Heute ist sie über sechzig und blickt zurück auf auf ihr historisches Rendez-vous mit der nicaraguanischen Revolution von 1979. Was trieb eine junge Frau aus reicher Familie in die Arme der bärtigen Sandinisten, und was ist übrig geblieben vom revolutionären Höhenflug? Gioconda Belli über den bewaffneten Kampf, über revolutionäre Euphorien und Ernüchterungen.
Helmut Scheben: Sechs Romane, sechs Gedichtbände und zwei wunderbare Kinderbücher. Sie müssen viel Disziplin haben zu Schreiben.
Gioconda Belli: Ich bin in der Arbeit diszipliniert. Wenn ich eine Idee habe für einen Roman, dann geht es zunächst darum, die richtige Tonart zu finden, die Stimme, die die Geschichte erzählt, die Seele des Buches. Das ist für mich so etwas wie eine poetische Inspiration. Die Idee geht mir im Kopf herum, und dann plötzlich artikuliere ich sie. An dem Tag, an dem ich den ersten Satz schreibe, habe ich auch den Tonfall, den ich will.
Sind das am Anfang mehr visuelle Szenen oder gibt es schon einen Plot, dass Sie also wissen, wie die Geschichte läuft – wie bei einem Kriminalroman?
Es ist ein Mischung aus Bildern und einem Plot. Manchmal ändere ich den Plot unterwegs. Aber es gibt schon so etwas wie eine Landkarte und eine Route zu den wichtigste Momenten. Fast bei allen Romanen habe ich am Anfang gewusst, was passieren wird, wie er ausgeht.
Wie muss man sich das vorstellen im Alltag?
Ich gehe immer spät ins Bett, so um neun am Morgen stehe ich auf, dann erledige ich, was zu tun ist - immer noch im Pyjama - um elf bade ich, und dann gehe ich in mein Büro. Da habe ich kein Internet, nur einen PC zum Schreiben. Und wenn die Geschichte schon weit fortgeschritten ist, dann kommt es vor, dass ich in ein Hotel gehe.
In ein Hotel? Um ungestört zu sein?
Ja, es gibt einen Moment, in dem ich soviel im Kopf habe, dass ich damit allein in einem Hotelzimmer sein muss.
Der Roman „Bewohnte Frau“ von 1988 war wohl der Durchbruch, er hat Sie berühmt gemacht. Die Geschichte einer jungen Frau aus dem Bürgertum, die sich in einen Mann der Sandinistischen Befreiungsfront verliebt und sich der bewaffneten Untergrundbewegung anschliesst. Wie weit war das autobiographisch?
Es gab autobiographische Elemente, aber es war nicht völlig autobiographisch. Ich denke, es ist unvermeidlich, dass man Elemente aus seinem eigenen Leben nimmt, um an die Gefühle der Protagonisten heranzukommen. Sie musste etwas von mir haben, die Frau in dieser Geschichte. Was sie fühlt angesichts der Gefahr, den Mut haben oder nicht den Mut haben, sich trauen oder sich nicht trauen, das Problem des Schuldbewusstseins ihrer Klasse - all das waren Gefühle, die ich auch hatte. Nicht unbedingt in denselben Umständen wie im Roman, aber ich hatte sie erlebt. Da ist zum Beispiel auch die Aktion vom 27. Dezember (eine bewaffnete Kommando-Aktion, Red.), die habe ich fast eins zu eins wiedergegeben. Aber natürlich habe ich auch vieles verändert in der Geschichte.
Der Roman hatte vielleicht Erfolg, weil die Leser merkten, dass die Erzählerin da nicht literarische Erfahrungen oder Vorstellungen aus der Phantasie schildert, sondern konkrete Dinge, die sie erlebt hat.
Ja. Zum Beispiel, als Felipe stirbt (eine der Figuren in dem Roman, Red.). Da erzähle ich den Tod eines Mannes, den ich sehr geliebt habe und der von der Nationalgarde umgebracht wurde. Während ich schrieb, dachte ich daran und ich weinte. An derselben Stelle weinte dann auch die Lektorin, das hat sie mir gesagt – und darüber musste ich dann lachen. Es wird da also einiges übertragen, aber nicht immer. In andern Fällen ist es eine Übung in Empathie. Der Roman „Juana la loca“ zum Beispiel, das war schrecklich für mich. Ich fühlte eine tiefe Empathie für Johanna, ich stellte mir vor, was sie gelitten hatte.
