Sind Sie in Indien gewesen? Gingen Sie dort auch nach Orissa, einem Bundesstaat an der Ostküste zwischen Kalkutta und Madras? Mir ist diese Gegend von allen Regionen Indiens die liebste. Sie bietet eine Fülle von Attraktionen: Dschungel, verödete Landstriche, Strände, Wildtierreservate, malerische Dörfer, eine Vielfalt von Kunstgewerbe und eine nicht sehr rührige, aber überaus liebenswerte Bevölkerung.
Vor allem jedoch stehen hier, in der Hauptstadt Bhubaneswar und im benachbarten Konarak, einige der schönsten Tempel Indiens, Juwelen sakraler Kunst. Sie sind von zuunterst bis zuoberst bedeckt mit Skulpturen und Ornamenten – eine Filigranarbeit in rostrotem Stein. Bildhauerisch gestaltet ist die hinduistische Götterwelt und die Mannigfaltig des irdischen Daseins: Handwerker, Lastenträger, Jagd- und Hofszenen, Musikanten, Tänzerinnen, Krieger mit Schwert und Lanze, Lotosblumen, Pferde, Tiger, Elefanten und immer wieder Frauen – Frauen, die sich waschen, schminken, im Spiegel betrachten oder den Betrachter einladend anblicken, ein endloser Reigen anmutigster Posen und Rundungen, kulminierend in verzückten Liebespaaren. Kontrapunktisch dazu skeletthafte Asketen in Meditation. Einzigartig und ein wahres Wunder an Schönheit ist dabei der Sonnentempel von Konarak, der in manchen Bilderbüchern über Indien abgebildet ist.
Über die Bedeutung der erotischen Skulpturen an indischen Tempeln ist viel spekuliert und geschrieben worden. In Orissa fällt einem daran vor allem die innige Zärtlichkeit auf, die jedes einzelne Paar ausstrahlt. In Khajuraho, wo an Tempeln ähnliche Skulpturen zu sehen sind, verlieh ihnen der Künstler – möglicherweise zu metaphysischer Sinngebung – etwas Steifes, Formelles. Ihr Tun gleicht dort eher einer Yoga-Übung als einem Liebesakt. In Orissa ist nicht blosses Liebesspiel dargestellt, sondern die liebende Hingabe zweier Menschen aneinander. Nicht nur die Körper, auch die Blicke sind ineinander verschmolzen. Die Liebenden wirken hier liebevoller.
Liebe. Man getraut sich kaum noch, das Wort niederzuschreiben oder gar in Druck zu geben. Heute heisst Liebe, wie mir scheint, vielfach kurzweg Sex; und das Umfeld, das einst von Rosen, Mond und vorspielendem Liebkosen gebildet wurde, scheint jetzt vorwiegend aus performance, blow jobs, back drives und dergleichen zu bestehen. Junge Freunde versichern mir, dass es die Liebe durchaus noch gebe. Das freut mich, freut mich allein schon der schönen Liebesgedichte wegen, die es gibt. Aber liest man noch Liebesgedichte? Schreibt man noch Liebesgedichte? Schreibt man noch Liebesbriefe? Kann man das noch via Mobile und Computer? Wahrscheinlich schon. Bloss bin ich wohl zu alt, um die heute diesbezüglich gängige Sprache zu verstehen.
Es überrascht mich immer wieder, wie viel in neuen Romanen gebumst wird. Nichts gegen Bumsen, aber so voyeuristisch Schwarz auf Weiss im Druck, geschildert vielfach bis in die kleinsten Einzelheiten, die direkt aus dem Kama Sutra abgeschrieben sein könnten...
Da lobe ich mir Homer: Als Penelope den heimgekehrten Gatten Odysseus nach langen Zweifeln wiedererkannt hatte und die beiden nach zwanzig Jahren Trennung zum ersten Mal wieder gemeinsam das Ehebett bestiegen, „erfreuten sie sich der Liebe, der ersehnten“. Alles gesagt.