Wer sich mit Finanzmärkten auseinandersetzt, dem ist der Begriff des Random Walk – des Zufallspfads – geläufig. Oft geschunden, nicht selten falsch interpretiert, beschreibt er das Verhalten von Preisen oder Kursen an hoch organisierten Märkten. Das zufällig sich ergebende Muster ist dort das Ergebnis sofortiger Verarbeitung neu eintreffender Information, die selber quasi definitionsgemäss zufällig sein wird, da sie sich sonst bereits in den Preisen niedergeschlagen hätte. Entsprechend wird der Preis ein ähnliches Muster aufweisen wie die neue Information – eben ein Zufallsmuster. Als Konsequenz davon – so die Theorie – würden systematische Kurzfristprognosen entsprechender Kurse verunmöglicht und aktive Vermögensverwaltung würde im Durchschnitt eine schlechtere Rendite erbringen als passives Management. So weit so gut.
Aber das Leben – unser Curriculum – als Zufallspfad? Wird da der Zufall nicht arg überstrapaziert?
Wie oft sind wir alle in unserem Leben an Wegscheiden gestanden und stehen laufend dort. Welches Studium? Ein neuer Chef. Eine neue Freundin?
Offerte eines Head-Hunters. Heiraten? Kinder? Sich exponieren, oder eben gerade nicht?
Viele mögliche Pfade
Wir stehen an diesen Wegscheiden und treffen Entscheidungen. Notwendigerweise. Praktisch immer mit unvollständiger Information, manchmal mit gar keiner. Bauch eben. Und schon bald kommt die nächste Wegscheide. Die Anzahl möglicher Pfade ist unendlich. Und wenn wir einmal einen Pfad eingeschlagen haben, wissen wir nicht, was geschehen wäre, wenn ...
Es geht aber noch weiter. Auf dem eingeschlagenen Pfad finden sich alle möglichen Imponderabilien. So soll Michael Lewis, einer der erfolgreichsten US-Finanzautoren, die Geschichte erzählt haben, dass der einzige Grund, weswegen er nach seinem Studium in einer Bank landete, darauf zurückzuführen sei, dass er bei einem mehr oder weniger zufälligen Essen neben der Frau eines Salomon Brothers Big Shots sass und die Dame offensichtlich so sehr beeindruckte, dass diese ihren Mann bat, den jungen Herrn anzustellen. Ohne Ahnung von Banking steckte man ihn in den Derivatehandel, wo er sich sein Wissen aneignete, das ihn am Schluss zu einem der (erfolg)reichsten Finanzautoren machte. Und warum sind Sie an Ihrem Job? Imponderabilien, Zufälligkeiten.
Väterchen Zufall, Geschwister Glück und Pech
Aber ist dann alles nur Zufall? Natürlich nicht. Schliesslich leben wir in einer meritokratischen Gesellschaft, in welcher doch irgendwie jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Eine Gesellschaft, in welcher sich Leistung, Einsatz, Ausdauer und Intelligenz auszahlen sollen. „Von nichts kommt nichts.“ Aber auch wenn hunderte „Mitspieler“ die gleichen Eigenschaften aufweisen würden, so würden es trotzdem nur wenige „ganz nach oben“ schaffen. Fleiss, Ausdauer, Intelligenz und ähnliches sind (bestenfalls) notwendige Bedingungen für Erfolg. Als Statistiker würde ich dazu sagen: Das einzige, was die entsprechenden Charaktereigenschaften tun: sie beeinflussen die Wahrscheinlichkeitsverteilung des Aufstiegs. Dabei werden Väterchen Zufall und seine Geschwister Glück und Pech systematisch ausgeblendet.
Und dies natürlich insbesondere von denjenigen, die „es geschafft“ haben. Wer würde seinen Erfolg schon dem Zufall zuschreiben wollen. Eben: Wir leben ja in einer meritokratischen Gesellschaft, in welcher derjenige Erfolg hat, der ihn sich erarbeitet hat. Die Verhaltensökonomen haben für dieses Phänomen den Begriff des „hindsight bias“ parat: Im Nachhinein kommt uns so manches als voraussehbar vor, das es natürlich nicht ist oder war. Golfspieler können ein Lied davon singen. Wer würde nach einer guten Runde sich schon daran erinnern wollen, dass der Ball an jeder dritten Bahn glücklicherweise gerade noch in Richtung Fahne gesprungen ist, obwohl er ebenso gut im Sandbunker oder im Wasser hätte landen können. Ganz im Gegenteil erinnert man sich eher daran, dass es noch viel besser hätte kommen können (sollen?), wenn nicht an der Bahn ...
Vom Boden abheben wie Ikarus
Und wenn wir ehrlich sind, sind es doch genau diese Zufälligkeiten, die unser Curriculum mitschreiben. Jedem Jahrgang meiner Wirtschaftsstudierenden versuche ich klar zu machen, dass irgendeiner der Damen und Herren, die hier sitzen, es wohl irgendeinmal „ganz nach oben“ (was immer das im Einzelfall auch heissen mag) schaffen wird. Es würde mich freuen, wenn sie dann bei Ankunft dort oben an ihren alten Professor zurückdenken würden, der ihnen weiland gesagt hat, dass das Erreichen dieses Zieles zu einem kleinen Teil mit ihrer Genialität zu tun hat, aber zu einem viel grösseren Teil halt einfach mit den Imponderabilien des Lebens. Wer das verstanden hat, wird eine verantwortungsvolle Führungsposition mit sehr viel Demut verwalten. Wer es nicht verstanden hat, vielleicht weil er es nicht verstehen kann, wird sich über kurz oder lang Flügel aneignen und wie Ikarus vom Boden abheben. Es fliegt einiges in den Lüften rum.
[1] Der Autor ist Professor für Finanztheorie an der Universität Basel und Partner des Finanzausbildungsportals Fintool.ch. Der Aufsatz ist in leicht revidierter Form in der Finanz&Wirtschaft vom 21.9.2016 unter dem Titel „Nicht alles ist Zufall – aber vieles“ erschienen.