Im Roman „Bewohnte Frau“ trifft ein hübsches Mädchen aus dem nicaraguanischen Bürgertum auf eine Organisation des bewaffneten Aufstands. Da treffen zwei Welten aufeinander. Auch Sie, die Autorin, haben sich im wirklichen Leben als junge Frau aus reicher Familie den Sandinisten angeschlossen. Was ist die Bilanz? Hat sich dieser Aufstand gelohnt? Was hat das alles gebracht?
Ich glaube, das Problem ist, dass unsere Erwartungen nicht erfüllt werden können, denn unsere Zeit, unser Leben, ist zu kurz. Die Geschichte dagegen bewegt sich sehr langsam. Ich habe das Gefühl, dass ich als einzelner Mensch das getan habe, was ich in diesem Moment tun musste. Das Ergebnis ist nicht genau das, was ich erwartet hatte, aber trotzdem war es nicht unwichtig. Das heisst, es hat eine historische Veränderung gegeben durch das, was wir damals taten. Auch wenn es noch nicht das ist, was wir wollten, aber es ist ein grosser Unterschied zwischen der Somoza-Herrschaft und dem, was wir heute haben.
Der ehemalige Sandinisten-Kommandant Daniel Ortega ist heute wieder an der Macht. Er ist Präsident von Nicaragua, aber die meisten seiner ehemaligen Kampfgefährten haben sich von ihm abgewandt. Sie werfen ihm vor, er sei machtgierig und betreibe eine Politik des billigen Populismus.
Ich halte nichts von Daniel Ortega, er ist wirklich ein Unheil als Person. Er und seine Frau tun mir leid, die Macht ist ihnen in den Kopf gestiegen, und sie sehen nicht mehr den Unterschied zwischen der Realität und ihren Fantasien.
Mit dem Populismus ist es eine andere Sache. Der Populismus, der jetzt in den linken Regierungen in Lateinamerika herrscht, nenne ich „chavista“, denn er ist möglich dank Hugo Chávez und dem venezolanischen Erdöl. Das hat das wirtschaftliche Erstarken der linken Regierungen in Lateinamerika möglich gemacht. Die Projekte dieser Linken sind nicht fehlerfrei, sie tragen immer noch Züge der autoritären Linken der siebziger und achtziger Jahre. Es fehlt ihnen an demokratischem Denken. Aber diese Projekte machen es immerhin möglich, dass Ressourcen zu den am stärksten ausgebeuteten Klassen fliessen. Diese Klassen, die von der politischen Rechten nie gefördert und immer nur marginalisiert wurden, diese Menschen bekommen nun Ausbildung, Gesundheitsversorgung und so weiter. Und das Ergebnis wird sein, dass sie in Zukunft eine stärkere Rolle spielen können. Es ist also nicht alles so, wie ich es gerne hätte, aber ich leide lieber an den Fehlern dieses Populismus, als die politische Rechte an der Macht zu sehen.
Mir ist ein Satz in Erinnerung geblieben, ich glaube, er stammt von einem Intellektuellen der Achtundsechziger-Generation. Der Satz heisst ungefähr so: Als der revolutionäre Rausch vorüber war, fand sich jeder plötzlich wieder allein mit seinem kleinen, miserablen Privatleben.
Die politische Euphorie ist wie eine Droge, sicher eines der orgiastischsten Gefühle auf diesem Planeten (lacht). Diese Euphorie ist eine wunderbare Sache, wenn man etwas erreicht hat. Aber klar, man kann nicht immer weitermachen in dieser Intensität, und wenn du dann in die Realität zurückkehrst, in die Ernüchterung des Alltags, dann ist das eine Enttäuschung. Wie ein Freund in Nicaragua sagte: „So viele Opfer haben wir gebracht und all das durchgemacht, um am Ende Angestellte im öffentlichen Dienst zu werden.“ (lacht) Ich erinnere mich an diese Romantik der Waffe und der Uniform… doch dann gibst du die Uniform ab, gibst die Waffe ab und sitzt in einem Büro hinter einem Schreibtisch. Das ist der Preis, den man für den Sieg zahlt, sagte mir einmal der vietnamesische General Giap. Das war in Algerien 1979. Ich habe noch eine Foto mit ihm und Raul Castro und Gabriel García Márquez auf einer Terrasse in Algier.
Und der nächste Roman, die nächste Erzählung?
