubt, sich zu erholen. Kompromiss würde bedeuten, dass es zwei Staaten gibt, dass die Siedlungen aufgegeben werden und dass Jerusalem geteilt wird, aber auch dass die Palästinenser auf ihr Rückkehrrecht verzichten, denn das hätte das Ende Israels zur Folge. Doch wenn all dies verstanden ist – und ich bin überzeugt, dass die Mehrheit der Israeli es bereits verstanden hat – müssen wir auch die Kraft haben, es in die Realität umzusetzen.
Und was steht dagegen?
Die Leute sind so verstrickt in ihre Angst, dass sie jeden Schritt, den der andere macht, für eine Falle halten.
(Von David Grossman ist zuletzt der Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" im Hanser Verlag, München, erschienen)