Da muss ich nachdenken. Im Moment möchte ich am liebsten nur lesen. Isabel Allende setzt sich in jedem neuen Jahr am 8. Januar hin und beginnt einen neuen Roman. Das könnte ich nicht. Salman Rushdie hat mir einmal gesagt: Das Schrecklichste ist der Moment, in dem du ein Buch schreiben sollst, aber kein Buch mehr zu schreiben hast. Verstehen Sie, was ich meine? Wenn die Bücher geschrieben sind, wenn es kein Buch mehr in einem drin gibt, das geschrieben werden muss…. Ich habe seit zwei Jahren kein Buch mehr geschrieben. Und wenn ich keine Leidenschaft für etwas spüre ... - bis jetzt habe ich sie noch nicht gespürt.
BIOGRAFIE
Starke Frauen kennzeichnen das Leben und Werk Gioconda Bellis. Zunächst einmal ist sie selbst eine: Sie stammt aus einer der reichen Familien Nicaraguas, besucht eine Klosterschule in Spanien, studiert in den USA Kommunikationswissenschaften, wird früh Ehefrau und Mutter. Als sie Anfang 20 ist, bricht sie mit der traditionellen Rollenzuschreibung. Sie übernimmt einen Job in einer Werbeagentur und schliesst sich, aus Empörung über die Armut der Bevölkerung und den Machtmissbrauch des Somoza-Regimes, der Sandinistischen Befreiungsfront an, die sie logistisch, im Exil in Mexiko und Costa Rica dann auch publizistisch und in diplomatischen Missionen unterstützt. In Abwesenheit wegen subversiver Tätigkeit zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, kehrt Gioconda Belli 1979, beim Sieg der Sandinistischen Revolution, zurück nach Nicaragua. Bis 1986 arbeitet sie auf verschiedenen kulturpolitischen Posten für die Revolutionsregierung, unter anderem als Fernsehdirektorin und Pressesprecherin. Enttäuscht über das politische Versagen, die Realitätsferne und den Machismo der Kader – die ihr beispielsweise den Kontakt zu ihrem späteren Ehemann verbieten, einem amerikanischen Journalisten – sagt sie sich Anfang der 1990er Jahre von den Sandinisten los. In "Die Verteidigung des Glücks", ihren Memoiren, erzählt sie von dem Zwiespalt zwischen politischem Engagement und ihrer Selbstverwirklichung als Frau. „Ich gelangte zu der Überzeugung, dass es genauso berechtigt ist, glücklich sein zu wollen, wie die Revolution zu machen“, lautet ihr Fazit. „Wie wollte ich die Welt retten, wenn ich nicht so klug war, nach meinem eigenen Glück zu streben?“
*Seit sie 1970 ihre ersten erotischen Gedichte veröffentlicht hat, in denen die Frau das Subjekt in der Sexualität ist – was im erzkatholischen Nicaragua einen Skandal auslöst –, schreibt Gioconda Belli für das weibliche Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und für die Emanzipation der Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Protagonistinnen ihrer bislang vier Romane – "Bewohnte Frau" (1988), "Tochter des Vulkans" (1990), "Waslala" (1996), "Das Manuskript der Verführung" (2006) – müssen sich in einer männlich dominierten Welt behaupten. Lavinia, die Heldin von "Bewohnte Frau", findet über die Liebe zu einem Compañero zur Befreiungsbewegung und gleichberechtigten Teilnahme am bewaffneten Widerstand. "Tochter des Vulkans" erzählt von Sofia, die sich ein selbstbestimmtes Leben erkämpft, inklusive freier Sexualität und wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Die literarische Kritik hat die einfache Erzählstruktur und inhaltliche Anklänge an Telenovelas moniert, doch Gioconda Belli zielt mit ihren Romanen auch auf eine möglichst breite Wirkung. Tatsächlich sind beide Bücher Bestseller geworden, offensichtlich konnten sich viele Leserinnen, insbesondere in Nicaragua, mit dem Streben der Protagonistinnen nach Befreiung von alten Rollenklischees identifizieren.
"Waslala" handelt von der ambivalenten Suche der jungen Melisandra nach einer gerechten Gesellschaft und gleichberechtigten Geschlechterbeziehungen. Das "Manuskript der Verführung", ihr neuester Roman, erzählt die Geschichte Johannas von Spanien, genannt die Wahnsinnige – wie immer bei Gioconda Belli, die heute mit ihrer Familie in Kalifornien lebt, aus weiblicher Perspektive. Dabei geht es nicht nur um die Vergegenwärtigung einer historischen Persönlichkeit. In der intensiven Auseinandersetzung mit Johanna findet vielmehr Lucia, die siebzehnjährige Klosterschülerin und Heldin dieses Romans, ihre weibliche Identität und erkennt, dass sie ein anderes Leben wählen kann – ihr eigenes.*
Kürzlich erschien von Gioconda Belli der Roman "Die Republik der Frauen" im Verlag Droemer Knaur, München.